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Als Carlotta verschwunden war, hielt ich Dujardin vor, was er gesagt. »Wie konnten Sie, wie konnten Sie!« wiederholte ich. »Ein Mädchen gewinnen wollen, und es beleidigen! Sind die Liebhaber aus Belgien oft so schlechte Diplomaten?«
»Ich bin immer wahr,« sagte Norbert Dujardin ernst. »Recht schön,« erwiederte ich, »nur muß man die Wahrheit mit der Höflichkeit zu vereinen wissen.« – »In diesem Falle aber wäre die Höflichkeit eine Unwahrheit gewesen. Ich konnte nicht anders«, fuhr er betheuernd fort, »glauben Sie mir, ich konnte nicht anders. Wenn Sie meine Verhältnisse kennen sollten –«
Natürlich lernten wir seine Verhältnisse kennen. Es war halb Elf, als wir diesen Abend in den Speisesaal kamen; so lange hatte der junge Belgier seine etwas brutale Aufrichtigkeit gegen die Sängerin zu erklären und zu entschuldigen gesucht.
Wie bereits bemerkt, war Norbert Dujardin aus Brügge, ein Brüggeling, wie es auf Vlämisch heißt. Die Schönheit und die Poesie Belgiens besteht in seinen Städten, das hab' ich schon irgendwo geschrieben oder schreiben wollen, und Brügge ist die schönste Stadt in ganz Belgien. Sie ist nicht länger »die goldene Welt« des Handels, und die heutige Kaiserin der Franzosen würde schwerlich sagen, was einst beim Einzug in Brügge eine Königin von Frankreich sagte: »ich sehe hier lauter Frauen, welche mehr Königinnen sind als ich.« Philipp IV., der Schöne, war 1301 mit seiner Gemahlin Johanna nach Brügge gekommen. Diese sagte beim Anblick der Edelsteine und des Schmucks, den die Brügger Frauen gezeigt hatten, unmuthig: »Ich hatte geglaubt, dass ich die einzige Königin wäre; allein ich finde, daß es in dieser Stadt über 600 Königinnen gibt!« Aber seine große Architekturschönheit hat Brügge noch immer, der gekrönte Thurm seiner Halle schwebt noch heute wie eine Hymne aus Stein gedichtet in den Nebelhimmel von Westflandern empor, die ganze Stadt ist noch jetzt ein Gesicht der Herrlichkeit, freilich einer vergangenen. Denn wenn's in keiner Stadt Belgiens schöner ist, in keiner ist's auch stiller. Das Gras wächst an vielen Orten, wo keines wachsen sollte, ein Wagen macht Lärm, jede Straße führt in Einsamkeit, wo vor kleinen Häusern auf niedrigen Schwellen schweigende Gruppen von Spitzenklöpplerinnen sitzen, während die glatten Kanäle ungestört die Wolken zurückspiegeln, und kleine Buben in Kitteln und Holzschuhen lachend und schreiend den Fremden nachtraben, welche eine melancholische Neugierde bis hierher geführt hat. Und doch kommen viele Fremde nach Brügge, nicht nur alle, welche nach Ostende fahren, auch alle, welche in Ostende sind. Während der Saison gibt's im »Hôtel de Flandre« am Freitag oft eine improvisirte Tafel von siebzig Personen, die diners particuliers gar nicht gerechnet. Aber alle diese Fremden bleiben nur auf Stunden, während welcher sie das Nächste und Bekannteste sehen, und selbst während dieser Stunden genügen sie nicht, um die Plätze und Straßen von Brügge zu beleben. Man sieht wol, daß Fremde in der Stadt sind, aber die Stadt ist darum nicht minder öde und still. Nicht ohne Grund hat der beste vlämische Dichter, Ledeganck, kurz bevor er selbst starb, die »todte Schönheit« von Brügge gesungen. Aus: » De drie zustersteden« - eine Ode an die flämischen Städte Gent, Brügge und Antwerpen, verfasst zwischen 1839 und 1846 von dem flämischen Juristen, Politiker und Dichter Karel Lodewijk Ledeganck (1805-1847). - Der belgische Schriftsteller Georges Rodenbach griff mit seinem symbolistischen Roman »Das tote Brügge« ( Bruges-la-Morte, 1892) das Thema erneut auf. Der Komponist Erich Wolfgang Korngold verwendete das Buch 1920 als Vorlage für seine Oper »Die tote Stadt«.
Hier wurde Norbert Dujardin geboren, hier blieb er bis zu seinem zwölften Jahre. Eine solche Vaterstadt muß poetische Keime entwickeln, wo nämlich welche in der Seele liegen, und Norbert war zum Glück weder materiell noch prosaisch. Es mischten sich in ihm die beiden Racen Belgiens, oder vielmehr französisches und vlämisches Blut, denn seine Mutter war von einer alten Familie aus Mecheln, und die Dujardins stammten aus Frankreich. Anfangs hatten sie Handel getrieben, dann waren sie reich geworden. Norbert's Vater war Senator gewesen, das will sagen: er hatte zweitausend Franken Steuern gezahlt. Das Vornehmthun war mit dem Reichwerden gekommen, die Dujardins verheiratheten sich nur noch über ihren Stand hinaus, gingen nur mit der besten Gesellschaft um. So bekam der Knabe gleich von früh an einen großen Begriff von der Wichtigkeit seiner Familie, von der Würde, welche aufrecht zu halten ihm obliege. Nimmt man dazu die patrizische Stadt, in welcher er aufwuchs, und die häufige Anschauung des Meeres, denn gleich allen Brüggern brachten die Dujardins den Sommer meistens in Blankenberghe zu, so wird man sich leicht vorstellen können, daß Norbert von Klein auf in das etwas feierliche Wesen hineinwuchs, welches ihn überall, wo man natürlich und bequem war, nicht nur als Fremden, sondern sogar fremdartig erscheinen ließ.
Seine Erziehung war, wie es sich nach 1830 in Belgien von selbst verstand, gänzlich französisch und zugleich streng katholisch. Brügge ist katholisch wie Löwen, katholischer selbst als Mecheln, die erzbischöfliche Stadt, es jetzt wenigstens ist. Damals, wo Norbert noch Kind war, mochte es vielleicht noch anders gewesen sein. Gewiß ist es, daß seine Mutter eine fromme Tochter der Kirche war. Da sie ihre Vaterstadt sehr liebte, hätte sie den einzigen Sohn zur Erziehung gern nach Mecheln gegeben; der Vater indessen zog das College von St. Quirin in Huy vor, weil er dort den Direktor kannte. Diese Versetzung aus der Nebelpoesie der flandrischen Ebenen und Sanddünen in die heitere Romantik der Maas mit ihren Bergen, Felsen, Ruinen und Weinreben war nicht ohne Einfluß auf den Knaben. Was er an Gewandtheit besaß, hatte er sich inmitten des lebendigen wallonischen Elements zu eigen gemacht. Sein Charakter an und für sich blieb derselbe, seine religiöse Gesinnung wurde bis zur Schwärmerei erhöht. Huy hat oben auf dem Berge Notre dame de la Sarthe, im Garten der ehemaligen Abtei von Moustier das Grab Peter des Eremiten. Die Pilgerfahrt, welche Norbert später nach Jerusalem unternahm, war damals in seinen Knabenträumen schon beschlossen worden. Er hatte sogar Missionär-Ideen, sein Vater machte ihm indessen bald begreiflich, daß der einzige Erbe eines solchen Vermögens etwas Anderes in der Welt zu thun habe, als Heiden zu bekehren. Daraus geht hervor, daß beim Vater die Religiosität mehr politisch war. In der That bediente er sich der katholischen Partei mit Geschick, um Einfluß und Ansehen zu erreichen. Das Alles sollte später dem Sohn zu Gute kommen, welchen er in Löwen jene allgemeinen Studien machen ließ, die unter der Benennung »Philosophie« begriffen sind. Norbert zeichnete sich auf der Universität aus, doch ohne Ehrgeiz zu zeigen. Er träumte lieber, nicht wie ein Deutscher, sondern wie ein Franzose, soziale Träume, die zu politischen Fragen werden. An die Auflösung thätig mit Hand anzulegen, dazu hatte er keine Lust, vorläufig wenigstens noch nicht. Das gelobte Land zog ihn über's Meer, einige junge Studiengenossen, Schwärmer wie er, vereinigten sich mit ihm zur Pilgerfahrt an den Jordan, welche die Mutter mit rechtgläubiger Freude sah, der Vater geschehen ließ. Auf Geld kam es nicht an: ob der Sohn es am heiligen Grabe ausgab, oder anderswo, das war sehr gleichgültig. Leider fand Norbert den Vater nicht mehr, er war vierzehn Tage vor der Rückkehr des jungen Pilgers gestorben. Der Tod hatte ihn mitten in ehrgeizigen Entwürfen für den Sohn überrascht, der, heimgekehrt, eine politische oder diplomatische Laufbahn beginnen sollte. Der Senator hatte zu seinem Reichthum während Norberts Abwesenheit noch den Adel erworben, welcher in Belgien eigentlich unnütz scheint und es doch nicht ist. Norbert kam also in die bekannten Räume unter neuen Verhältnissen: er war, wenn auch noch nicht der unmittelbare Erbe, doch durch ein festgesetztes Einkommen unabhängig, die Mutter statt der gehorchenden Gattin die gebietende Douairière. Die Douairière Abweichend von der folgenden Erklärung der Erzählerin hat das Wort einen durchaus pejorativen Beigeschmack und bedeutet etwa »stinkreiche Alte«. ist die Wittwe ins Stattliche und Feierliche übersetzt: Madame Dujardin de Wesselaer trug ihre Würde mit Anstand. Was ihr Herz an Gefühl ermöglicht hatte, das war stets ausschließlich dem Sohn gewidmet gewesen; um so mehr war er jetzt, wo die Verantwortlichkeit für seine Zukunft ihr oblag, ihr ausschließlicher Gedanke.
Leider wollte sie zu viel für ihn thun; ihre Sorge kam wie Bevormundung heraus. Norbert sollte schon ernst und reif sein und war noch gar nicht jung gewesen. Er versuchte jetzt es zu sein, zuerst in Brüssel, dann in Paris, diesem Paradies der jungen französisch gebildeten Belgier. Wie Alles, was man spät anfängt, trieb Norbert das Jungsein ohne Maß, nach drei Jahren war er fertig und erschöpft. Die Douairière bezahlte die bedeutenden Schulden des Sohnes mit einer vornehmen Ruhe, welche den Gläubigern ebenso imponirte wie Norbert. Sie hoffte, ihr Sohn würde um diesen Preis »wieder vernünftig geworden« sein. Norbert hatte auch den besten Willen dazu, aber bevor er vernünftig werden konnte, wurde er krank. Eine von jenen zehrenden Krankheiten, welche in Belgien fast eben so häufig sind, wie in dem analogen Klima Englands, bedrohte ernstlich das Leben des verloren gewesenen Sohnes. Seine Jugend war zum Glück stärker als die Krankheit; die Douairière schrieb seine Erhaltung und Genesung einzig einem Gelübde zu, welches sie im Augenblick der höchsten Gefahr Unserer lieben Frau von Hanswyck gethan hatte, dem berühmten wunderthätigen Bilde ihrer Geburtsstadt. Das Gelöbniß bestand in dem Versprechen, wenn Norbert genesen, jedes Jahr den Marienmonat, d. h. den Mai in Mecheln zubringen und zwei Mal täglich die kleine Kirche von Hanswyck besuchen zu wollen. Norbert, der Genesene, begleitete das erste Mal seine Mutter. Während seiner langen Krankheit war seine Religiosität nicht nur wieder erwacht, sondern hatte sich bis zum Fanatismus gesteigert. Abermals erschien der Stand des Priesters ihm als der wünschenswertheste, doch jetzt war es die Matter, welche ihn zurückhielt. Seit sie Douairière war, kam die Welt ihr angenehm vor, überdies wünschte sie Enkel, Erben ihres Erben – Norbert sollte heirathen. Er zählte damals neunundzwanzig, es war drei Jahre her, folglich war er jetzt erst zweiunddreißig – ich hatte sein Alter zu hoch angeschlagen. Kein Wunder, da er so ernst und so dunkel aussah. Und dann hatte ihn auch seine Krankheit gealtert. Man siecht nicht umsonst Monden und Jahre dahin. Auch die Lust und den Muth zum Leben hatte jene Zeit des Leidens sehr in ihm gebrochen, und zur Ehe besonders fühlte er nicht die mindeste Neigung. Dennoch wehrte er seiner Mutter nicht, nach einer Frau für ihn zu suchen, nur war jede Partie, welche sie ihm den Winter hindurch vorschlug, nicht nach seinem Geschmack. Endlich bat er sie im Frühjahr 1857, eine Reise machen zu dürfen, und zwar nach Deutschland, welches er noch nicht kannte.
So kam es, daß er im Sommer sich gerade in Berlin befand, als Carlotta, die von Leipzig aus hingekommen war, den Einfall hatte, ein Mal romantisch aufzutreten und die Berliner neugierig zu machen. Um das zu bewerkstelligen, verfügte sie sich zu dem Organisten der Hedwigskirche und bat ihn, am nächsten Tage bei der Messe eine alte italienische Kirchenarie singen zu dürfen. Der alte Herr ließ sich das Stück vorsingen und gab seine Zustimmung, so sonderbar es ihm auch vorkam, daß die fremde Dame durchaus nicht sagen wollte, wer sie sei. Schwarz gekleidet erschien Carlotta am nächsten Tage in der Kirche und sang ihre Arie. Norbert wohnte der Messe bei, und, mochte er nun gerade in einer ungewöhnlich erregten Stimmung und daher empfänglicher und nachgiebiger für einen neuen unerwarteten Eindruck sein, oder mochte seine Stunde geschlagen haben, genug, er hörte Carlotta mit einer Erschütterung an, welche bis in die Tiefen seines Wesens ging. Als sie geendet, kniete sie, in Thränen ausbrechend, gleich einer Reuigen nieder, schlug sich an die Brust, betete und verließ dann unaufhörlich weinend die Kirche. Norbert eilte ihr nach und verfolgte den Wagen, in welchem sie nach ihrem Hôtel fuhr, weit genug, um errathen zu können, wo sie wohne. Die halb theatralische, halb aufrichtige Bethätigung ihrer religiösen Gefühle würde einen Deutschen kalt gelassen, oder gar abgestoßen haben – auf Norbert, der gewöhnt war, sich von dem rhetorischen Pathos der französischen Poesie rühren zu lassen, wirkte dieser Auftritt ganz anders. Er sympathisirte mit der zerknirschten Seele, die sich ihm auf diese Art offenbart hatte, und er entnahm aus dem Gehaben der Unbekannten mit höchster Befriedigung, daß sie Katholikin sein müsse. Wenn auch vielleicht eine Fremde, so doch in keinem Falle die Bekennerin eines andern, als des römischen Glaubens zu seiner Frau zu wählen, das hatte Norbert beim Abschied seiner Mutter mit Hand und Mund gelobt. Katholikin war Carlotta, die erste unumgängliche Bedingung folglich erfüllt. Aber ob Carlotta, selbst katholisch, eine passende Frau für den Sohn der Douairière, für den einzigen Erben von Madame Dujardin de Wesselaer war?