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Wenn Brzetislav »morgen« sagte, so durfte man nicht gerade den nächsten Tag verstehen. Brzetislavs »Morgen« war dehnbarer, reichte bequem über acht Tage hinaus, bisweilen sogar bis zu vierzehn Tagen. So war ich denn nicht erstaunt, am folgenden Abend weder ihn noch Herrn Norbert Dujardin zu sehen, rechnete auch die folgenden Abende nicht auf die Herren, sondern wartete ruhig ab, bis der Czeche mir den Belgier bringen würde.
Inzwischen kam Carlotta oft zu mir herunter, hauptsächlich in der Dunkelstunde, einige Male aber auch nach zehn Uhr noch, was recht gut in Paris gegangen wäre, in einem vernünftigen deutschen Gasthofsleben aber als durchaus ungehörig erschien, und nie kam sie, ohne eine unruhige, fast aufgeregte Atmosphäre mit sich zu bringen. Mir wurde, hörte ich sie an, jedes Mal zu Muthe, als dehnte unser Zimmer sich allmälig immer höher und weiter aus, bis es endlich einem Konzertsaale oder einer Bühne glich. Man fühlte sich mit Carlotta nie heimisch in dem traulichen, gleichmäßigen Leben der Alltagswelt, sondern wurde unaufhörlich fortgewirbelt in das fieberhafte, außergewöhnliche der persönlichen Künstler. So nenne ich die ausübenden Musiker und die Schauspieler zum Gegensatz derjenigen Künstler, welche nur durch ihre Werke wirken, wie Dichter, Maler und Kompositeure. Ihr Leben kann einfach zwischen vorgezeichneten Linien dahinfließen, denn seine Bewegung ist eine innerliche, seine Stille ist Tiefe. Es hat Vergangenheit und Zukunft, das des Sängers, das des Schauspielers hat nur die Gegenwart. Was er nicht selbst thut, bleibt ungethan, wo er nicht unmittelbar wirkt, ist er Nichts. Und um immer etwas zu thun, um fortwährend persönlich zu wirken, muß er in jedem Augenblicke hervortreten, ja, wenn es nöthig ist, sich sogar hervordrängen. Er kann zu seinem Nachbar, zu seinem Nebenbuhler nicht höflich sagen: »nach Ihnen.« Was er nicht nimmt, das wird ihm genommen. Carlotta hatte sich auf diese Weise eine Menge Abende nehmen lassen, von denen ein jeder besser für ihr beabsichtigtes Konzert gepaßt hätte, als der, welchen sie endlich dafür bestimmte. Es ist wahr, sie hatte es nicht aus Rücksicht für Andere gethan, sondern aus Fahrlässigkeit, aus übler Laune. Warum mußte sie sich um solche »Lappalien« bekümmern, warum besorgten Andere ihr nicht das Alles, gerade wie in Rußland? Sie seufzte und klagte, wenn sie an Rußland dachte. Ich konnte mich manchmal des stillen Stoßseufzers nicht enthalten: sie möchte dageblieben sein, anstatt nun in Prag sich und – Andere mit ihrem Konzerte zu plagen. Ein Mal frug ich sie geradezu: warum sie denn wiedergekommen sei? Da sah sie mich mit einer – wie soll ich doch gleich sagen? – heftigen Wehmuth an und antwortete: »Ich bin ja doch eine Deutsche. Wenn auch aus Böhmen, so doch eine Deutsche, vielleicht mehr, als wäre ich aus Deutschland selbst. Und darum möcht' ich – von Deutschland angebetet und gefeiert werden, und – ich werd's nimmer, das weiß ich. Sehen Sie,« rief sie mit Schmerz und Zorn, indem sie ihre starken, aber schönen Hände krampfhaft zusammenballte, »daran werd' ich noch zu Grunde gehen.«
»Wenn Sie sich mit etwas weniger begnügen wollten,« schlug ich vor, »vielleicht könnte Deutschland das zu Stande bringen. Aber gleich angebetet und gefeiert werden –«
»Werden's denn Andere nicht?« fragte sie mit blitzenden Augen. Wenn ihre Augen blitzten, war es wunderlich: so, als zuckte Funken-Wiederschein im Wasser, denn sie waren ganz hell, die hellsten, ungefärbtesten, die ich noch gesehen. Und so funkeln hatte ich sie auch noch nicht gesehen, wie bei der Frage: »werden's denn Andere nicht?« Nach einigen Sekunden setzte sie fast drohend hinzu: »wird es Schiller nicht?«
»Was?« fragte ich förmlich ehrfurchtsvoll verblüfft, »sind Sie sogar auf Schiller eifersüchtig?«
»Warum denn nicht? Auf Alle und auf Jeden, den Deutschland liebt, ganz gleich, wer es ist.«
»Das ist wenigstens konsequent. Indessen, gönnen Sie dem armen Schiller immerhin Einiges – denken Sie daran, es geschieht ihm nach hundert Jahren.«
»Und wer wird nach hundert Jahren noch etwas von mir wissen?« fragte sie wie trostlos, indem sie die Arme plötzlich sinken ließ.
»Wenn Sie sich nicht in die Memoiren von Dichtern oder ähnlichen Chronikschreibern der Welt zu bringen wissen, allerdings. Die Königinnen der französischen Bühne haben das verstanden – Voltaire, Grimm waren ihre Geschichtsschreiber –«
Carlotta sah mich an, sie verstand mich nicht ganz, denn sie war höchst unwissend, aber sie begriff doch, was ich sagen wollte. »Schreiben Sie eine Broschüre über mich,« sagte sie kurz.
Was das nun wieder für ein Einfall war! Eine Broschüre, worin gesagt würde, was und wer sie sei, ein Reclame ein für alle Mal, welches –
»Sie etwa verkaufen wollen, wenn Sie in eine Stadt kommen?«
Carlotta fand darin weiter Nichts. Die Leute müßten doch wissen, wer sie wäre, meinte sie, und wer sollt es ihnen denn sagen?
»Wozu ist denn die Presse da?«
Die Presse, ah bah, die Presse! Carlotta verachtete die Presse. Die Presse hatte sich sehr schlecht gegen sie benommen, wenigstens in Prag. Kein einziger ankündigender Artikel bis jetzt, nicht in der Prager, nicht in der Bohemia, nicht in der Morgenpost. Und die Referenten kamen nicht, um sie zu hören. Selbst Brzetislav kam nicht.
Bei Brzetislav fiel mir der Belgier wieder ein. »Wie nur ein Belgier mit einem solchen ewigen Gewitter auskommen will, welches eine Gesangskünstlerin heißt?« dachte ich, sagte aber klüglich Nichts, denn Carlotta war nicht in der Stimmung, um irgend Etwas anzuhören.
Allmälig jedoch klärte Alles um sie her und in ihr selbst sich auf. Die Referenten der verschiedenen Zeitungen kamen, ließen sich vorsingen, waren entzückt, vielleicht auch etwas erschrocken, aber in jedem Falle hingerissen, so viel ein Referent von Metier es sein kann und darf. Die Reclames folgten den Besuchen, die Ankündigung des Konzertes erschien an allen Straßenecken, das Programm lag in allen Cafés, in allen Restaurants, allen Speisesälen, das Bild von Carlotta del Lago war in den Fenstern aller Bilderläden und Musikalienhandlungen zu sehen, die Billets waren sämmtlich schon an dem Tage der Ausgabe verkauft, und Carlotta athmete auf und gestattete auch Denen, welche das Vergnügen ihrer Gesellschaft genossen, wieder zu Athem zu kommen. Es konnte nicht zwei Geschöpfe verschiedener geben, als Carlotta, bevor es ihr gelungen war, ganz Prag mit sich zu beschäftigen, und Carlotta, nachdem es ihr gelungen war. Ich frug die Generalin, ob dieser Unterschied sich immer so fühlbar mache? Sie sagte ja. Da müßte sie doch ein unruhiges Leben haben, meinte ich. Sie gab es zu, »aber,« fuhr sie fort, »es ist mir das ein Genuß. Ich habe nie sehr die Ruhe geliebt, und bin durch meine Verhältnisse doch dazu gezwungen worden. In einem Garnisonsleben gibt es keine Veränderungen, es ist immer dieselbe maschinenmäßige Geschichte, man mag noch so oft den Ort wechseln. Aber jetzt – da leb' ich. Meine Tochter gibt mir, was ich selbst nie gehabt habe. Und als Mutter genieß' ich es doppelt.«
Ich frug, ob es sie denn nie ermüde?
»Warum?« erwiederte sie herausfordernd. »Halten Sie mich denn schon für alt? Ich bin's noch nicht, ich habe noch für Alles dieselbe lebhafte Empfindung, wie vor zwanzig Jahren. Nein, es ermüdet mich nicht, Lotti zu hören und – von ihr zu hören. Und ihr Glück in der Kunst und in ihren Triumphen ist das meine. Wenn sie übermorgen applaudirt werden wird, als sollte der Saal einstürzen vor dem Klatschen, glauben Sie, ich werde da nicht stolz sein und tausend Mal glücklicher, als hätte ich das ganze Jahr über still gesessen und mir's bequem gemacht? Sie denken, weil ich nie von dem Allen spreche, müsse ich gleichgiltig dagegen sein, oder doch wenigstens unempfindlich? Ich mag nur die Menschen nicht langweilen, sonst würde ich vom Morgen bis zum Abend sagen: ich bin als die Mutter einer solchen Künstlerin die glücklichste Frau auf Erden.«
Ich brauche wol nicht erst zu versichern, daß ich die Generalin nie wieder frug, ob sie müde sei. Dieser ihr Ausbruch von mütterlichem Fanatismus hatte mich um so mehr erschreckt, als er mir gänzlich unerwartet gekommen war. Ich hatte allerdings gedacht, daß die Generalin viel auf ihre Tochter halte, lebendig an allen ihren Begegnissen Theil nehme, mit einem Wort, im wahren und natürlichen Sinne eine Mutter sei. Aber ich hatte nicht gefürchtet, sie könne aus Carlotta ein Götzenbild machen, dessen erste Anbeterin sie selbst sei. Die ungebändigte Art Carlotta's, sonst mir wol lästig und bisweilen selbst ärgerlich, flößte mir jetzt Mitleid ein. Wie sollte sie denn sich beherrschen können, dankbar, bescheiden sein? Sie hatte es ja nicht lernen können. Wenn die Mutter sich gewissermaßen als gebenedeit betrachtete, weil sie eine solche Tochter habe, so mußte ja Carlotta in dem Wahne taumeln, ihr bloßes Erscheinen sei ein Heil, welches man mit Hymnen feiern müsse. Es gehen viele Fähigkeiten an einer solchen aberwitzigen Vergötterung der Eltern, besonders der Mütter, unter. Soll eines sein, so ist es immer noch besser, ein Talent werde im Elternhause verkannt und gemißhandelt, als durch unsinnige Ueberschätzung betäubt und stumpf gemacht. Hat es wirklich Kraft, wird es Hunger leiden, ohne Hungers zu sterben, und die Schläge aushalten, ohne sich zu Boden schlagen zu lassen. Ist dagegen die erste Nahrung durch Schmeichelei vergiftet worden, so wird es immer nach derselben schädlichen Kost jammern und sich nie mit dem etwas harten und sauern, aber kräftigen und gesunden Brod begnügen lernen, welches die Speise der Menschheit ist.