Alexander Dumas d. Ä.
Zwanzig Jahre nachher. Zweiter Band
Alexander Dumas d. Ä.

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Der Brief Karls I

Jetzt muß der Leser mit uns über die Seine gehen und uns in das Karmeliterinnenkloster der Rue Saint Jacques folgen.

Es ist elf Uhr morgens, und die frommen Schwestern haben soeben eine Messe für den Erfolg der Waffen König Karls I. gehalten. Von der Kirche aus sind eine Frau und ein junges Mädchen, beide schwarz gekleidet, die eine wie eine Witwe, die andere wie eine Waise, in ihre Zelle zurückgekehrt.

Die Frau ist vor ein gemaltes hölzernes Betpult niedergekniet, und einige Schritte vor ihr steht, auf einen Stuhl gestützt, das junge Mädchen und weint. Die Frau muß schön gewesen sein, aber man sieht, daß die Zähren sie alt gemacht haben. Das junge Mädchen ist reizend, und die Tränen verschönern es noch. Die Frau scheint vierzig, das Mädchen vierzehn Jahre alt zu sein.

Mein Gott, sprach die knieende Beterin, erhalte meinen Gatten, erhalte meinen Sohn und nimm mein so trauriges, so elendes Leben.

Mein Gott, sprach das junge Mädchen, erhalte mir meine Mutter!

Deine Mutter vermag nichts mehr für dich in dieser Welt, Henriette, sprach die betrübte Beterin, indem sie sich umwandte; deine Mutter hat weder Thron, noch Gemahl, noch Sohn, noch Freunde mehr. Deine Mutter, mein armes Kind, ist von der ganzen Welt verlassen.

Und in die Arme ihrer Tochter stürzend, brach die Frau in lautes Schluchzen aus.

Mutter, faßt Mut, rief das junge Mädchen.

Ach, die Könige sind unglücklich in diesem Jahr, sprach die Mutter und legte ihr Haupt auf die Schulter des Kindes. Niemand kümmert sich um uns in diesem Lande, denn jeder denkt nur an seine eigenen Angelegenheiten. Solange dein Bruder noch bei uns war, unterstützte er mich, aber dein Bruder ist abgereist und gegenwärtig nicht einmal imstande, dir oder seinem Vater Nachricht zu geben. Ich habe meine letzten Juwelen verpfändet, meine Kleider und die deinigen verkauft, um die Gehalte seiner Diener zu bezahlen, die ihm ohne dieses Opfer von meiner Seite ihre Begleitung verweigert hätten. Wir sind arme Leute und auf die Hilfe Gottes angewiesen.

Aber warum wendet Ihr Euch nicht an die Königin, Eure Schwester? fragte das Mädchen.

Ach, antwortete die Bekümmerte, die Königin, meine Schwester, ist nicht mehr Königin, mein Kind, und ein anderer regiert in ihrem Namen. Eines Tages wirst du das begreifen.

Also an den König, Euern Neffen; soll ich mit ihm sprechen? Ihr wißt, wie sehr er mich liebt, Mutter.

Ach, der König, mein Neffe, ist noch nicht König, und ihm selbst fehlt es an allem; du weißt ja, denn Laporte hat es uns zwanzigmal gesagt.

Dann wollen wir uns an Gott wenden! sprach das junge Mädchen.

Und es kniete neben seiner Mutter nieder.

Die zwei weiblichen Wesen, die so nebeneinander vor demselben Betpult knieten, waren die Tochter und die Enkelin Heinrichs IV., die Frau und die Tochter des englischen Königs Karl I.

Sie hatten eben ihr Gebet vollendet, als eine Nonne sacht an ihre Tür klopfte.

Herein, meine Schwester, sprach die ältere von beiden, indem sie ihre Tränen abtrocknete und sich erhob.

Die Nonne öffnete ehrfurchtsvoll die Tür.

Eure Majestät wolle mich gnädigst entschuldigen, wenn ich sie in ihren Betrachtungen störe, sagte sie; aber es ist ein Fremder im Sprechzimmer, der von England kommt und sich die Ehre erbittet, Eurer Majestät einen Brief übergeben zu dürfen. – Ah, einen Brief! Einen Brief vom König vielleicht! Hörst du? Ohne Zweifel Nachrichten von deinem Vater, Henriette. – Ja, Madame, ich höre und hoffe. – Und wer ist der Herr? sprecht. – Ein Edelmann von fünfundvierzig bis fünfzig Jahren. – Hat er seinen Namen genannt? – Mylord von Winter. – Mylord von Winter! rief die Königin, der Freund meines Gatten? O laßt ihn eintreten!

Und die Königin lief dem Boten entgegen und faßte ihn bei der Hand.

Lord Winter kniete, in die Zelle eintretend, nieder und übergab der Königin einen in einem goldenen Etui verwahrten Brief.

Ah, Mylord, sprach die Königin, Ihr bringt uns drei Dinge, die wir seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben: Gold, eine ergebene Seele und einen Brief von unserem Gemahl und Herrn.

Lord Winter verbeugte sich, vermochte aber nicht zu antworten, so erschüttert war er.

Mylord, sprach die Königin, auf den Brief deutend, Ihr begreift, daß es mich drängt, den Inhalt dieses Papiers zu erfahren.

Ich entferne mich, Madame, sprach der Lord.

Nein, bleibt, sagte die Königin, wir werden vor Euch lesen. Begreift Ihr nicht, daß ich tausend Fragen an Euch zu richten habe?

Der Lord ging einige Schritte zurück und blieb dann schweigend stehen.

Mutter und Tochter zogen sich in eine Fenstervertiefung zurück und lasen gierig, die Tochter auf den Arm der Mutter gestützt, folgenden Brief:

Madame und teure Gemahlin!

Wir sind am Ziele angelangt. Alle Quellen, welche mir Gott gelassen hat, sind in dem Lager von Naseby konzentriert, von wo aus ich Euch in Eile schreibe. Hier erwarte ich das Heer meiner meuterischen Untertanen, und ich werde zum letztenmale gegen sie streiten. Bin ich Sieger, so winkt uns sichere Hoffnung, werde ich besiegt, so bin ich gänzlich verloren. In letzterem Falle (ach! in unserer Lage muß man alles vorhersehen) will ich die Küste Frankreichs zu erreichen suchen; aber kann und will man dort einen unglücklichen König aufnehmen, der ein so trauriges Beispiel in ein bereits durch bürgerliche Zwistigkeiten ausgeregtes Land bringt? Eure Weisheit und Eure Liebe sollen mir als Führer dienen. Der Überbringer dieses Briefes, Madame, wird Euch sagen, was ich nicht der Gefahr eines Zufalls anvertrauen kann. Er wird Euch erklären, welchen Schritt ich von Euch erwarte. Ich beauftrage ihn auch mit meinem Segen für meine Kinder und mit allen Gefühlen meines Herzens für Euch, Madame und teure Gemahlin.

Der Brief war nicht Karl, König, sondern Karl, noch König, unterzeichnet.

So traurig der Brief lautete, dessen Eindrücke Winter auf dem Gesicht der Königin verfolgte, so brachte er doch einen Hoffnungsstrahl in ihre Augen.

Er mag nicht mehr König sein, rief sie, er möge besiegt, verbannt, geächtet werden, wenn er nur am Leben bleibt! Ach, der Thron ist heutzutage ein zu gefährlicher Posten, als daß ich wünschen könnte, er möchte ihn behalten. Doch sagt mir, Mylord, fuhr die Königin fort, verhehlt mir nichts: wo ist der König? Ist seine Lage so verzweifelt, wie er denkt?

Ach, Madame, noch verzweifelter, als er selbst glaubt. Seine Majestät hat ein so gutes Herz, daß er den Haß nicht begreift. Der König ist so ritterlich, daß er den Verrat nicht ahnt. England ist von einem Schwindelgeist befallen, der, ich fürchte es, nur im Blute erlöschen wird.

Aber Lord Montrose? antwortete die Königin, ich hörte von raschen und großen Siegen, von gewonnenen Schlachten, bei Inverlashy, bei Alfort und bei Kilsyth, ich hörte sagen, er marschiere an die Grenze, um sich mit dem König zu verbinden?

Ja, Madame, aber an der Grenze traf er Lesly; er hatte den Sieg durch übermenschliche Unternehmungen ermüdet; der Sieg hat ihn verlassen. Bei Philippaugh geschlagen, war Montrose genötigt, die Reste seines Heeres zu verabschieden und als Bedienter verkleidet zu fliehen. Er befindet sich in Bergen in Norwegen.

Gott beschütze ihn! sprach die Königin; es ist wenigstens ein Trost, zu wissen, daß die, welche so oft ihr Leben für uns gewagt haben, in Sicherheit sind. Und nun, Mylord, da ich die Lage des Königs so sehe, wie sie ist, d. h. verzweifelt, so sagt mir, was Ihr mir im Auftrage meines königlichen Gemahls mitzuteilen habt.

Wohl, Madame, antwortete Winter, der König, Euer Gemahl, wünscht, daß Ihr die Stimmung des Königs und der Königin in Beziehung auf ihn erforschen möget.

Die Königin versprach, mit Mazarin, auf dessen Willen es allein ankomme, eine Unterredung zu suchen, obwohl sie sich von seiner Krämerseele wenig für ihre Sache versprach.

Wir wollen hoffen, daß er etwas für unsere Ehre tut, sagte Henriette. Ein Freund besitzt eine so gute Beredsamkeit, daß Ihr mich beruhigt. Gebt mir also Eure Hand, und gehen wir zu dem Minister.

Madame, sprach der Lord sich verbeugend, diese Ehre macht mich ganz verwirrt.

Aber wenn er sich weigerte, sagte Henriette stille stehend, und wenn der König die Schlacht verlöre?

So würde Seine Majestät nach Holland fliehen, wo, wie ich vernommen habe, Seine Hoheit, der Prinz von Wales, verweilt.

Vorwärts, Mylord, sagte die Königin, mit dem peinigenden Zweifel von Leuten, die lange Zeit unglücklich gewesen sind, gehen wir, und Gott erhöre Euch.

Die Königin stieg in den Wagen, und der Lord begleitete sie zu Pferde, gefolgt von zwei Lakaien.



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