Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Erster Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Der Friedhof des Kastells If.

Auf dem Bett sah man einen Sack von grober Leinwand, unter dessen verworrenen Falten sich eine lange, steife Gestalt hervorhob. Somit war alles vorbei; Dantes konnte diese Augen nicht mehr sehen, die offen geblieben waren, als wollten sie über den Tod hinaus schauen; er konnte diese fleißige Hand nicht mehr drücken, die für ihn den Schleier verborgener Dinge gelüftet hatte. Faria, der gute, der hilfreiche Gefährte, an den er sich so innig angeschlossen hatte, war nur noch in seiner Erinnerung vorhanden. Da setzte er sich an den Kopf des Bettes und versank in düstere, bittere Schwermut.

Allein! Er war wieder allein! Nicht einmal mehr der Anblick, nicht einmal mehr die Stimme des einzigen menschlichen Wesens, durch das er noch mit der Erde zusammenhing, war ihm, als einziger Trost, geblieben!

Wenn ich sterben könnte, sagte er, so ginge ich, wohin er geht, und würde ihn sicherlich finden. Aber wie sterben? Das ist sehr leicht, fuhr er spöttisch lachend fort. Ich bleibe hier, werfe mich auf den ersten, der eintritt, erdrossele ihn, und man guillotiniert mich.

Aber da bei den großen Schmerzen, wie bei den schweren Stürmen, der Abgrund sich zwischen zwei Wellengipfeln findet, schrak Dantes vor dem Gedanken an diesen entehrenden Tod zurück und ging plötzlich von seiner Verzweiflung zu einem glühenden Durst nach Leben und Freiheit über.

Sterben! Oh nein! Es lohnt sich nicht der Mühe, so viel gelebt, so viel gelitten zu haben, um jetzt zu sterben. Sterben, das war gut, als ich den Entschluß dazu faßte, früher, vor Jahren; doch nun hieße es wahrlich, mein elendes Geschick noch elender machen. Nein, ich will leben, ich will bis zum Ende kämpfen; ich will das Glück, das man mir gestohlen hat, wieder erringen. Ich vergaß, daß ich, ehe ich sterbe, meine Henker zu bestrafen und, wer weiß, vielleicht auch einige Freunde zu belohnen habe; aber nun vergißt man mich hier, und ich werde meinen Kerker nur wie Faria verlassen.

Bei diesem Worte blieb Dantes unbeweglich, die Augen starr, wie ein Mensch, der von einem Gedanken erfaßt wird. Plötzlich stand er auf, fuhr mit der Hand nach der Stirn, als ob er den Schwindel hätte, ging einigemal in der Zelle auf und ab und blieb dann wieder vor dem Bette stehen. Als wollte er seinem Geiste keine Zeit lassen, den verzweifelten Gedanken, der ihn gepackt hatte, zu zerstören, neigte er sich über den häßlichen Sack, öffnete ihn mit dem Messer, das Faria gemacht hatte, zog den Leichnam heraus, trug ihn in seine Zelle, legte ihn auf sein Bett, umwickelte den Kopf mit dem linnenen Fetzen, dessen er sich gewöhnlich bediente, bedeckte ihn mit seiner Decke, küßte zum letztenmale die eisige Stirn und drehte den Kopf gegen die Wand, damit der Schließer, wenn er das Abendbrot brächte, glaube, er sei schlafen gegangen, wie er es oft getan hatte. Dann kehrte er in den Gang zurück, zog das Bett an die Wand, ging in das andere Zimmer, holte aus dem Schranke Nadel und Faden, warf seine Lumpen ab, damit man unter der Leinwand das nackte Fleisch fühle, schlüpfte in den ausgeleerten Sack, brachte sich in die Lage, die der Leichnam gehabt hatte, und schloß die Naht wieder von innen. Wäre jemand unglücklicherweise in diesem Augenblick eingetreten, so hätte er sein Herz schlagen hören können.

Dantes würde vielleicht bis nach dem Abendbesuche gewartet haben, aber er fürchtete, der Gouverneur möchte bis dahin seinen Entschluß ändern, und man könnte den Leichnam wegnehmen. Dann war seine letzte Hoffnung verloren. In jedem Falle war sein Plan nun festgestellt: Erkannten die Totengräber unterwegs, daß sie einen Lebendigen statt eines Toten trugen, so ließ ihnen Dantes keine Zeit, sich zu besinnen; mit einem kräftigen Messerschnitte öffnete er den Sack von oben bis unten, benutzte ihren Schrecken und entfloh; wollten sie ihn festnehmen, so wehrte er sich mit seinem Messer. Brachten sie ihn bis auf den Friedhof und legten ihn in ein Grab, so ließ er sich mit Erde bedecken; sobald hernach die Totengräber den Rücken gewendet hatten, machte er sich durch die weiche Erde Raum und entfloh. Er hoffte, das Gewicht der Erde würde nicht so groß sein, daß er sie nicht aufheben könnte. Täuschte er sich, war die Erde zu schwer und wurde er dadurch erstickt: desto besser, so war alles vorbei.

Dantes hatte seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen; am Morgen hatte er nicht an den Hunger gedacht, und er dachte auch jetzt noch nicht daran. Die erste große Gefahr, die ihm jedoch drohte, war, daß der Schließer, wenn er um sieben Uhr sein Abendbrot brachte, die Verwechslung wahrnahm. Zum Glück hatte Dantes aus menschenfeindlicher Laune oder aus Müdigkeit sehr oft im Bette gelegen, wenn der Schließer kam, und dann setzte dieser gewöhnlich das Brot und die Suppe auf den Tisch und entfernte sich, ohne mit ihm zu sprechen. Aber diesmal konnte der Schließer gegen seine Gewohnheit mit Dantes sprechen wollen, und wenn er sah, daß dieser ihm nicht antwortete, sich dem Bette nähern und alles entdecken.

Als sieben Uhr abends herannahte, packte ihn wirklich die Angst. An das Herz gedrückt, suchte die eine Hand dessen Schläge zurückzudrängen, während die andre den Schweiß abwischte, der an den Schläfen herabrieselte; zuweilen durchlief ein Schauer seinen ganzen Körper und preßte ihm das Herz wie in einem eisernen Schraubstock zusammen. Dann glaubte er, er müsse sterben. Aber die Stunden verrannen, ohne eine Bewegung im Kastell herbeizuführen, und Dantes erkannte, daß er dieser ersten Gefahr entgangen war. Das galt ihm als gutes Vorzeichen. Zu der vom Gouverneur bestimmten Stunde ließen sich endlich Tritte auf der Treppe hören. Edmond sah, daß der Augenblick gekommen war, raffte seinen ganzen Mut zusammen und hielt den Atem an sich . . . und wünschte nur, zugleich auch die hastigen Pulsschläge seiner Arterien zurückhalten zu können.

An der Tür machte der doppelte Tritt Halt, und Dantes sagte sich, daß es die beiden Totengräber waren, die ihn holen sollten. Diese Mutmaßung verwandelte sich in Gewißheit, als er das Geräusch hörte, das sie beim Niederstellen der Tragbahre machten. Die Tür öffnete sich, ein verschleiertes Licht drang zu Dantes' Augen; durch die Leinwand, die ihn bedeckte, sah er, wie sich zwei Schatten seinem Bette näherten. Ein dritter blieb, eine Stocklaterne in der Hand haltend, an der Tür. Jeder von den beiden Männern, die sich dem Bett genähert hatten, faßte den Sack an einem Ende.

Der ist schwer genug für einen so magern Alten, sagte der eine, indem er ihn beim Kopfe aufhob.

Man sagt, jedes Jahr werden die Knochen ein halb Pfund schwerer, sagte der andre und faßte ihn bei den Füßen.

Hast du deinen Knoten gemacht? fragte der erste.

Es wäre dumm, wenn wir uns eine unnütze Last aufladen wollten, erwiderte der zweite, ich werde ihn unten machen.

Du hast recht, vorwärts!

Warum einen Knoten? fragte sich Dantes.

Man legte den vermeintlichen Toten vom Bett auf die Tragbahre; Edmond machte sich steif, um die Rolle des Hingeschiedenen besser zu spielen, und beleuchtet von dem Manne mit der Stocklaterne, der vorausging, marschierte der Zug die Treppe hinab. Plötzlich überströmte Edmond die frische, scharfe Nachtluft, an der er den herrschenden Mistral (Nordwestwind im Mittelländischen Meere) erkannte. Die Träger machten ungefähr zwanzig Schritte, dann blieben sie still stehen und setzten die Tragbahre auf die Erde. Einer von ihnen entfernte sich, und Dantes hörte seine Schuhe auf den Platten dröhnen.

Wo bin ich denn? fragte er sich.

Weißt du, daß er gar nicht leicht ist? sagte der, welcher bei Dantes geblieben war, und setzte sich auf den Rand der Tragbahre.

Dantes' erster Gedanke war, sich freizumachen; zum Glück hielt er an sich.

Leuchte mir doch, sagte der eine Träger, oder ich kann's nicht finden.

Der Mann mit der Stocklaterne gehorchte diesem Befehle.

Was sucht er denn? fragte sich Dantes. Vermutlich einen Spaten.

Ein Ausruf der Zufriedenheit deutete an, daß der Totengräber gefunden hatte, was er suchte.

Endlich, sagte der andre, das kostete Mühe.

Ja, aber er wird beim Warten nichts verloren haben.

Bei diesen Worten näherte er sich Edmond, der einen schweren schallenden Körper neben sich niederlegen hörte; zu gleicher Zeit umgab ein Strick mit schmerzhaftem Drucke seine Füße.

Nun, ist der Knoten gemacht?

Und zwar gut gemacht, dafür steh' ich dir.

Und die Tragbahre wurde wieder aufgehoben und fortgeschleppt. Man machte ungefähr fünfzig Schritte, blieb abermals stehen, um eine Tür zu öffnen, und setzte sich dann wieder in Marsch; das Tosen der Wellen, die sich an den Felsen brachen, worauf das Kastell gebaut ist, schlug immer deutlicher an Dantes' Ohr, je mehr man vorrückte.

Schlimmes Wetter! sagte einer von den Trägern, es wird heute nacht nicht gut in der See sein.

Ja, der Abbé läuft große Gefahr, naß zu werden, sagte der andre, und sie brachen in ein schallendes Gelächter aus.

Dantes verstand den Scherz nicht, aber seine Haare sträubten sich.

Gut! wir sind an Ort und Stelle, sagte der erste.

Weiter, weiter, rief der andere; du weißt noch, daß der letzte unterwegs an den Felsen zerschellt ist, und daß uns der Gouverneur am andern Tage gelaust hat.

Es ging noch fünf bis sechs Schritte bergan; dann fühlte Dantes, daß man ihn beim Kopfe und bei den Füßen nahm und schaukelte.

Eins! sprachen die Totengräber, zwei! drei!

Zu gleicher Zeit fühlte sich Dantes wirklich in den ungeheuren leeren Raum geschleudert; er durchschnitt die Luft wie ein verwundeter Vogel und fiel immer tiefer mit einem Schrecken, der ihm das Herz starr machte. Obgleich sein rascher Flug noch durch irgend eine ziehende Gewalt beschleunigt wurde, kam es ihm doch vor, als währte sein Sturz ein Jahrhundert. Endlich schoß er mit einem furchtbaren Getöse wie ein Pfeil in das kalte Wasser, das ihm einen, in demselben Augenblick durch die über ihm zusammenschlagenden Wellen unterdrückten Schrei auspreßte.

Dantes war ins Meer geschleudert worden, in dessen Tiefe ihn eine an seine Füße gebundene Kugel von 36 Pfund hinabzog, denn das Meer ist der Friedhof des Kastells If.


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