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Das Vorzimmer durchschreitend, machte der Polizeikommissar zwei Gendarmen ein Zeichen. Man öffnete eine Tür, durch die die Wohnung des Staatsanwalts mit dem Justizpalast in Verbindung stand, und folgte einem durch die ganze Länge des Justizgebäudes führenden Gange nach dem Gefängnisse. Endlich kam man an eine Tür mit einem eisernen Gitter, an die der Polizeikommissar dreimal mit einem eisernen Hammer klopfte. Die Tür öffnete sich, und die Gendarmen schoben den Gefangenen, der abermals zögerte, mit Gewalt vorwärts. Dantes überschritt die furchtbare Schwelle, und die Tür schloß sich hinter ihm. Man führte ihn in ein ziemlich reines, aber mit Gittern und Riegeln versehenes Zimmer. Der Anblick seiner neuen Wohnung machte ihm nicht zu sehr bange. Die Worte des teilnehmenden Staatsanwalts klangen in seinem Ohre wie ein süßer Hoffnungston.
Es war bereits vier Uhr, als Dantes in sein Zimmer geführt wurde. Es war der erste März, die Tage waren noch kurz, und der Gefangene befand sich frühzeitig im Dunkeln. Sein Gehör schärfte sich nun immer mehr, je mehr der Gesichtssinn versagte. Bei dem geringsten Geräusche erhob er sich lebhaft und machte, in der Hoffnung, man käme, ihn in Freiheit zu setzen, einen Schritt nach der Tür; aber bald erstarb das Geräusch in einer andern Richtung, und Dantes fiel wieder auf seinen Schemel zurück.
Endlich gegen zehn Uhr abends, in dem Augenblick, wo er die Hoffnung zu verlieren anfing, ließ sich ein neues Geräusch vernehmen, und diesmal schien es sich seinem Zimmer zuzuwenden. Es erschollen wirklich Tritte im Gange, die vor seiner Türe anhielten. Ein Schlüssel wurde im Schlosse gedreht, die Riegel klirrten, die massige Schranke von Eichenholz öffnete sich und ließ plötzlich in dem düsteren Zimmer das blendende Licht zweier Fackeln aufleuchten.
Bei dem Schimmer dieser Fackeln sah Dantes die Säbel und Musketen von vier Gendarmen glänzen. Er hatte zwei Schritte vorwärts gemacht, blieb aber nun, als er diese Menschen gewahrte, auf der Stelle und fragte: Wollt ihr mich holen?
Ja, antwortete einer von den Gendarmen.
Auf Befehl des Herrn Staatsanwaltsvertreters?
Ich denke wohl.
Gut, sagte Dantes, ich bin bereit, euch zu folgen.
Der Gedanke, daß man ihn auf Befehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem Unglücklichen jede Furcht; er schritt ruhig und festen Schrittes vorwärts und stellte sich mitten unter die Gendarmen. Vor der Tür wartete ein Wagen, auf dem neben dem Kutscher ein Gefreiter saß. Der Kutschenschlag wurde geöffnet, und Dantes fühlte, daß man ihn hineinschob. Er war weder im stande, noch hatte er die Absicht, Widerstand zu leisten. In einem Augenblick saß er im Hintergrunde des Wagens zwischen zwei Gendarmen; die andern setzten sich auf den Vordersitz, und der schwere Wagen rollte mit dumpfem Lärm vorwärts.
Der Gefangene schaute nach den Öffnungen; sie waren vergittert, und kaum konnte er durch die dichten Stäbe seine Hand strecken. Er hatte nur sein Gefängnis verändert, das aber jetzt forteilte und ihn einem unbekannten Ziele immer näher brachte. Dantes erkannte jedoch, daß man durch die Rue Tamaris nach dem Kai hinabfuhr.
Bald sah er durch seine Gitter die Lichter des Hafenwachtlokals glänzen. Der Wagen hielt still, der Gefreite stieg ab und näherte sich der Wachtstube. Ein Dutzend Soldaten kamen heraus und stellten sich in Reih und Glied; Dantes sah bei dem Schimmer der Lichter ihre Flinten glänzen.
Sollte man meinetwegen eine solche militärische Macht entwickeln? sagte er zu sich selbst.
Den Schlag öffnend, beantwortete der Gefreite diese Frage, ohne ein Wort zu sprechen, denn Dantes sah, daß für ihn nur zwischen den zwei Reihen Soldaten ein Weg vom Wagen nach dem Hafen übrig gelassen war. Die zwei Gendarmen, die auf dem Vordersitze saßen, stiegen zuerst aus, dann ließ man ihn aussteigen, und endlich folgten die, welche an seiner Seite gesessen hatten. Man ging auf eine Barke zu, die ein Zollbeamter an dem Kai mittels einer Kette befestigt hielt. Die Soldaten sahen Dantes mit einer Miene alberner Neugierde an. In wenigen Augenblicken befand er sich im Hinterteile des Kahnes, immer zwischen den vier Gendarmen, während sich der Gefreite auf dem Vorderteile hielt. Ein kräftiger Stoß entfernte das Fahrzeug vom Lande, und vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht. Auf einen Ruf von der Barke her senkte sich die Kette, die den Hafen schließt, und Dantes befand sich außerhalb desselben.
Die erste Regung des Gefangenen war, sobald er sich in freier Luft sah, die der Freude. Freie Luft ist die halbe Freiheit. Er atmete also mit voller Brust den Wind ein, der auf seinen Flügeln alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres dahertrug. Bald jedoch stieß er einen Seufzer aus. Er kam an der Reserve vorüber, wo er am selben Tage bis zu seiner Verhaftung so glücklich gewesen war, und durch zwei offene Fenster drang der Freudenlärm eines Balles zu ihm.
Dantes faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf und betete, während die Barke ihren Weg fortsetzte. Sie war an der Tête-de-More vorübergefahren und nun im Begriff, um die Batterie zu rudern; Dantes konnte dieses Manöver nicht begreifen und sagte daher: Wohin führt ihr mich?
Sie werden es sogleich erfahren. – Aber . . .
Es ist verboten, Ihnen eine Erklärung zu geben.
Dantes schwieg, aber die seltsamsten Gedanken durchkreuzten nun seinen Geist. Da man in einer solchen Barke keine lange Fahrt machen konnte, da kein Schiff in der Richtung, in der man fuhr, vor Anker lag, so dachte er, man würde ihn an einem entfernten Punkte der Küste ans Ufer setzen und ihm bedeuten, er sei frei. Er war nicht gebunden, was ihm als ein gutes Vorzeichen erschien. Hatte ihm nicht überdies der Staatsanwalt, der ihn so gut behandelt hatte, gesagt, wenn er den unseligen Namen Noirtier nicht ausspräche, hätte er nichts zu befürchten? Hatte nicht Villefort in seiner Gegenwart den gefährlichen Brief, den einzigen Beweis, der gegen ihn vorlag, vernichtet? Er wartete also, stumm und in Gedanken versunken, und suchte mit dem an die Finsternis gewöhnten Auge des Seemanns trotz der Dunkelheit der Nacht den Raum zu durchdringen.
Man hatte die Insel Ratonneau, auf der ein Leuchtfeuer brannte, zur Rechten gelassen und war, an der Küste hinfahrend, bis zur Höhe der Bucht der Katalonier gelangt. Hier verdoppelten die Blicke des Gefangenen ihre Kraft, hier wohnte Mercedes, und es kam ihm jeden Augenblick vor, als erschaute er an dem düsteren Ufer die schwankende, unbestimmte Form eines weiblichen Wesens.
Warum sollte Mercedes nicht eine Ahnung sagen, ihr Geliebter komme auf dreihundert Schritte vorüber? Ein einziges Licht brannte bei den Kataloniern, und indem Dantes den Ausgangspunkt dieses Lichtes genau festzustellen suchte, erkannte er, daß es aus dem Zimmer seiner Braut stammte. Mercedes war also die einzige Person in der ganzen Kolonie, die noch wachte. Wenn er einen kräftigen Schrei ausstieß, konnte der junge Mann von seiner Verlobten gehört werden; aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden seine Wächter sagen, wenn sie ihn wie einen Wahnsinnigen schreien hörten? Er blieb also stumm, die Augen auf das Licht heftend. Inzwischen setzte die Barke ihren Weg fort; aber der Gefangene dachte nicht an die Barke, er dachte an Mercedes.
Eine Wendung des Fahrzeugs ließ das Licht verschwinden. Dantes drehte sich um und bemerkte, daß die Barke auf das hohe Meer segelte.
Während er, in seine eigenen Gedanken versunken, hinausschaute, hatte man die Ruder durch Segel ersetzt, und die Barke fuhr, vom Winde getrieben, vorwärts. Obgleich es Dantes widerstrebte, neue Fragen an die Gendarmen zu richten, näherte er sich doch dem einen, nahm ihn bei der Hand und sagte: Kamerad, bei Ihrem Gewissen, bei Ihrer Eigenschaft als Soldat beschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid und antworten Sie mir! Ich bin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, wenn auch irgend eines Verrats angeklagt; wohin führen Sie mich? Sprechen Sie, und auf Seemanns Wort, ich unterziehe mich meiner Pflicht und füge mich in mein Schicksal.
Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und schaute seinen Kameraden an. Dieser machte eine Bewegung, die etwa sagen wollte: Aber mein Befehl?
Der Befehl verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder in einer Stunde erfahren werde. Nur ersparen Sie mir bis dahin Jahrhunderte der Ungewißheit. Ich frage Sie, als ob Sie mein Freund wären. Glauben Sie mir, ich will mich weder wehren, noch fliehen. Übrigens kann ich das auch gar nicht. Wohin führen Sie mich?
So schauen Sie um sich her!
Dantes stand auf und blickte natürlich zuerst in der Richtung, nach der das Fahrzeug sich bewegte. Da sah er hundert Klafter vor sich den schwarzen Felsen, auf dem sich das düstere Kastell If erhebt. Die seltsame, öde Form und der Gedanke an das Gefängnis daselbst, das ein furchtbarer Schrecken umschwebte und das seit dreihundert Jahren Marseille Stoff zu den unseligsten Überlieferungen bot, wirkten auf Dantes, wie auf den zum Tod Verurteilten der Anblick des Schafotts.
Oh! mein Gott! rief er, das Kastell If! Was sollen wir dort?
Der Gendarm lächelte.
Aber man fährt mich doch nicht dahin, um mich einzukerkern? rief Dantes. Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für gefährliche politische Verbrecher bestimmt. Ich habe kein Verbrechen begangen. Gibt es dort Untersuchungsrichter, Beamte?
Soviel ich weiß, antwortete der Gendarm, findet man dort nur einen Gouverneur, Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten; denn in der Tat, ich muß sonst glauben, Sie wollen meine Gefälligkeit dadurch belohnen, daß Sie meiner spotten.
Dantes drückte dem Gendarmen die Hand zum Zerquetschen.
Sie behaupten also, sagte er, man führe mich nach dem Kastell If, um mich einzukerkern?
Das ist sehr wahrscheinlich, erwiderte der Gendarm.
Ohne Untersuchung, ohne Förmlichkeiten?
Die Förmlichkeiten sind erfüllt, die Untersuchung ist fertig.
Also trotz des Versprechens des Herrn von Villefort?
Ich weiß nicht, ob Herr von Villefort Ihnen etwas versprochen hat, aber ich weiß, daß wir nach dem Kastell If fahren. Aber was machen Sie denn? Holla, Kameraden, herbei!
Mit einer Bewegung so schnell wie der Blitz, der jedoch das geübte Auge des Gendarmen zuvorgekommen war, hatte sich Dantes in das Meer stürzen wollen. Aber vier kräftige Fäuste hielten ihn in dem Augenblicke zurück, wo seine Füße den Boden des Schiffes verließen. Brüllend vor Wut fiel er in die Barke nieder.
Schön, rief der Gendarm, indem er ihm das Knie auf die Brust setzte, schön, so halten Sie Ihr Seemannswort! Man traue doch den freundlichen Leuten! Machen Sie nur noch die geringste Bewegung, mein lieber Freund, so jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Ich bin meinem ersten Befehle untreu gewesen, ich werde den zweiten wortgetreu befolgen.
Und er senkte seinen Karabiner gegen Dantes, der das Ende des Laufes an seiner Schläfe fühlte. Einen Augenblick hatte er wirklich den Gedanken, die verbotene Bewegung zu machen und so dem entsetzlichen Unglück, das ihn plötzlich mit seinen Geierkrallen gepackt hatte, ein Ende zu bereiten. Aber gerade weil dieses Unglück so unerwartet gekommen war, dachte Dantes, es könnte nicht lange währen. Dann erinnerte er sich wieder der Versprechungen des Herrn von Villefort, und endlich kam ihm der Tod auf dem Boden eines Fahrzeugs von der Hand eines Gendarmen häßlich, ekelhaft vor. – Er fiel also nieder auf den Grund der Barke, stieß ein Geheul der Wut aus und zernagte sich wie ein Wahnsinniger die Hände.
Beinahe in demselben Augenblicke erschütterte ein heftiger Stoß das Schiff. Einer von den Ruderern sprang auf den Felsen, den das Vorderteil der Barke berührt hatte. Ein Seil ächzte, sich um einen Block abwindend, und Dantes erkannte, daß man angelangt war und das Schiff anband.
Seine Wächter, die ihn zugleich am Arme und am Kragen hielten, nötigten ihn aufzustehen, zwangen ihn ans Land zu steigen und zogen ihn zu den Stufen, die nach dem Tore der Zitadelle führen. Dantes leistete übrigens keinen Widerstand. Sein langsamer Gang war eher die Folge von Willenlosigkeit, als von Widerstreben. Er war betäubt und schwankte wie ein Betrunkener; er sah abermals Soldaten, er fühlte Stufen, die ihn nötigten, seine Füße aufzuheben, er bemerkte, daß er unter einen Torweg kam und daß das Tor sich hinter ihm schloß, aber dies alles nahm er nur unwillkürlich wahr wie durch einen Nebel, ohne etwas Bestimmtes zu unterscheiden. Er sah sogar das Meer nicht mehr, denn es faßte ihn der ungeheure Schmerz der Gefangenen, die das furchtbare Gefühl übermannt, daß sie gegen ihre Umgebung völlig ohnmächtig sind.
Einen Augenblick wurde ein Halt gemacht, während dessen er seinen Geist zusammenzufassen suchte. Er befand sich in einem viereckigen, von vier hohen Mauern gebildeten Hofe. Man hörte den langsamen, regelmäßigen Tritt der Schildwachen und sah den Lauf ihrer Flinten funkeln. Hier wartete man ungefähr zehn Minuten. Überzeugt, daß Dantes nicht mehr entfliehen konnte, hatten ihn die Gendarmen losgelassen.
Geh, sagten die Gendarmen, Dantes fortschiebend. Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn nun in ein unterirdisches Gemach geleitete, dessen nackte, feuchte Wände von Tränen geschwängert zu sein schienen. Eine Art von Lampe auf einem Schemel, deren Docht in stinkendem Fett schwamm, beleuchtete die glänzenden Mauern dieses abscheulichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, einen schlecht gekleideten, gemein aussehenden Gefangenwärter.
Das ist Ihr Zimmer für diese Nacht, sagte er, es ist schon spät, und der Herr Gouverneur hat sich bereits zu Bett gelegt. Wenn er morgen erwacht und von den Sie betreffenden Befehlen Kenntnis genommen hat, wird er Ihnen vielleicht eine andere Wohnung anweisen. Inzwischen finden Sie hier Brot, Wasser in diesem Kruge und Stroh in einem Winkel da unten. Das ist alles, was ein Gefangener wünschen kann.
Und ehe Dantes daran dachte, seinen Mund zu einer Antwort zu öffnen, ehe er bemerkte, wohin der Kerkerknecht dieses Brot gelegt hatte, hatte der Gefangenwärter die Lampe genommen und, indem er die Tür schloß, den bläulichen Widerschein entzogen, der ihm, wie bei dem Schimmer eines Blitzes, die feuchten Wände seines Gefängnisses gezeigt hatte.
Er befand sich nun allein in der Finsternis und in einer Stille, so stumm und so düster, wie diese Gewölbe, deren eisige Kälte er auf seine glühende Stirn sich herabsenken fühlte.
Als die ersten Strahlen des Morgens etwas Klarheit in diese Höhle gebracht hatten, kam der Gefangenwärter mit dem Befehle zurück, den Gefangenen zu lassen, wo er war. Dantes hatte den Platz nicht verändert. Eine eiserne Hand schien ihn an die Stelle genagelt zu haben, auf der er am Abend zuvor gestanden hatte. Die ganze Nacht hatte er so, stehend und ohne einen Augenblick zu schlafen, zugebracht. Der Gefangenwärter näherte sich ihm, ging um ihn herum, aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er schlug ihm auf die Schulter; Dantes bebte und schüttelte den Kopf.
Haben Sie denn nicht geschlafen? fragte der Gefangenwärter.
Ich weiß es nicht, antwortete Dantes.
Der Gefangenwärter schaute ihn erstaunt an. Haben Sie keinen Hunger? fuhr er fort.
Ich weiß es nicht, antwortete Dantes abermals.
Wünschen Sie etwas?
Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.
Der Gefangenwärter zuckte die Achseln und entfernte sich. Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte die Hände nach der halb geöffneten Tür aus, aber die Tür schloß sich wieder. Dann schien sich seine Brust in einem langen Schluchzen zu zerreißen. Seine Tränen, von denen seine Augenlider anschwollen, flossen reichlich. Er warf sich mit der Stirn auf die Erde, betete lange, durchlief in seinem Geiste sein ganzes vergangenes Leben und fragte sich, welches Verbrechen er, noch so jung, begangen hätte, das eine so grausame Bestrafung verdiente. So ging der Tag hin. Kaum aß er einige Bissen Brot und trank ein paar Tropfen Wasser. Bald saß er in Gedanken versunken, bald lief er im Gefängnis umher wie ein wildes Tier, das in einem eisernen Käfig eingeschlossen ist.
Ein Gedanke besonders ließ ihn immer wieder auffahren, daß er nämlich während der Überfahrt zehnmal imstande gewesen wäre, sich ins Meer zu werfen, bei seiner Geschicklichkeit im Schwimmen unter dem Wasser zu verschwinden, seinen Wächtern zu entgehen, die Küste zu erreichen, zu fliehen, sich in irgend einer verlassenen Bucht zu verbergen, ein genuesisches oder katalanisches Schiff zu erwarten, Italien oder Spanien zu erreichen und von dort aus Mercedes zu schreiben, sie möge zu ihm kommen. Wegen seines Fortkommens brauchte er nirgends besorgt zu sein; gute Seeleute sind überall gesucht. Er sprach Italienisch wie ein Toskaner, Spanisch wie ein Kind Altkastiliens. Er hätte frei und glücklich mit Mercedes und seinem Vater gelebt, denn sein Vater wäre ihm auch nachgefolgt, während er nun als Gefangener im Kastell If eingeschlossen war und nicht wußte, was aus seinem Vater, was aus Mercedes wurde, und dies alles, weil er an Villeforts Wort geglaubt hatte. Dantes wälzte sich wütend und wie wahnsinnig auf dem frischen Stroh, das ihm der Gefangenwärter gebracht hatte.
Am andern Tage erschien dieser zu derselben Stunde.
Nun, sagte er, sind Sie heute vernünftiger als gestern?
Dantes antwortete nicht.
Auf, sagte der Gefangenwärter, Mut gefaßt! Wünschen Sie etwas, worüber ich zu verfügen habe, so sagen Sie es.
Ich wünsche den Gouverneur zu sprechen.
Ei, erwiderte der Gefangenwärter ungeduldig, ich sage Ihnen, das ist ganz unmöglich. Nach der Vorschrift des Gefängnisses ist eine solche Bitte den Gefangenen nicht gestattet.
Und was ist denn hier erlaubt? fragte Dantes.
Eine bessere Kost gegen Bezahlung, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.
Ich brauche keine Bücher, ich habe keine Lust spazieren zu gehen und finde meine Nahrung gut. Ich will also nur eines: den Gouverneur sehen.
Wenn Sie mich dadurch ärgern, daß Sie beständig dasselbe wiederholen, sagte der Gefangenwärter, so bringe ich Ihnen nichts mehr zu essen.
Gut, erwiderte Dantes, wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, so sterbe ich Hungers.
Der Ton, in dem Dantes diese Worte sprach, bewies dem Schließer, daß sein Gefangener den Tod herbeisehnte. Da nun jeder Gefangene seinem Wärter täglich ungefähr zehn Sous einträgt, so dachte der Schließer an den Verlust, den für ihn ein solcher Todesfall bedeutete, und er versetzte freundlicher: Hören Sie mich! Was Sie wünschen ist unmöglich, verlangen Sie es also nicht mehr von mir, denn es gibt kein Beispiel, daß der Gouverneur in das Zimmer eines Gefangenen auf dessen Bitte gekommen wäre. Seien Sie nur vernünftig, und man wird Ihnen den Spaziergang erlauben, dann ist es möglich, daß der Gouverneur einmal, während Sie spazieren gehen, vorüberkommt. Sie können ihn hierbei anreden, und wenn er antworten will, ist das seine Sache.
Aber, wie lange kann ich warten, bis dieser Zufall eintritt? sagte Dantes.
Bei Gott! einen Monat, drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, jenachdem.
Das ist zu lange, erwiderte Dantes, ich will ihn sogleich sehen.
Erschöpfen Sie sich nicht in einem einzigen, unmöglichen Wunsche, sagte der Gefangenwärter, oder Sie sind, ehe vierzehn Tage vergehen, ein Narr.
Ha, du glaubst! rief Dantes.
Ja, ein Narr; so fängt die Narrheit immer an; wir haben hier ein Beispiel davon. Der Abbé, der vor Ihnen dieses Zimmer bewohnte, wurde verrückt und bot immer wieder dem Gouverneur eine Million für seine Freilassung an.
Wann hat er dieses Zimmer verlassen? – Vor zwei Jahren. – Hat man ihn in Freiheit gesetzt? – Nein, man hat ihn in einen Kerker gebracht.
Höre, sagte Dantes, ich bin kein Abbé, ich bin kein Narr. Vielleicht werde ich es; zu dieser Stunde aber habe ich leider noch meinen Verstand und will dir einen andern Vorschlag machen: Ich werde dir keine Million bieten, denn ich könnte sie dir nicht geben; aber ich biete dir hundert Taler, wenn du das erstemal, wo du nach Marseille gehst, dich zu den Kataloniern begeben und einem jungen Mädchen, namens Mercedes, nur zwei Zeilen geben willst.
Wenn ich diesen Brief überbrächte, und man entdeckte es, würde ich meine Stelle verlieren, die tausend Livres jährlich einträgt, abgesehen von dem Kostgelde. Sie sehen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich tausend Livres wagen wollte, um dreihundert zu gewinnen.
Nun, so höre und behalte es wohl in deinem Gedächtnis: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur davon in Kenntnis zu setzen, daß ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, Mercedes zwei Zeilen zu bringen, oder wenigstens sie davon zu benachrichtigen, daß ich hier bin, so erwarte ich dich eines Tages hinter der Tür und zerschmettere dir in dem Augenblicke, wo du eintrittst, den Schädel mit diesem Schemel!
Drohungen! rief der Kerkermeister, einen Schritt zurückweichend und sich in Verteidigungsstand setzend; offenbar ist es in Ihrem Kopfe nicht richtig. Der Abbé hat angefangen wie Sie, und in drei Tagen sind Sie ein Narr, daß man Sie binden muß. Zum Glücke gibt es noch Kerker im Kastell If.
Dantes nahm den Schemel und schwang ihn um seinen Kopf.
Gut, gut, rief der Kerkermeister, gut, da Sie durchaus wollen, so wird man den Gouverneur benachrichtigen.
Dann ist es recht, sagte Dantes, stellte seinen Schemel auf den Boden und setzte sich darauf, den Kopf senkend mit starren Augen, als ob er wirklich wahnsinnig würde.
Der Gefangenwärter entfernte sich und kehrte einen Augenblick nachher mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.
Auf Befehl des Gouverneurs, sagte er, bringt den Gefangenen ein Stockwerk tiefer, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.
Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art von Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete eine Tür, durch die er eintrat.
Er hat recht, murmelte er, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.
Die Tür schloß sich wieder, und Dantes ging mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er die Mauer fühlte. Dann setzte er sich in eine Ecke und blieb unbeweglich, während seine Augen, sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnend, die Gegenstände zu unterscheiden anfingen. Der Gefangenwärter hatte recht, es fehlte nicht mehr viel, und Dantes wurde ein Narr.