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Fünftes Kapitel

Die Reisende

 

I

Die Katastrophe mit Lisa und der Tod Marja Timofejewnas machten auf Schatow einen tief schmerzlichen Eindruck. Ich habe bereits erwähnt, daß ich an jenem Vormittage nur flüchtig mit ihm sprach: es kam mir dabei vor, als hatte er nicht ganz seinen Verstand. Unter anderm teilte er mir mit, er sei am vorhergehenden Abend um neun Uhr (also drei Stunden vor der Feuersbrunst) bei Marja Timofejewna gewesen. Er ging am Vormittag hin, um sich die Leichen anzusehen, machte aber, soviel ich weiß, an jenem Vormittag nirgends Aussagen über das, was er wußte. Gegen Ende des Tages erhob sich indessen in seiner Seele ein wahrer Sturm, und ... und (ich glaube, ich kann das mit aller Bestimmtheit sagen) zur Zeit der Abenddämmerung gab es einen Augenblick, wo er aufstehen, hingehen und alles klarlegen wollte. Was er mit »alles« meinte, das wußte nur er selbst. Natürlich hätte er nichts erreicht, sondern nur sich selbst ans Messer geliefert. Er besaß keinerlei Beweise, um in die soeben ausgeführte Freveltat Licht hineinzubringen, und hatte selbst darüber nur unklare Vermutungen, die nur für ihn einer völligen Überzeugung gleichkamen. Aber er war bereit, sich selbst zugrunde zu richten, wenn er nur »die Schurken zermalmen« konnte; das waren seine eigenen Worte. Peter Stepanowitsch hatte diesen Drang bei ihm zum Teil richtig vorausgesehen und wußte selbst, daß er viel riskierte, wenn er die Ausführung seines neuen schrecklichen Planes auf den folgenden Tag verschob. Seinerseits bewies er dabei seiner Gewohnheit nach ein starkes Selbstvertrauen und eine herzliche Verachtung all dieser »geringwertigen Kerle« und insonderheit Schatows. Er verachtete Schatow schon lange wegen seines »weinerlichen, idiotenhaften Wesens«, wie er sich schon im Auslande über ihn ausgedrückt hatte, und hoffte fest, daß es ihm gelingen werde, mit diesem so wenig schlauen Menschen zurechtzukommen, das heißt ihn diesen ganzen Tag über nicht aus den Augen zu lassen und ihm bei der ersten Gefahr den Weg abzuschneiden. Und doch war das, was »die Schurken« noch für eine kurze Zeit rettete, nur ein ganz unerwarteter und von ihnen ganz und gar nicht vorhergesehener Umstand.

Zwischen sieben und acht Uhr abends (also gerade zu derselben Zeit, als die »Unsrigen« sich bei Erkel versammelt hatten, auf Peter Stepanowitsch warteten, unwillig wurden und in Erregung gerieten) lag Schatow mit Kopfschmerzen und leichtem Fieberfrost im Dunkeln ohne Licht ausgestreckt auf seinem Bette; er quälte sich mit Zweifeln, ärgerte sich, entschloß sich, konnte sich aber doch nicht endgültig entschließen und fühlte fluchend im voraus, daß das alles doch zu nichts führen werde. Allmählich benahm ihm ein leichter Schlaf das Bewußtsein; ein bedrückender Traum ängstigte ihn; es träumte ihm, er sei mit Stricken an sein Bett geschnürt, am ganzen Leibe festgebunden, so daß er sich nicht rühren könne; und dabei erschollen im ganzen Hause furchtbare Schläge gegen den Zaun, gegen das Tor, gegen seine Haustür und gegen das Seitengebäude bei Kirillow, so daß das ganze Haus zittere, und eine ihm wohlbekannte Stimme, die aber schmerzliche Erinnerungen bei ihm erwecke, riefe ihn kläglich von ferne. Er kam auf einmal zur Besinnung und richtete sich auf dem Bette in die Höhe. Zu seinem Erstaunen dauerten die Schläge gegen das Tor fort; sie waren zwar bei weitem nicht so stark, wie es ihm im Traume vorgekommen war, folgten aber mit großer Hartnäckigkeit schnell aufeinander; und die sonderbare, ihm so schmerzliche Stimme, die allerdings überhaupt nicht kläglich, sondern im Gegenteil ungeduldig und gereizt klang, ließ sich immer noch unten am Tore vernehmen und mit ihr abwechselnd eine andere, ruhigere und gewöhnlichere Stimme. Er sprang auf, öffnete die Luftscheibe im Fenster und steckte den Kopf hinaus.

»Wer ist da?« rief er, geradezu starr vor Schreck.

»Wenn Sie Schatow sind,« wurde ihm von unten in scharfem, festem Tone geantwortet, »so geben Sie, bitte, einfach und ehrlich eine Erklärung darüber ab, ob Sie gewillt sind, mich hereinzulassen, oder nicht!«

Es war richtig; er erkannte diese Stimme!

»Marja! ... Bist du es?«

»Ja, ich bin es, Marja Schatowa, und ich versichere Ihnen, daß ich die Ungeduld des Droschkenkutschers keinen Augenblick länger beschwichtigen kann.«

»Sogleich ... ich will nur erst Licht ...« rief Schatow mit schwacher Stimme zurück. Dann suchte er hastig nach den Streichhölzern. Die waren, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nicht zu finden. Er ließ in der Erregung den Leuchter mit der Kerze auf den Fußboden fallen, und als von unten wieder die ungeduldige Stimme erscholl, ließ er alles liegen und lief Hals über Kopf seine steile Treppe hinunter, um das Pförtchen zu öffnen.

»Tun Sie mir den Gefallen und halten Sie die Reisetasche, bis ich mich mit diesem Dummkopf auseinandergesetzt habe,« sagte unten Frau Marja Schatowa als Begrüßung zu ihm und schob ihm eine ziemlich leichte, billige Handtasche aus Segeltuch mit Messingbuckeln, Dresdner Fabrikat, in die Hand. Sie selbst fuhr gereizt auf den Kutscher los:

»Ich muß Ihnen sagen, daß Ihre Forderung übermäßig ist. Wenn Sie mich eine ganze Stunde lang unnötigerweise durch diese schmutzigen Straßen gekarrt haben, so sind Sie selbst daran schuld, da Sie offenbar nicht gewußt haben, wo diese dumme Straße und dieses verrückte Haus ist. Nehmen Sie Ihre dreißig Kopeken; Sie können sich darauf verlassen, daß Sie nicht mehr bekommen.«

»Ach, Madamchen, Sie haben ja doch selbst von der Wosnesenskaja-Straße gesprochen, und dies hier ist die Bogojawlenskaja-Straße. Die Wosnesenskaja-Gasse liegt ja an einem ganz anderen Ende. Wir haben den Wallach unnötig in Schweiß gebracht.«

»Wosnesenskaja, Bogojawlenskaja – alle diese dummen Benennungen mußten Ihnen besser bekannt sein als mir, da Sie ein hiesiger Einwohner sind; und außerdem haben Sie unrecht: ich habe Ihnen gleich von vornherein gesagt, daß ich nach dem Filippowschen Hause wollte, und Sie haben ausdrücklich versichert, daß Sie es kennten. Wenn Sie wollen, können Sie mich morgen beim Friedensrichter belangen; jetzt aber bitte ich Sie, mich in Ruhe zu lassen.«

»Da! Da sind noch fünf Kopeken,« sagte Schatow, indem er hastig ein Fünfkopekenstück aus der Tasche nahm und es dem Kutscher hinreichte.

»Ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen und geben Sie ihm nichts!« rief Madame Schatowa hitzig; aber der Kutscher trieb schon »den Wallach« an, und Schatow ergriff sie bei der Hand und zog sie ins Tor hinein.

»Schnell, Marja, schnell ... das sind ja alles nur Kleinigkeiten, und – wie naß du geworden bist! Nur sachte, hier geht es nach oben, – schade, schade, daß ich kein Licht habe, – die Treppe ist steil; halte dich nur recht fest an meiner Hand! Nun, da ist auch mein Zimmerchen! Entschuldige, daß hier kein Licht ist ... Sofort!«

Er hob den Leuchter auf; aber die Streichhölzer ließen sich noch längere Zeit nicht finden. Frau Schatowa stand wartend mitten im Zimmer, rührte sich nicht und schwieg.

»Gott sei Dank! Endlich!« rief er freudig und machte das Zimmer hell.

Marja Schatowa musterte die Behausung mit einem schnellen Blicke.

»Es war mir gesagt worden, daß Sie eine garstige Wohnung hätten; aber so habe ich es mir doch nicht gedacht,« sagte sie geringschätzig und ging zum Bette. »Ach, was bin ich müde!« fuhr sie fort und setzte sich kraftlos auf das harte Bett. »Bitte, legen Sie die Reisetasche hin, und setzen Sie sich selbst aus einen Stuhl! Übrigens können Sie meinetwegen auch da so vor mir stehen bleiben. Ich bin nur für kurze Zeit zu Ihnen gekommen, nur bis ich Arbeit finde; denn ich weiß hier gar nicht Bescheid und habe kein Geld. Aber wenn ich Sie geniere, so bitte ich nochmals: tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie das sofort deutlich aus, wie das ja auch Ihre Pflicht ist, wenn Sie ein ehrenhafter Mensch sind. Ich kann immer noch morgen etwas verkaufen und in einem Gasthause bezahlen; wollen Sie mich nur selbst nach einem Gasthause hinführen ... Ach, aber ich bin so müde!«

Schatow zitterte am ganzen Leibe.

»Nicht doch, Marja; du brauchst nicht in ein Gasthaus zu gehen! Was redest du von einem Gasthause! Wozu, wozu?«

Er faltete mit flehender Gebärde die Hände.

»Nun, wenn ich nicht ins Gasthaus brauche, dann muß ich auseinandersetzen, wie die Dinge liegen. Sie werden sich erinnern, Schatow, daß ich mit Ihnen in Genf zwei Wochen und einige Tage lang als Ihre Ehefrau gelebt habe; es ist jetzt schon drei Jahre her, daß wir uns getrennt haben, übrigens ohne besonderen Streit. Aber glauben Sie nicht, daß ich zurückgekehrt bin, um irgendeine der früheren Dummheiten zu wiederholen! Ich bin zurückgekehrt, um Arbeit zu suchen, und wenn ich gerade nach dieser Stadt gekommen bin, so ist das geschehen, weil mir alles ganz gleichgültig ist. Ich bin nicht gekommen, um etwas zu bereuen; tun Sie mir den Gefallen und bilden Sie sich nicht eine solche Dummheit ein!«

»O Marja, das brauchst du nicht zu sagen, das brauchst du gar nicht zu sagen!« murmelte Schatow undeutlich.

»Nun, wenn es so steht, wenn Sie so weit fortgeschritten sind, daß Sie auch das begreifen können, dann möchte ich noch hinzufügen, daß, wenn ich mich jetzt direkt an Sie gewandt habe und in Ihre Wohnung gekommen bin, ich dies zum Teil deswegen getan habe, weil ich immer der Ansicht gewesen bin, daß Sie ganz und gar kein Schuft, sondern vielleicht weit bester sind als die andern ... diese Schurken!«

Ihre Augen begannen zu funkeln. Sie mußte wohl von solchen »Schurken« viel Schlimmes erlitten haben.

»Und seien Sie, bitte, überzeugt: ich habe mich soeben durchaus nicht über Sie lustig machen wollen, wenn ich Ihnen sagte, daß Sie ein guter Mensch sind. Ich habe gerade herausgesprochen, ohne schönklingende Phrasen, die ich überhaupt nicht leiden kann. Aber das ist alles dummes Zeug. Ich habe immer gehofft, daß Sie genug Verstand besitzen, um nicht lästigerweise an einem festzukleben ... Ach, genug davon, ich bin so müde!«

Und sie sah ihn mit einem langen, gequälten, müden Blicke an. Schatow stand vor ihr, fünf Schritte von ihr entfernt, mitten im Zimmer und hörte mit schüchterner Miene, aber gewissermaßen neubelebt, mit einem bei ihm noch nie dagewesenen Leuchten auf dem Gesichte ihr zu. Dieser starke, rauhe Mensch, der immer etwas Widerhaariges hatte, war auf einmal ganz weich geworden und strahlte förmlich. In seiner Seele zitterte ein ungewohntes, ihm ganz unerwartetes Gefühl. Die drei Jahre der Trennung, die drei Jahre des Nichtbestandes seiner Ehe hatten aus seinem Herzen nichts zu verdrängen vermocht. Und vielleicht hatte er in diesen drei Jahren täglich an Marja gedacht, an das teure Wesen, das einstmals zu ihm gesagt hatte: »Ich liebe Sie.« Da ich Schatow gekannt habe, kann ich mit Sicherheit sagen, daß er es nie auch nur für denkbar gehalten hätte, daß eine Frau zu ihm sagen könnte: »Ich liebe Sie.« Er war keusch und schamhaft bis zur Wunderlichkeit, hielt sich für ein schreckliches Scheusal, haßte sein Gesicht und seinen Charakter und glaubte auf einer Stufe zu stehen mit jenen Mißgeburten, die auf die Jahrmärkte gebracht und für Geld gezeigt werden. Infolge dieser ganzen Anschauung schätzte er die Ehrlichkeit am allerhöchsten, hielt an seinen Überzeugungen mit einem wahren Fanatismus fest und war finster, stolz, jähzornig und wortkarg. Aber nun war dieses einzige Wesen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte (das hatte er immer geglaubt!), dieses Wesen, das er hoch, hoch über sich stellte, obwohl er über die Verirrungen desselben durchaus nüchtern urteilte, dieses Wesen, dem er imstande war alles, alles vollständig zu verzeihen (das konnte überhaupt nicht die Frage sein; es lag sogar das Umgekehrte vor, so daß er selbst seiner Ansicht nach ihr gegenüber in allen Stücken im Unrecht war), diese Frau, diese Marja Schatowa, die war nun auf einmal wieder in seinem Hause und saß da wieder vor ihm ... es war beinah unfaßbar! Er war dermaßen überrascht, in diesem Ereignis lag für ihn so viel Furchtbares und gleichzeitig so viel Glück, daß er gar nicht zur Besinnung kommen konnte, es vielleicht nicht einmal wünschte, sondern sich davor fürchtete. Es war ihm wie ein Traum. Aber als sie ihn mit diesem gequälten Blicke anschaute, begriff er auf einmal, daß dieses so sehr geliebte Wesen litt, vielleicht unter einer schweren Kränkung. Das Herz zog sich ihm krampfhaft zusammen. Mit einem schmerzlichen Gefühle betrachtete er ihre Gesichtszüge: schon längst war von diesem müden Gesichte der Schimmer der ersten Jugend verschwunden. Hübsch war sie allerdings immer noch, und in seinen Augen immer noch wie früher eine Schönheit. (In Wirklichkeit war sie eine Frau von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, ziemlich kräftig gebaut, von mehr als Mittelgröße und somit größer als Schatow, mit reichem, dunkelblondem Haar, blassem, ovalem Gesichte und großen, dunklen Augen, die jetzt in fieberhaftem Glanze funkelten). Aber an die Stelle der früheren leichtsinnigen, naiven, harmlosen Energie, die er so gut gekannt hatte, war bei ihr eine mürrische Gereiztheit, die Verdrossenheit der Enttäuschung, eine Art von Zynismus getreten, an den sie sich noch nicht gewöhnt hatte, und der ihr selbst peinlich war. Aber die Hauptsache war: sie war krank; das erkannte er klar. Trotz all seiner Furcht vor ihr trat er plötzlich an sie heran und ergriff sie an beiden Händen:

»Marja ... weißt du ... du bist vielleicht sehr müde; um Gottes willen, sei nicht böse ... Wenn du dich doch überreden ließest, zum Beispiel Tee zu trinken, wie? Tee hebt die Kräfte sehr; was meinst du? Wenn du dich überreden ließest! ...«

»Was ist da erst noch zu überreden; natürlich lasse ich mich überreden; Sie sind noch immer dasselbe Kind wie früher. Wenn Sie können, dann geben Sie mir welchen! Wie eng es hier bei Ihnen ist! Und wie kalt!«

»Oh, ich will gleich Holz, Holz ... Holz habe ich!« erwiderte Schatow, der im Zimmer hin und her zu rennen anfing. »Holz ... das heißt, aber ... übrigens will ich auch gleich Tee ...« Er schwenkte den Arm, als hätte er einen schweren Entschluß gefaßt, und griff nach seiner Mütze.

»Wo wollen Sie denn hin? Sie haben wohl keinen Tee im Hause?«

»Ich werde welchen besorgen; sofort wird alles da sein ... ich ...«

Er nahm den Revolver vom Regal herunter.

»Ich werde gleich diesen Revolver verkaufen ... oder versetzen ...«

»Was für eine Dummheit! Und wie lange würde das dauern! Da, nehmen Sie mein Geld, wenn Sie keines haben; hier sind achtzig Kopeken, wie ich glaube; das ist alles, was ich habe. Bei Ihnen ist man wie in einem Irrenhause.«

»Dein Geld ist nicht erforderlich, nicht erforderlich; ich will gleich, in einem Augenblick ... es geht auch ohne den Revolver ...«

Er lief geradeswegs zu Kirillow. Das war wahrscheinlich etwa zwei Stunden, bevor Peter Stepanowitsch und Liputin zu Kirillow kamen. Obwohl Schatow und Kirillow auf demselben Grundstück wohnten, sahen sie einander doch fast gar nicht, und wenn sie einander begegneten, grüßten sie sich nicht und redeten nicht zusammen. Sie hatten zu lange in Amerika »zusammengelegen«.

»Kirillow, Sie haben ja immer Tee; haben Sie Tee und einen Samowar?«

Kirillow, der in seinem Zimmer von einer Ecke nach der anderen ging, was er die ganze Nacht über zu tun pflegte, blieb plötzlich stehen und blickte seinen Hausgenossen, der so unerwartet zu ihm hereingelaufen kam, unverwandt an, übrigens ohne besondere Verwunderung.

»Tee ist da, und Zucker ist da, und ein Samowar ist da. Aber ein Samowar ist nicht erforderlich; der Tee ist heiß. Setzen Sie sich hin, und trinken Sie ohne weiteres!«

»Kirillow, wir haben in Amerika zusammengelegen ... Meine Frau ist bei mir angekommen ... Ich ... Geben Sie mir Tee ... Ich brauche einen Samowar.«

»Wenn Ihre Frau da ist, dann ist allerdings ein Samowar nötig. Aber erst später. Ich habe ihrer zwei. Jetzt aber nehmen Sie die Teekanne, die auf dem Tische steht. Der Tee ist ganz heiß. Nehmen Sie alles; nehmen Sie den Zucker, den ganzen. Auch Brot ... Es ist viel Brot da; nehmen Sie es ganz. Es ist auch Kalbfleisch da. An Geld ein Rubel.«

»Geben Sie her, Freund; ich werde es Ihnen morgen wiedergeben! Ach, Kirillow!«

»Ist das die Frau, die in der Schweiz war? Das ist gut. Auch daß Sie zu mir gelaufen sind, ist gut.«

»Kirillow!« rief Schatow, indem er die Teekanne unter den Ellbogen schob und den Zucker und das Brot in beide Hände nahm. »Kirillow! Wenn ... Wenn Sie sich von Ihren schrecklichen Phantasien freimachen und Ihr atheistisches Gerede lassen könnten ... oh, was wären Sie dann für ein Mensch, Kirillow!«

»Man sieht, daß Sie Ihre Frau auch noch nach der Schweiz lieben. Das ist gut, daß Sie das auch nach der Schweiz noch tun. Wenn Sie noch Tee brauchen, so kommen Sie wieder her! Kommen Sie die ganze Nacht; ich schlafe gar nicht. Der Samowar wird in Ordnung sein. Nehmen Sie den Rubel; da! Gehen Sie zu Ihrer Frau; ich werde hier bleiben und an Sie und Ihre Frau denken.«

Marja Schatowa war augenscheinlich mit der Geschwindigkeit zufrieden und griff beinahe gierig nach dem Tee; aber den Samowar zu holen war nicht erforderlich; sie trank nur eine halbe Tasse und aß nur ein winziges Stückchen Brot. Das Kalbfleisch wies sie mürrisch und gereizt zurück.

»Du bist krank, Marja; das ist alles bei dir krankhaft ...« bemerkte Schatow schüchtern, der sie mit ängstlicher Beflissenheit bediente.

»Natürlich bin ich krank; bitte, setzen Sie sich hin! Wo haben Sie denn den Tee herbekommen, wenn Sie doch keinen hatten?«

Schatow erzählte ihr obenhin und in Kürze von Kirillow. Sie hatte schon einiges über ihn gehört.

»Ich weiß, daß er verrückt ist; aber hören wir, bitte, davon auf; es gibt ja so furchtbar viele Narren. Also Sie sind in Amerika gewesen? Ich habe davon gehört; Sie haben von dort aus geschrieben.«

»Ja, ich ... ich habe nach Paris geschrieben.«

»Genug davon; reden wir lieber von etwas anderem! Sie sind überzeugter Slawophile?«

»Ich ... eigentlich doch nicht ... Da es unmöglich ist, Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden,« versetzte er mit jenem gezwungenen schiefen Lächeln, wie man es bei jemand zu sehen pflegt, der zur Unzeit und mit Anstrengung ein Witzwort produziert hat.

»Sind Sie denn nicht Russe?«

»Nein, ich bin nicht Russe.«

»Nun, das sind alles Dummheiten. Setzen Sie sich doch endlich; ich bitte Sie darum. Warum gehen Sie denn immer hin und her? Sie meinen, ich rede im Fieber. Das wird vielleicht noch kommen. Sie sagen, Sie sind nur zu zweien im Hause?«

»Ja, nur zu zweien ... Unten ...«

»Und beides so kluge Menschen. Was ist unten? Sie sagten ›unten‹?«

»Ach, nichts.«

»Was soll das heißen? Ich will es wissen.«

»Ich wollte nur sagen, daß jetzt nur wir beide auf diesem Grundstück wohnen und unten früher Lebjadkins wohnten ...«

»Das ist die, die heute nacht ermordet worden ist?« fuhr sie plötzlich auf. »Ich habe es gehört. Kaum war ich angekommen, da hörte ich es. Es ist hier in der Stadt Feuer gewesen?«

»Ja, Marja, ja, und vielleicht begehe ich in diesem Augenblicke eine schreckliche Gemeinheit, wenn ich die Schufte nicht zur Bestrafung bringe ...« erwiderte er, stand plötzlich auf und ging im Zimmer auf und ab, wobei er wie außer sich die Arme in die Höhe hob.

Aber Marja verstand ihn nicht ganz. Sie hörte die Antworten nur zerstreut an; sie fragte, hörte aber nicht, was der andere erwiderte.

»Schöne Dinge passieren hier bei euch! Oh, wie gemein! Was für Schufte sind alle Menschen! So setzen Sie sich doch endlich hin, ich bitte Sie; Sie machen mich ja ganz nervös!«

Kraftlos ließ sie den Kopf auf das Kopfkissen sinken.

»Verzeih mir, Marja ... Wäre es nicht vielleicht gut, wenn du dich hinlegtest, Marja?«

Sie antwortete nicht und schloß ermattet die Augen. Ihr blasses Gesicht bekam die größte Ähnlichkeit mit dem einer Toten. Sie schlief fast augenblicklich ein. Schatow blickte sich rings um, brachte die Kerze in Ordnung, schaute noch einmal unruhig nach dem Gesichte der Schlafenden, preßte die Hände fest vor seiner Brust zusammen und ging auf den Zehen aus dem Zimmer auf den Flur. Oben an der Treppe drückte er sich mit dem Gesichte in eine Ecke und stand so wohl zehn Minuten stumm und regungslos. Er hätte noch länger so dagestanden; aber auf einmal ließen sich unten leise, vorsichtige Schritte hören. Es stieg jemand die Treppe hinauf. Schatow erinnerte sich, daß er vergessen hatte, das Pförtchen zuzuschließen.

»Wer ist da?« fragte er flüsternd.

Der unbekannte Besucher stieg, ohne sich zu beeilen und ohne zu antworten, weiter hinauf. Als er oben angelangt war, blieb er stehen; ihn zu erkennen war in der Dunkelheit unmöglich; auf einmal wurde von ihm die vorsichtige Frage vernehmbar:

»Iwan Schatow?«

Schatow gab sich zu erkennen, streckte aber sofort den Arm aus, um den Ankömmling zurückzuhalten; dieser jedoch griff selbst nach seinen Händen, – und Schatow zuckte zusammen, wie wenn er ein schreckliches Reptil berührt hätte.

»Bleiben Sie hier stehen!« flüsterte er schnell. »Gehen Sie nicht hinein; ich kann Sie jetzt nicht empfangen. Meine Frau ist zu mir zurückgekehrt. Ich werde die Kerze herausholen.«

Als er mit der Kerze zurückkehrte, stand ein junger Offizier da; den Namen desselben kannte er nicht; aber er hatte ihn schon irgendwo gesehen.

»Erkel,« stellte dieser sich vor. »Sie haben mich bei Wirginski gesehen.«

»Ich erinnere mich. Sie saßen da und schrieben. Hören Sie,« brauste Schatow auf einmal auf, indem er wütend auf ihn zutrat, aber wie vorher im Flüsterton sprach; »Sie haben mir soeben ein Zeichen mit der Hand gemacht, als Sie meine Hand ergriffen. Wissen Sie aber, ich schere mich den Teufel um all diese Zeichen! Ich erkenne keine Verpflichtungen an ... ich will nicht ... Ich kann Sie sofort die Treppe hinunterwerfen; wissen Sie das wohl? ...«

»Nein, das weiß ich nicht, und ich weiß überhaupt nicht, warum Sie so aufgebracht sind,« antwortete der Besucher sanft und beinah gutmütig. »Ich habe nur eine Bestellung an Sie auszurichten und bin noch so spät hergekommen, weil ich keine Zeit zu verlieren wünschte. Sie haben eine Druckerpresse in Händen, die Ihnen nicht gehört, und über die Sie Rechenschaft zu geben verpflichtet sind, wie Sie selbst wissen. Es ist mir befohlen, von Ihnen zu verlangen, daß Sie sie gleich morgen, pünktlich um sieben Uhr abends, an Liputin übergeben. Außerdem ist mir befohlen. Ihnen mitzuteilen, daß weitere Anforderungen niemals an Sie werden gestellt werden.«

»Gar keine?«

»Absolut keine. Man wird Ihre Bitte erfüllen und Sie für immer ausscheiden lassen. Es ist mir ausdrücklich befohlen worden, Ihnen dies mitzuteilen.«

»Wer hat das befohlen?«

»Diejenigen, die mir das Zeichen mitgeteilt haben.«

»Sie kommen vom Auslande?«

»Das ... das, glaube ich, ist für Sie unerheblich.«

»Zum Teufel! Aber warum sind Sie nicht früher gekommen, wenn Sie einen solchen Befehl hatten?«

»Ich befolgte gewisse Instruktionen und war nicht allein.«

»Ich verstehe, ich verstehe, daß Sie nicht allein waren. Hol's der Teufel! Aber warum ist Liputin nicht selbst gekommen?«

»Ich werde Sie also morgen pünktlich um sechs Uhr abends abholen, und wir werden dann zusammen zu Fuß dorthin gehen. Außer uns dreien wird niemand zugegen sein.«

»Wird Werchowenski dabei sein?«

»Nein, er wird nicht dabei sein. Werchowenski reist morgen vormittag um elf Uhr von hier weg.«

»Hab ich es mir doch gedacht!« flüsterte Schatow wütend und schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. »Er hat sich aus dem Staube gemacht, die Kanaille!«

Er überlegte etwas in starker Aufregung. Erkel sah ihn aufmerksam an, schwieg und wartete.

»Wie werden Sie sie denn fortschaffen? Die kann man ja nicht so ohne weiteres in die Hände nehmen und wegtragen.«

»Das wird auch nicht nötig sein. Sie sollen uns nur den Ort zeigen, und wir wollen uns nur vergewissern, daß sie wirklich da vergraben ist. Wir wissen ja nur, wo die Gegend ist; den Ort selbst kennen wir nicht. Haben Sie sonst schon jemandem die Stelle gezeigt?«

Schatow sah ihn musternd an.

»Auch Sie, auch Sie, ein solches Bürschchen, – ein so törichtes Bürschchen, – auch Sie haben Ihren Kopf wie ein Hammel da hineingesteckt? Ja, ja solche frischen jungen Menschen brauchen sie gerade! Na, dann gehen Sie! Ja, ja, dieser Schuft hat Sie alle hinters Licht geführt und sich nun aus dem Staube gemacht.«

Erkel sah ihn mit hellem, ruhigem Blicke, aber anscheinend verständnislos an.

»Werchowenski hat sich aus dem Staube gemacht, Werchowenski!« knirschte Schatow wütend mit den Zähnen.

»Aber er ist ja noch hier; er ist ja noch gar nicht abgereist. Er wird erst morgen abreisen,« bemerkte Erkel in sanftem, beschwichtigendem Tone. »Ich habe ihn besonders eingeladen, als Zeuge mit zugegen zu sein; an ihn wies mich meine ganze Instruktion« (er wurde als junger, unerfahrener Mensch offenherzig). »Aber er ging zu meinem Bedauern nicht darauf ein und führte seine Abreise als Grund an; und er scheint es auch wirklich eilig zu haben.«

Schatow ließ seine Augen noch einmal bedauernd über den naiven jungen Menschen hingleiten, machte aber plötzlich eine wegwerfende Handbewegung, wie wenn er dächte: »Er verdient kein Mitleid.«

»Gut, ich werde kommen,« brach er plötzlich ab. »Jetzt aber scheren Sie sich weg; marsch!«

»Ich werde mich also pünktlich um sechs Uhr einstellen,« sagte Erkel, empfahl sich mit einer höflichen Verbeugung und stieg ohne Eile die Treppe hinab.

»Dummkopf!« konnte sich Schatow nicht enthalten ihm vom oberen Ende der Treppe nachzurufen.

»Wie beliebt?« fragte der von unten.

»Nichts. Gehen Sie nur!«

»Ich glaubte, Sie sagten etwas.«

 

II

Erkel war ein Dummkopf von einer bestimmten Sorte: es mangelte ihm nur der eigentliche Hauptverstand, der im Kopfe seinen Herrschersitz hat; aber die geringeren, untergeordneten Verstandeskräfte waren bei ihm in hinreichendem Maße vorhanden; selbst an Schlauheit fehlte es ihm nicht. Fanatisch und mit jugendlichem Eifer der gemeinsamen Sache und hauptsächlich der Person Peter Werchowenskis ergeben, handelte er nach der Instruktion, die dieser ihm erteilt hatte, als bei der Sitzung der »Unsrigen« die Rollen für den folgenden Tag festgesetzt und verteilt wurden. Peter Stepanowitsch wies ihm die Rolle des Abgesandten zu und fand Zeit, mit ihm etwa zehn Minuten lang abseits zu sprechen. Die Ausübung einer ausführenden Tätigkeit, das war ein Bedürfnis dieser klein angelegten, wenig überlegenden Natur, die immer nur danach verlangte, sich einem fremden Willen unterzuordnen, – oh, natürlich nur um der »gemeinsamen Sache«, der »großen Sache« willen. Aber auch diese Klausel war ganz bedeutungslos, da geistig beschränkte Fanatiker wie Erkel das »einer Idee Dienen« nicht anders begreifen können, als indem sie diese Idee mit der Person selbst vermischen, in der nach ihrer Vorstellung die Idee zum Ausdruck kommt. Der gefühlvolle, freundliche, gutherzige Erkel war vielleicht der gefühlloseste der Mörder, die über Schatow herfallen wollten, und war imstande, ohne allen persönlichen Haß, ohne mit den Wimpern zu zucken, an dessen Ermordung teilzunehmen. Es war ihm zum Beispiel befohlen worden, bei Ausführung seines Auftrages unter anderm Schatows gesamte Verhältnisse genau ins Auge zu fassen, und als Schatow ihn oben an der Treppe empfing und in der Erregung, wahrscheinlich ohne es zu bemerken, sich die Mitteilung entschlüpfen ließ, daß seine Frau zu ihm zurückgekehrt sei, da wurde Erkel durch seine instinktive Schlauheit sofort davon zurückgehalten, auch nur die geringste weitere Neugier zu bekunden, obwohl in seinem Kopfe der Gedanke aufblitzte, daß diese Tatsache, die Rückkehr von Schatows Frau, für das Gelingen ihres Unternehmens die größte Bedeutung habe ...

Und so war es wirklich: einzig und allein diese Tatsache rettete die »Schurken« vor Schatows Absicht, sie ans Messer zu liefern, und half ihnen gleichzeitig, sich von ihm zu befreien ... Erstens versetzte diese Tatsache Schatow in Aufregung, warf ihn aus dem Geleise und benahm ihm seine gewöhnliche Achtsamkeit und Vorsicht. Ein Gedanke an seine eigene Sicherung konnte jetzt am allerwenigsten in seinem von ganz anderen Dingen angefüllten Kopfe Platz finden. Vielmehr glaubte er ohne weiteres, daß sich Peter Werchowenski am folgenden Tage davonmachen werde: das stimmte so ganz zu seinen Mutmaßungen! Als er in das Zimmer zurückgekehrt war, setzte er sich wieder in eine Ecke, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Bittere Gedanken quälten ihn ...

Dann erhob er von neuem den Kopf, stand auf und ging auf den Fußspitzen hin, um sie zu betrachten.

»O Gott! Gewiß wird gleich morgen früh bei ihr ein hitziges Fieber zum Ausbruch kommen; vielleicht hat es schon jetzt angefangen! Sicherlich hat sie sich erkältet. Sie ist an dieses schreckliche Klima nicht gewöhnt, und dann die Fahrt im Waggon dritter Klasse, ringsum Sturm und Regen; und sie hat nur so einen leichten Burnus, gar keinen ordentlichen Mantel ... Und da sollte ich mich ihr versagen, mich, ohne ihr zu helfen, von ihr abwenden? Und ihre Reisetasche, ach, die ist so winzig, so leicht, so voller Falten, nur zehn Pfund schwer! Die Arme, wie erschöpft sie ist; wieviel muß sie ertragen haben! Sie ist stolz; daher klagt sie nicht. Aber sie ist reizbar, sehr reizbar! Das macht die Krankheit: auch ein Engel wird reizbar, wenn er krank ist. Wie trocken und gewiß auch heiß ist ihre Stirn; wie dunkel sie unter den Augen aussieht, und ... und wie schön ist doch dieses Oval des Gesichtes, und dieses üppige Haar; wie ...«

Schnell wandte er die Augen ab, schnell ging er von ihr weg, als erschräke er schon über den bloßen Gedanken, in ihr etwas anderes zu sehen als ein unglückliches, zermartertes Wesen, dem er helfen müsse.

»Wie dürfte ich da für mich Hoffnungen hegen! O wie niedrig, wie gemein ist der Mensch!«

Und er ging wieder in seinen Winkel, setzte sich hin, verbarg das Gesicht in den Händen und gab sich wieder seinen Träumereien und Erinnerungen hin ... und wieder flimmerten vor seinem geistigen Blicke Hoffnungen auf.

»Ach, sie ist müde; ach, sie ist müde!« dachte er in Erinnerung an ihre Ausrufe und an ihre schwache, versagende Stimme. »O Gott! Wie kann ich sie jetzt im Stich lassen, und sie hat nur achtzig Kopeken; sie hat mir ja ihr altes, winziges Portemonnaie hingehalten! Sie ist hergereist, um sich eine Stelle zu suchen, – nun, was versteht sie denn von Stellen, was versteht sie denn von Rußland? Sie ist ja wie ein eigensinniges Kind; alles sind bei ihr nur eigene, selbstgeschaffene Phantasiegebilde; und dann ärgert sie sich, die Arme, daß Rußland ihren ausländischen Träumereien nicht ähnelt! O die Unglückliche, o die Schuldlose! ... Aber es ist hier wirklich kalt ...«

Er erinnerte sich, daß sie über Kälte geklagt und er versprochen hatte, den Ofen zu heizen.

»Holz ist da; das kann ich holen; ich darf sie nur nicht wecken. Das wird schon gehen. Aber wie soll es mit dem Kalbfleisch werden? Wenn sie aufsteht, wird sie vielleicht essen mögen ... Nun, das wollen wir später sehen; Kirillow schläft die ganze Nacht nicht. Ich sollte sie mit etwas zudecken; sie schläft zwar fest; aber es ist ihr gewiß kalt, ach ja, kalt!«

Er trat noch einmal zu ihr, um sie anzusehen; ihr Kleid hatte sich ein wenig zurückgeschlagen, und das halbe rechte Bein bis zum Knie war entblößt. Er wandte sich plötzlich, beinah erschrocken, ab, zog seinen warmen Überzieher aus, so daß er selbst nur ein altes, dürftiges Röckchen anhatte, und bedeckte die entblößte Stelle, wobei er sich bemühte, sie nicht anzusehen.

Das Heizen mit Holz, das Gehen auf den Fußspitzen, das Betrachten der Schläferin, die Träumereien in der Ecke und dann wieder das Betrachten der Schläferin, das alles hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Es waren darüber zwei bis drei Stunden vergangen. Gerade während dieser Zeit waren Werchowenski und Liputin bei Kirillow gewesen. Endlich schlief auch Schatow in seiner Ecke ein. Da fing sie an zu stöhnen; sie erwachte und rief ihn; er sprang auf wie ein Verbrecher.

»Marja! Ich war eingeschlafen ... Ach, was bin ich für ein Schuft, Marja!«

Sie richtete sich auf, sah sich erstaunt um, wie wenn sie nicht begriffe, wo sie sich befinde, und geriet auf einmal in zornige Entrüstung.

»Ich habe Ihr Bett in Besitz genommen und bin unvermerkt vor Müdigkeit eingeschlafen; warum haben Sie mich nicht geweckt? Wie durften Sie denken, daß ich Ihnen zur Last fallen wolle?«

»Wie hätte ich dich wecken dürfen, Marja?«

»Das durften Sie; das mußten Sie! Es ist hier kein anderes Bett für Sie vorhanden, und ich hatte das Ihrige in Besitz genommen. Sie durften mich nicht in eine falsche Lage bringen. Oder meinen Sie, daß ich hergekommen bin, um von Ihnen Wohltaten anzunehmen? Nehmen Sie sofort Ihr Bett in Besitz, und ich werde mich in einer Ecke auf Stühlen lagern ...«

»Marja, so viele Stühle sind nicht da, und es ist auch nichts da zum Darauflegen.«

»Nun, dann lege ich mich einfach auf den Fußboden. Sonst müßten Sie sich ja selbst zum Schlafen auf den Fußboden legen. Ich will mich auf den Fußboden legen, sofort, sofort!«

Sie stand auf und wollte einen Schritt tun; aber plötzlich schien ein sehr starker, krampfartiger Schmerz ihr alle Kraft und alle Entschlossenheit zu nehmen, und sie sank mit einem lauten Stöhnen wieder auf das Bett zurück. Schatow lief hinzu; aber Marja, das Gesicht in die Kissen verbergend, ergriff seine Hand und begann, sie aus aller Kraft in der ihrigen zu drücken und zu pressen. So verging ungefähr eine Minute.

»Marja, liebste Marja, wenn es nötig ist, hier ist ein Doktor Frenzel, mit dem ich bekannt bin, sehr bekannt ... Ich könnte zu ihm laufen.«

»Unsinn!«

»Wieso Unsinn? Sage doch, Marja: was tut dir weh? Sonst könnte ich auch heiße Umschläge ... etwa auf den Leib ... Das kann ich auch ohne Arzt ... Oder ein Senfpflaster ...«

»Was ist das?« fragte sie seltsamerweise, indem sie den Kopf in die Höhe hob und ihn ängstlich ansah.

»Was meinst du eigentlich, Marja?« fragte Schatow verständnislos. »Wonach fragst du? O Gott, ich habe ganz den Kopf verloren; verzeih, Marja, daß ich nichts verstehe.«

»Ach, hören Sie auf; es ist auch nicht Ihre Sache, das zu verstehen. Es würde auch sehr komisch sein ...« fuhr sie, bitter lächelnd, fort. »Reden Sie mit mir von irgend etwas! Gehen Sie im Zimmer umher, und reden Sie! Stehen Sie nicht neben mir, und sehen Sie mich nicht an; darum bitte ich Sie nun schon zum fünfzigstenmal!«

Schatow fing an, im Zimmer hin und her zu gehen, wobei er auf den Fußboden blickte und sich alle Mühe gab, sie nicht anzusehen.

»Hier ist (werde nicht böse, Marja; ich bitte dich!), hier ist Kalbfleisch; auch Tee kann ich hier ganz in der Nähe bekommen ... Du hast vorhin so wenig genossen ...«

Sie winkte ihm mißmutig und ärgerlich ab. Schatow biß sich in seiner Verzweiflung auf die Zunge.

»Hören Sie, ich beabsichtige, hier eine Buchbinderei zu eröffnen, nach vernünftigen genossenschaftlichen Prinzipien. Da Sie hier wohnen, wie denken Sie darüber? Wird es gelingen oder nicht?«

»Ach, Marja, bei uns liest man keine Bücher, und es gibt hier auch gar keine. Wie wird er denn da Bücher binden lassen?«

»Wer ist der Er?«

»Der hiesige Leser und überhaupt der hiesige Einwohner, Marja.«

»Na, dann reden Sie doch deutlicher; aber ›er‹ sagen Sie, und wer ›er‹ ist, das weiß man nicht. Sie können keine Grammatik.«

»Aber man redet doch so, Marja; das liegt im Geiste der Sprache,« murmelte Schatow.

»Ach, gehen Sie mir mit Ihrem Geiste; das ist mir langweilig. Warum wird der hiesige Einwohner oder Leser nicht binden lassen?«

»Weil ein Buch lesen und ein Buch binden lassen zwei verschiedene, langdauernde Entwicklungsperioden sind. Zuerst lernt der Mensch allmählich ein Buch lesen, natürlich im Laufe von Jahrhunderten; aber er behandelt das Buch schlecht und läßt es umherliegen, weil er es nicht für einen ernst zu nehmenden Besitzgegenstand ansieht. Ein Buch binden zu lassen, das bedeutet schon einen gewissen Respekt vor dem Buche; es bedeutet, daß man Bücher nicht nur gern liest, sondern sie auch als etwas Ernstes, Wichtiges ansieht. Bis zu dieser Periode ist ganz Rußland noch nicht gelangt. In Westeuropa läßt man schon lange binden.«

»Das ist zwar pedantisch, aber wenigstens nicht dumm gesagt und erinnert mich an die Zeit vor drei Jahren; Sie waren vor drei Jahren manchmal ganz geistreich.«

»Marja, Marja,« wandte sich Schatow gerührt zu ihr, »o Marja! Wenn du wüßtest, was alles in diesen drei Jahren geschehen und vergangen ist! Ich habe nachher gehört, daß du mich wegen des Wechsels meiner Anschauungen verachtetest. Aber was sind denn das für Menschen, von denen ich mich abgewandt habe? Feinde des lebendigen Lebens, abgelebte Liberale, die vor ihrer eigenen Unabhängigkeit einen Schreck bekommen haben, Lakaien des Gedankens, Feinde der Persönlichkeit und der Freiheit, altersschwache Prediger der Fäulnis und Verwesung! Was ist denn auf ihrer Seite zu finden: Greisenhaftigkeit, goldene Mittelstraße, die spießbürgerlichste, gemeinste Talentlosigkeit, eine neidische Gleichheit, eine Gleichheit ohne eigenes Verdienst, eine Gleichheit, wie ein Lakai sie billigt, oder wie sie die Franzosen von 1793 billigten ... Und, was die Hauptsache ist: überall Schurken, Schurken und Schurken!«

»Ja, Schurken gibt es viele,« sagte sie kurz; ihrem Tone war anzuhören, daß sie Schmerzen hatte.

Sie lag ausgestreckt da, regungslos, und als fürchte sie sich vor jeder Bewegung; den Kopf hatte sie auf das Kissen zurücksinken lassen, ein wenig seitwärts; sie blickte mit einem müden, aber heißen Blicke zur Decke hinauf. Ihr Gesicht war blaß, die Lippen waren vertrocknet und brannten.

»Du stimmst mir bei, Marja, du stimmst mir bei!« rief Schatow.

Sie wollte eine verneinende Kopfbewegung machen; aber plötzlich wiederholte sich bei ihr der frühere Krampf. Wieder verbarg sie den Kopf in das Kissen, und wieder drückte sie aus aller Kraft eine ganze Minute lang dem herbeilaufenden und vor Schreck sinnlosen Schatow die Hand so stark, daß es diesen schmerzte.

»Marja, Marja! Aber das ist vielleicht etwas sehr, Ernstes, Marja!«

»Schweigen Sie! ... Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht,« rief sie beinah wütend und drehte sich wieder mit dem Gesichte nach oben. »Sehen Sie mich nicht mit Ihrem mitleidigen Blicke an! Gehen Sie im Zimmer umher, reden Sie etwas, reden Sie ...«

Ganz fassungslos begann Schatow von neuem etwas zu murmeln.

»Womit beschäftigen Sie sich hier?« fragte sie, ihn mit mißmutiger Ungeduld unterbrechend.

»Ich gehe zu einem Kaufmann ins Kontor. Wenn ich es besonders darauf anlegte, könnte ich hier ein gutes Stück Geld verdienen, Marja.«

»Um so besser für Sie ...«

»Ach, denke nur nicht etwas dabei, Marja! Ich habe es ohne Absicht gesagt ...«

»Und was tun Sie sonst noch? Was predigen Sie? Denn ohne zu predigen können Sie ja nicht leben; das liegt nun einmal in Ihrem Charakter!«

»Ich predige Gott, Marja.«

»An den Sie selbst nicht glauben. Diese Idee habe ich nie begreifen können.«

»Lassen wir das jetzt, Marja. Wir können ein andermal darüber reden.«

»Was war denn diese Marja Timofejewna hier für eine?«

»Auch das wollen wir für später lassen, Marja.«

»Solche Bemerkungen verbitte ich mir! Ist es wahr, daß ihr Tod auf ein Verbrechen ... dieser Leute zurückzuführen ist?«

»Ja, es ist zweifellos so,« erwiderte Schatow zähneknirschend.

Marja hob plötzlich den Kopf in die Höhe und rief aufgeregt:

»Erlauben Sie sich nie wieder, zu mir davon zu sprechen, niemals, niemals!«

Sie sank in einem Anfalle desselben krampfhaften Schmerzes auf das Bett zurück; das war schon zum dritten Male; aber diesmal wurde das Stöhnen lauter und verwandelte sich in ein Schreien.

»Oh, Sie unerträglicher Mensch! Oh, Sie unausstehlicher Mensch!« rief sie, sich jetzt wild umherwerfend, und stieß den sich über sie beugenden Schatow zurück.

»Marja, ist will tun, was du willst ... ich will umhergehen ... ich will etwas reden ...«

»Sehen Sie denn wirklich nicht, daß es angefangen hat?«

»Was hat angefangen, Marja?«

»Wie soll ich das wissen! Als ob ich etwas davon verstände ... O ich Verfluchte! Oh, möge alles im voraus verflucht sein!«

»Marja, willst du nicht sagen, was anfängt? ... Sonst kann ich ja ... Wie soll ich es denn verstehen, wenn du so sprichst?«

»Sie abstrakter, unnützer Schwätzer! Oh, möge alles in der Welt verflucht sein!«

»Marja, Marja!«

Er fürchtete in allem Ernste, daß sie anfinge, irrsinnig zu werden.

»Aber sehen Sie denn noch immer nicht, daß ich von Geburtswehen befallen bin?« rief sie, indem sie sich aufrichtete und ihn mit einer furchtbaren, krankhaften Wut anblickte, bei der sich ihr ganzes Gesicht verzerrte. »Möge es im voraus verflucht sein, dieses Kind!«

»Marja,« rief Schatow, nachdem er nun endlich begriffen hatte, um was es sich handelte. »Marja – Aber warum hast du das nicht früher gesagt?« Er sammelte schnell seine Gedanken und griff mit energischer Entschlossenheit nach seiner Mütze.

»Aber woher sollte ich es denn wissen, als ich herkam? Wäre ich dann etwa zu Ihnen gekommen? Es war mir gesagt worden: erst in zehn Tagen! Wo wollen Sie denn hin? Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich will eine Hebamme holen! Ich will den Revolver verkaufen: vor allen Dingen brauchen wir jetzt Geld!«

»Unterstehen Sie sich nicht, eine Hebamme zu rufen! Nur eine einfache Frau, eine alte Frau will ich haben; in meinem Portemonnaie sind noch achtzig Kopeken ... Die Bauerfrauen gebären ja auch ohne Hebammen ... Und wenn ich krepiere, um so besser ...«

»Auch eine alte Frau wird zu haben sein. Aber wie kann ich dich allein lassen, Marja?«

Er überlegte jedoch, daß es besser sei, sie jetzt allein zu lassen, trotz all ihrer Raserei, als sie nachher ohne Hilfe zu lassen; und so lief er denn, ohne auf ihr Stöhnen und auf ihre zornigen Ausrufe zu hören, so schnell er nur konnte, die Treppe hinab.

 

III

Vor allen Dingen mußte er zu Kirillow. Es war schon gegen ein Uhr nachts. Kirillow stand mitten im Zimmer.

»Kirillow, meine Frau kommt nieder!«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie kommt nieder, sie gebiert ein Kind!«

»Hören Sie ... irren Sie sich auch nicht?«

»Nein, nein, sie hat Wehen! ... Ich brauche eine Frau, eine alte Frau, unbedingt sofort ... Läßt sich jetzt eine beschaffen? Sie hatten ja doch viele alte Frauen hier ...«

»Sehr schade, daß ich nicht niederzukommen verstehe,« antwortete Kirillow nachdenklich; »ich meine nicht, ich verstehe nicht niederzukommen, sondern ich verstehe nicht zu machen, daß eine Frau niederkommt ... oder ... Nein, ich verstehe das nicht zu sagen.«

»Sie meinen. Sie können nicht selbst bei einer Entbindung helfen; aber darum bin ich auch nicht gekommen; ich brauche eine alte Frau, eine alte Frau, eine Krankenwärterin, eine Magd!«

»Eine alte Frau wird sich beschaffen lassen, nur vielleicht nicht sogleich. Wenn es Ihnen recht ist, so will ich an deren Statt ...«

»Oh, das ist unmöglich; dann will ich jetzt zu Frau Wirginskaja, der Hebamme.«

»Ein gräßliches Frauenzimmer!«

»Ja gewiß, Kirillow, gewiß; aber sie ist besser als die andern alle! Freilich, es wird sich alles ohne Andacht, ohne Freude, mit Mißmut, unter Schimpfreden und Gotteslästerungen vollziehen, – bei einem so großen Geheimnis, dem Erscheinen eines neuen Wesens! ... Oh, sie verflucht dieses neue Wesen schon jetzt ...«

»Wenn es Ihnen recht ist, so will ich ...«

»Nein, nein, aber während ich hinlaufe (oh, ich will die Wirginskaja schon herschleppen), könnten Sie manchmal zu meiner Treppe gehen und leise horchen; aber gehen Sie nicht hinein; Sie würden sie erschrecken; gehen Sie ja nicht hinein; horchen Sie nur ... für den schlimmsten Fall. Nur wenn das Äußerste eintreten sollte, dann können Sie hineingehen.«

»Ich verstehe. An Geld habe ich noch einen Rubel. Da ist er. Ich wollte mir morgen ein Huhn kaufen; aber jetzt will ich es nicht mehr. Laufen Sie schnell, laufen Sie aus Leibeskräften! Der Samowar ist die ganze Nacht über bereit.«

Kirillow wußte nichts von dem Anschlage auf Schatow und hatte auch früher nie etwas von dem Grade der diesem drohenden Gefahr gewußt. Er wußte nur, daß derselbe noch irgendwelche alten Rechnungen mit »diesen Leuten« zu erledigen habe, und obgleich er selbst durch die ihm vom Auslande her erteilten Instruktionen in diese Sache zum Teil verwickelt war (übrigens hielten sich diese Instruktionen sehr auf der Oberfläche; denn näher beteiligt war er bei nichts gewesen), so hatte er doch in der letzten Zeit alles hingeworfen, alle Aufträge unbeachtet gelassen, sich von all diesen Dingen, insonderheit von der »gemeinsamen Sache«, ganz zurückgezogen und sich einem beschaulichen Leben hingegeben. Peter Werchowenski hatte zwar in der Sitzung Liputin aufgefordert, mit zu Kirillow zu kommen, um sich zu vergewissern, daß dieser im gewiesenen Augenblicke »die Schatowsche Angelegenheit« auf seine Kappe nehmen werde, hatte aber in dem Gespräche mit Kirillow kein Wort von Schatow gesagt und nicht einmal eine Andeutung gemacht, wahrscheinlich weil er dies für politisch unklug und Kirillow sogar für unzuverlässig hielt; er hatte es vielmehr vorgezogen, eine solche Mitteilung auf den folgenden Tag zu verschieben, wo alles bereits erledigt sein und dem Selbstmordkandidaten Kirillow schon »alles egal« sein werde; wenigstens urteilte Peter Stepanowitsch so über Kirillow. Auch Liputin hatte sehr wohl bemerkt, daß Schatows trotz des Versprechens mit keiner Silbe Erwähnung getan war; aber Liputin war zu aufgeregt, als daß er gegen dieses Verfahren hätte Einspruch erheben mögen.

Wie der Wind lief Schatow nach der Murawjinaja-Straße, indem er den weiten Weg verwünschte, der gar kein Ende nehmen wollte.

Bei Wirginski mußte er lange klopfen: alle schliefen schon längst. Aber Schatow schlug ohne alle Umstände aus voller Kraft gegen einen Fensterladen. Der Kettenhund auf dem Hofe riß an seiner Kette und brach in ein wütendes Gebell aus. Die Hunde der ganzen Straße fielen ein; es entstand ein Mordslärm.

»Warum klopfen Sie, und was wünschen Sie?« ließ sich endlich am Fenster Wirginskis eigene sanfte Stimme vernehmen, die zu der herausfordernden Art des Pochens nicht stimmte.

Der Fensterladen wurde ein wenig geöffnet und auch die Luftscheibe aufgemacht.

»Wer ist da? Was für ein Schuft ist da?« kreischte ergrimmt eine Weiberstimme, die der alten Jungfer, der Verwandten Wirginskis; diese Stimme entsprach nun allerdings vollständig dem rücksichtslosen Pochen.

»Ich bin es, Schatow; meine Frau ist zu mir zurückgekehrt und wird jetzt gleich niederkommen ...«

»Na, dann lassen Sie sie niederkommen! Scheren Sie sich weg!«

»Ich will Arina Prochorowna holen; ich gehe ohne Arina Prochorowna nicht weg!«

»Sie kann nicht zu jedem kommen. Nachts hat sie ihre besondere Praxis ... Gehen Sie doch zu Frau Makschejewa, und machen Sie hier nicht solchen Lärm!« schalt die erboste Weiberstimme.

Man konnte hören, wie Wirginski ihr Einhalt zu tun suchte; aber die alte Jungfer stieß ihn beiseite und wich nicht von ihrem Platze.

»Ich gehe nicht weg!« rief wieder Schatow.

»Warten Sie, so warten Sie doch!« rief endlich Wirginski, der nun doch über die alte Jungfer die Oberhand gewonnen hatte. »Ich bitte Sie, fünf Minuten zu warten, Schatow; ich werde Arina Prochorowna wecken; bitte, klopfen Sie nicht, und schreien Sie nicht! ... Ach, wie schrecklich das alles ist!«

Nach fünf endlosen Minuten erschien Arina Prochorowna.

»Ihre Frau ist bei Ihnen angekommen?« erscholl ihre Stimme durch die Luftscheibe, und zu Schatows Verwunderung klang diese Stimme gar nicht böse, sondern nur wie gewöhnlich gebieterisch; anders als gebieterisch konnte Arina Prochorowna überhaupt nicht reden.

»Ja, sie ist angekommen – und sie kommt nieder.«

»Marja Ignatjewna?«

»Ja, Marja Ignatjewna. Natürlich Marja Ignatjewna!«

Es folgte ein Stillschweigen. Schatow wartete. Im Hause wurde geflüstert.

»Ist sie schon lange angekommen?« fragte Madame Wirginskaja wieder.

»Heute abend um acht. Bitte, kommen Sie recht schnell!«

Es wurde von neuem geflüstert; sie schienen sich von neuem zu beraten.

»Hören Sie mal, irren Sie sich auch nicht? Hat sie selbst Sie nach mir geschickt?«

»Nein, sie hat mich nicht nach Ihnen geschickt; sie will eine Frau, eine einfache Frau haben, um nur keine Ausgaben zu verursachen; aber seien Sie unbesorgt, ich werde Sie bezahlen.«

»Gut, ich werde kommen, mögen Sie bezahlen oder nicht. Ich habe Marja Ignatjewnas selbständige Denkart immer zu schätzen gewußt, wiewohl sie sich meiner vielleicht nicht erinnert. Haben Sie die notwendigsten Sachen in Bereitschaft?«

»Nein, es ist nichts da; aber es wird alles beschafft werden, alles, alles ...«

»Man findet doch auch bei diesen Leuten Edelmut!« dachte Schatow, während er sich zu Ljamschin begab. »Die Anschauungen und der Mensch selbst, das sind, wie es scheint, zwei sehr verschiedene Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in vielen Stücken unrecht getan! ... Keiner von uns ist schuldlos, keiner, und ... wenn doch alle von dieser Überzeugung durchdrungen wären! ...«

Bei Ljamschin brauchte er nicht lange zu klopfen; zu seiner Verwunderung öffnete dieser sofort die Luftscheibe; er war barfuß und im Nachtanzug aus dem Bett gesprungen, obwohl er damit eine Erkältung riskierte und sonst beständig sehr ängstlich auf seine Gesundheit bedacht war. Aber daß er jetzt wach war und so eilig erschien, hatte seinen besonderen Grund: Ljamschin hatte infolge der Sitzung bei den »Unsrigen« vor Aufregung den ganzen Abend über gezittert und noch nicht einschlafen können; es stand ihm immer der Besuch einer Anzahl von ungeladenen und sogar sehr unerwünschten Gästen vor Augen. Die Mitteilung von Schatows beabsichtigter Denunziation hatte ihn in einen höchst peinlichen Zustand versetzt ... Und da mußte nun gerade jemand so furchtbar laut an das Fenster klopfen! ...

Bei Schatows Anblick bekam er es dermaßen mit der Angst, daß er die Luftscheibe sofort wieder zuschlug, nach seinem Bette lief und sich hineinlegte. Schatow begann wütend zu klopfen und zu schreien.

»Wie können Sie sich erdreisten, mitten in der Nacht so zu klopfen?« rief Ljamschin drohend, aber halbtot vor Furcht, als er nach mindestens zwei Minuten sich entschlossen hatte, die Luftscheibe von neuem zu öffnen, und sich endlich überzeugt hatte, daß Schatow allein gekommen war.

»Da bringe ich Ihnen den Revolver wieder; nehmen Sie ihn zurück, und geben Sie mir fünfzehn Rubel dafür!«

»Was heißt das? Sind Sie betrunken? Das ist ja Raub; ich werde mich noch erkälten. Warten Sie, ich werde mir gleich ein Plaid umlegen.«

»Geben Sie schnell die fünfzehn Rubel her! Wenn Sie sie nicht geben, werde ich bis zum Morgen klopfen und schreien; ich werde Ihnen das ganze Fenster zerschlagen.«

»Und ich werde die Wache rufen; dann werden Sie ins Loch gesteckt werden.«

»Bin ich etwa stumm, was? Werde ich nicht auch die Wache rufen? Wer hat die Wache zu fürchten, Sie oder ich?«

»Wie können Sie nur eine so unwürdige Meinung hegen? ... Ich weiß, worauf Sie anspielen ... Halt, halt; um Gottes willen, klopfen Sie nicht! Ich bitte Sie, wer hat denn in der Nacht Geld? Nun, wozu brauchen Sie denn das Geld, wenn Sie nicht betrunken sind?«

»Meine Frau ist zu mir zurückgekehrt. Ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen, obwohl ich nicht ein einziges Mal daraus geschossen habe; nehmen Sie den Revolver hin, nehmen Sie ihn augenblicklich hin!«

Ljamschin streckte mechanisch die Hand durch die Luftklappe hinaus und nahm den Revolver in Empfang; eine kurze Zeit stand er still da; dann steckte er auf einmal schnell den Kopf durch die Luftklappe und sagte, ohne recht zu wissen, wie er dazu kam, indem ihm ein Schauer den Rücken entlang lief:

»Sie lügen; Ihre Frau ist gar nicht zu Ihnen gekommen ... Sie wollen sich ganz einfach irgendwohin davonmachen.«

»Sie Dummkopf! Wozu soll ich mich davonmachen? Ihr Peter Werchowenski, der mag davonlaufen, aber nicht ich. Ich bin soeben bei der Hebamme Wirginskaja gewesen, und sie hat sich sofort bereit erklärt, zu mir zu kommen. Erkundigen Sie sich danach! Meine Frau wird von Wehen gequält; ich brauche Geld; geben Sie mir Geld!«

Ein ganzes Feuerwerk von Gedanken blitzte in Ljamschins schlauem Kopfe auf. Alles nahm plötzlich eine andere Gestalt an; aber die Furcht ließ ihn immer noch nicht zur ruhigen Überlegung kommen.

»Aber was ist denn das ... Sie leben ja doch gar nicht mit Ihrer Frau zusammen?«

»Ich werde Ihnen für solche Fragen den Schädel einschlagen.«

»Ach, mein Gott, verzeihen Sie; ich verstehe; ich war nur so verblüfft ... Aber ich verstehe, ich verstehe. Aber ... aber ... wird denn Arina Prochorowna wirklich zu Ihnen kommen? Sagten Sie nicht soeben, daß sie zu Ihnen gekommen sei? Wissen Sie, das ist doch nicht wahr. Sehen Sie, sehen Sie, sehen Sie, wie Sie fortwährend die Unwahrheit sagen!«

»Sie sitzt wahrscheinlich jetzt schon bei meiner Frau; halten Sie mich nicht auf; ich kann nichts dafür, daß Sie so dumm sind.«

»Das ist nicht wahr; ich bin nicht dumm. Nehmen Sie es nicht übel; aber ich bin schlechterdings außerstande ...«

Ganz fassungslos machte er die Luftscheibe von neuem zu; aber Schatow erhob ein solches Gebrüll, daß er den Kopf sofort wieder heraussteckte.

»Aber das ist ja ein vollständiger Überfall! Was verlangen Sie denn von mir? Nun? Sagen Sie es in klaren Worten! Und ausgerechnet, ausgerechnet mitten in der Nacht!«

»Fünfzehn Rubel verlange ich, Sie Schafskopf!«

»Aber vielleicht habe ich gar keine Lust, den Revolver zurückzunehmen. Sie haben kein Recht, das zu verlangen. Sie haben einen Gegenstand gekauft, und damit ist das Geschäft erledigt, und Sie haben weiter kein Recht. Ich kann eine solche Summe bei Nacht absolut nicht bezahlen; wo soll ich eine solche Summe herbekommen?«

»Sie haben immer Geld; ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen; aber Sie sind der richtige Geldjude!«

»Kommen Sie übermorgen; hören Sie wohl? Übermorgen mittag Punkt zwölf, und dann will ich Ihnen alles geben, alles; ist's Ihnen so recht?«

Schatow schlug zum drittenmal wütend an das Fenster.

»So geben Sie jetzt zehn Rubel und morgen bei Tagesanbruch die andern fünf!«

»Nein, übermorgen mittag fünfzehn; aber morgen werde ich, bei Gott, noch kein Geld haben. Kommen Sie lieber nicht her; kommen Sie lieber nicht her!«

»Geben Sie zehn! O Sie Schuft!«

»Warum schimpfen Sie denn so? Warten Sie, ich muß erst Licht machen; sehen Sie, Sie haben eine Scheibe zerschlagen ... Wer schimpft denn so bei Nacht? Da!« Er reichte ihm eine Banknote durch das Fenster.

Schatow nahm sie; es war ein Fünfrubelschein.

»Bei Gott, mehr kann ich nicht, und wenn Sie mich totschlagen; ich kann nicht; übermorgen werde ich alles können; aber jetzt kann ich nichts.«

»Ich gehe nicht weg!« brüllte Schatow.

»Nun, da nehmen Sie, da ist noch etwas; sehen Sie, noch etwas; aber mehr gebe ich nicht. Na, wenn Sie auch aus vollem Halse schreien, ich gebe nicht mehr; mag geschehen, was will, ich gebe nicht mehr; ich gebe nicht mehr, und ich gebe nicht mehr!«

Er schien ganz außer sich, ganz verzweifelt zu sein; der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die beiden Scheine, die er noch herausgereicht hatte, waren Rubelnoten. Im ganzen hatte Schatow sieben Rubel bekommen.

»Na, hol Sie der Teufel; morgen komme ich wieder. Ich schlage Sie zu Schanden, Ljamschin, wenn Sie die acht Rubel nicht in Bereitschaft haben.«

»Aber ich werde nicht zu Hause sein, Dummkopf!« dachte Ljamschin schnell im stillen.

»Halt, halt!« schrie er dem bereits davonlaufenden Schatow aufgeregt nach. »Halt, kehren Sie noch einmal um! Sagen Sie, bitte, haben Sie die Wahrheit gesagt, daß Ihre Frau zu Ihnen zurückgekehrt ist?«

»Dummkopf!« rief Schatow zurück, spuckte aus und lief, so schnell er konnte, nach Hause.

 

IV

Ich bemerke, daß Arina Prochorowna von den Beschlüssen, die am vorhergehenden Tage in der Sitzung gefaßt waren, nichts wußte. Als Wirginski verstört und angegriffen nach Hause zurückgekehrt war, hatte er nicht gewagt, ihr die getroffene Entscheidung mitzuteilen, sich aber doch nicht enthalten können, ihr die Hälfte zu offenbaren, nämlich alles das, was ihnen Werchowenski über Schatows zweifellose Absicht einer Denunziation gesagt hatte; aber zugleich hatte er erklärt, daß er der Nachricht nicht völlig Glauben schenke. Arina Prochorowna hatte einen gewaltigen Schreck bekommen. Dies war der Grund, weshalb sie, als Schatow angelaufen kam, um sie zu holen, trotz ihrer Müdigkeit, da sie sich die ganze vorhergehende Nacht über mit einer Gebärenden abgeplagt hatte, sich dennoch unverzüglich entschloß hinzugehen. Sie war immer überzeugt gewesen, daß »ein so elendes Subjekt wie Schatow zu einer Gemeinheit gegen seine Mitbürger fähig sei«; aber infolge von Marja Ignatjewnas Ankunft erschien ihr die Sache doch in einem andern Lichte. Schatows Angst, der verzweifelte Ton seiner Bitten, sein Flehen um Hilfe bekundeten einen Umschwung in der Gesinnung des Verräters: ein Mensch, der entschlossen ist, sogar sich selbst preiszugeben, nur um andere zugrunde zu richten, der würde, meinte sie, eine andere Miene und einen andern Ton haben, als sie Schatow in Wirklichkeit hatte. Kurz gesagt, Arina Prochorowna nahm sich vor, alles selbst mit eigenen Augen anzusehen. Wirginski war mit ihrem Entschlusse sehr zufrieden; es war ihm, als sei ihm eine Zentnerlast vom Herzen gefallen! Es regte sich bei ihm sogar eine Hoffnung: Schatows Miene schien ihm zu Werchowenskis Vermutung absolut nicht zu stimmen.

Schatow hatte sich nicht geirrt; als er zurückkehrte, fand er Arina Prochorowna bereits bei Marja. Sowie sie gekommen war, hatte sie den unten an der Treppe stehenden Kirillow verächtlich fortgejagt; schnell hatte sie sich dann mit Marja bekannt gemacht, von der sie nicht als frühere Bekannte anerkannt wurde; sie fand sie »in sehr widerwärtiger Stimmung«, das heißt ärgerlich, aufgeregt und »in ganz kleinmütiger Verzweiflung«, und schlug in etwa fünf Minuten alle Entgegnungen derselben siegreich aus dem Felde.

»Warum reden Sie denn immer, daß Sie keine teure Hebamme haben wollen?« sagte sie gerade in dem Augenblicke, als Schatow hereinkam. »Das ist der reine Unsinn, ein ganz falscher Gedanke, der durch Ihren nicht normalen Zustand hervorgerufen ist. Wenn Sie nur eine einfache alte Frau aus dem gewöhnlichen Volke zur Hilfe haben, so haben Sie fünfzig Chancen dafür, daß die Sache einen schlechten Ausgang nimmt; und dabei haben Sie doch mehr Umstände und Ausgaben als bei einer teueren Hebamme. Und woher wissen Sie denn, daß ich eine teuere Hebamme bin? Sie können mich später bezahlen; ich werde Ihnen nicht zuviel abnehmen, und für den Erfolg garantiere ich; bei mir werden Sie nicht sterben; das ist bei mir noch nicht dagewesen. Und das Kind werde ich Ihnen gleich morgen in das Kinderasyl bringen, und später aufs Land zum Aufziehen, und damit ist dann die Sache erledigt. Und Sie selbst werden sich wieder erholen und sich an eine vernünftige Arbeit machen und in sehr kurzer Zeit Schatow für die Unterkunft und die Auslagen entschädigen, die überhaupt nicht so bedeutend sein werden ...«

»Das ist es gar nicht, was mir Sorge macht ... Ich habe kein Recht, ihn zu belästigen ...«

»Das ist eine rationelle, einer Bürgerin wohlanstehende Anschauungsweise; aber seien Sie überzeugt, daß Schatow so gut wie keine Ausgaben haben wird, wenn er sich nur ein klein wenig aus einem phantastischen Herrn in einen vernünftig denkenden Menschen verwandeln wollte. Es ist nur nötig, daß er keine Dummheiten begeht, nicht einen Heidenlärm macht und nicht atemlos durch die Stadt galoppiert. Wenn man ihn nicht an der Hand festhält, wird er bis zum Morgen womöglich alle hiesigen Ärzte in Bewegung setzen; alle Hunde hat er in meiner Straße schon in Aufregung gebracht. Ärzte sind gar nicht nötig; ich habe schon gesagt, daß ich für alles garantiere. Eine alte Frau kann meinetwegen noch zur Bedienung angenommen werden; das kostet kaum etwas. Übrigens kann er auch selbst zu dieser oder jener Dienstleistung herangezogen werden; er braucht ja doch nicht bloß Dummheiten zu machen. Er hat Hände und Füße; da kann er nach der Apotheke laufen, ohne daß Ihre Gefühle durch eine Wohltat verletzt werden. Und zum Teufel, wie kann da überhaupt von Wohltat die Rede sein? Hat er Sie nicht in diese Lage gebracht? Hat er Sie nicht mit jener Familie entzweit, wo Sie als Gouvernante in Stellung waren, mit der egoistischen Absicht, Sie zu heiraten? Das haben wir ja gehört ... Übrigens ist er doch auch selbst vorhin zu mir gerannt gekommen und hat ein Geschrei gemacht, daß man es durch die ganze Straße hörte. Ich dränge mich niemandem auf und bin einzig und allein Ihretwegen gekommen, aus Prinzip, weil wir Gesinnungsgenossen alle solidarisch miteinander verbunden sind; ich habe ihm das erklärt, noch ehe ich das Haus verließ. Wenn ich Ihrer Ansicht nach hier überflüssig bin, so leben Sie wohl; ich wünsche nur, daß kein Unglück daraus entsteht, das doch so leicht zu verhüten wäre.«

Sie stand sogar vom Stuhle auf.

Marja war so hilflos, litt so schwer und, um die Wahrheit zu sagen, fürchtete sich so sehr vor dem, was ihr bevorstand, daß sie nicht wagte, die Hebamme fortzuschicken. Aber diese Frau war ihr auf einmal verhaßt geworden: sie sprach ja von ganz fremdartigen Dingen, gar nicht von dem, was Marjas Seele erfüllte! Aber die Prophezeiung von einem möglichen Tode unter den Händen einer unerfahrenen Helferin besiegte den Widerwillen. Dafür wurde sie gegen Schatow von diesem Augenblicke an noch anspruchsvoller, noch schonungsloser. Es ging schließlich so weit, daß sie ihm nicht nur verbot, sie anzusehen, sondern sogar, mit dem Gesichte nach ihr hin dazustehen. Die Schmerzen wurden heftiger. Die Verwünschungen und Scheltworte wurden immer grimmiger.

»Ach was, wir wollen ihn hinausschicken,« entschied Arina Prochorowna kurz. »Er sieht ja ganz entstellt aus und erschreckt Sie nur; leichenblaß ist er geworden! Sagen Sie nur, Sie lächerlicher, wunderlicher Mensch, was ist Ihnen denn eigentlich? Ist das eine Komödie!«

Schatow antwortete nicht; er hatte sich dafür entschieden, keine Antworten zu geben.

»Ich habe ja auch sonst schon in solchen Fällen dumme Väter gesehen, die ebenfalls den Verstand verloren hatten. Aber die waren doch wenigstens ...«

»Hören Sie auf, oder gehen Sie weg und lassen Sie mich krepieren! Reden Sie kein Wort weiter! Ich will es nicht, ich will es nicht!« schrie Marja.

»Kein Wort zu reden ist unmöglich; das müssen Sie einsehen, wenn Sie nicht selbst den Verstand verloren haben; aber das scheint mir fast der Fall zu sein. Wenigstens muß ich doch über das Sachliche sprechen: sagen Sie, haben Sie etwas vorbereitet? Antworten Sie, Schatow; Ihrer Frau ist nicht danach zumute.«

»Sagen Sie, was denn eigentlich erforderlich ist!«

»Das heißt also, es ist nichts vorbereitet.«

Sie zählte alles unbedingt Nötige auf, und man muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie sich auf das Allernotwendigste beschränkte, was selbst bei Bettlern nicht entbehrt werden kann. Einzelnes fand sich in Schatows Besitz. Marja zog einen Schlüssel heraus und reichte ihn ihm, damit er in ihrer Reisetasche nachsuche. Da ihm die Hände zitterten, so mühte er sich ungebührlich lange mit dem Öffnen des ihm unbekannten Schlosses ab. Marja geriet außer sich; aber als Arina Prochorowna hinzusprang, um ihm den Schlüssel wegzunehmen, erlaubte sie ihr unter keinen Umständen, einen Blick in die Reisetasche zu werfen, und bestand mit eigensinnigem Geschrei und Weinen darauf, nur Schatow solle die Tasche öffnen.

Nach einigen Sachen mußte bei Kirillow Nachfrage gehalten werden. Aber kaum wendete sich Schatow um, um hinzugehen, als sie ihn sogleich zornig zurückrief und sich erst dann beruhigte, als er schleunigst von der Treppe zurückkehrte und ihr erklärte, er gehe nur für einen Augenblick weg, um das Notwendigste zu holen, und werde sofort wiederkommen.

»Na, Ihnen etwas recht zu machen ist aber schwer, meine Dame,« bemerkte Arina Prochorowna lachend. »Bald soll er mit dem Gesichte nach der Wand zu stehen und sich nicht erlauben, Sie anzusehen, bald soll er sich nicht einmal auf einen Augenblick entfernen, sonst fangen Sie an zu weinen. Er muß ja dabei schließlich auf eigentümliche Gedanken kommen. Na, na, seien Sie nur nicht eigensinnig, und wischen Sie sich nicht die Augen; ich spaße ja nur.«

»Er soll überhaupt nichts denken.«

»Papperlapapp! Wenn er nicht in Sie verliebt wäre wie ein Bock, so wäre er nicht im Galopp durch die Straßen gelaufen und hätte nicht alle Hunde in der Stadt in Aufregung gebracht. Bei mir hat er ein Fenster zerschlagen.«

 

V

Schatow traf Kirillow, wie er immer noch im Zimmer von einer Ecke nach der andern ging; er war aber dabei so zerstreut, daß er sogar die Ankunft von Schatows Frau vergessen hatte und diesen reden hörte, ohne ihn zu verstehen.

»Ach ja,« erinnerte er sich auf einmal, wie wenn er sich mit Anstrengung und nur für einen Augenblick aus dem Banne eines ihn völlig beherrschenden Gedankens losrisse; »ja ... eine Alte ... die Frau oder eine Alte? Warten Sie mal: sowohl die Frau als auch eine Alte, nicht wahr? Ich erinnere mich; ich bin hingegangen; eine Alte wird kommen, nur nicht sofort. Da, nehmen Sie das Kissen! Noch etwas? Ja ... Warten Sie mal, Schatow: haben Sie manchmal Augenblicke ewiger Harmonie?«

»Wissen Sie, Kirillow, das geht nicht länger, daß Sie in der Nacht nicht schlafen.«

Kirillow kam nun zu sich und redete jetzt sonderbarerweise weit zusammenhängender als sonst je; offenbar hatte er all diese Gedanken schon längst in bestimmte Form gebracht und vielleicht aufgeschrieben:

»Es gibt Sekunden (es sind ihrer auf einmal immer nur fünf oder sechs), in denen man plötzlich die Gegenwart der vollständig erreichten ewigen Harmonie fühlt. Das ist nichts Irdisches; ich sage nicht, daß es etwas Himmlisches wäre, wohl aber, daß der Mensch in irdischer Gestalt es nicht ertragen kann. Er muß sich physisch umgestalten oder sterben. Dieses Gefühl ist klar und unbestreitbar. Man empfindet gewissermaßen plötzlich die ganze Natur und sagt: ›Ja, das ist recht.‹ Als Gott die Welt schuf, da sagte er am Ende jedes Schöpfungstages: ›Ja, das ist recht, das ist gut.‹ Das ... das ist nicht Rührung, sondern einfach nur Freude. Man verzeiht nichts, weil es nichts zu verzeihen gibt. Man liebt eigentlich auch nicht; oh, diese Empfindung ist höher als die Liebe! Das Furchtbarste ist, daß diese Empfindung so schrecklich klar und eine solche Freude ist. Wenn sie noch fünf Sekunden länger dauerte, so würde die Seele es nicht aushalten und müßte vergehen. In diesen fünf Sekunden durchlebe ich ein Leben, und ich würde für sie mein ganzes Leben hingeben, weil sie das wert sind. Um zehn Sekunden zu ertragen, muß man sich physisch umgestalten. Ich glaube, der Mensch muß aufhören zu zeugen und zu gebären. Wozu Kinder, wozu eine weitere Entwickelung, wenn doch das Ziel erreicht ist? Im Evangelium heißt es, daß die Menschen in der Auferstehung nicht zeugen und gebären werden, sondern sein werden wie Engel Gottes. Das ist ein Fingerzeig. Ihre Frau kommt nieder?«

»Kirillow, haben Sie dieses Gefühl oft?«

»Alle drei Tage einmal, alle Woche einmal.«

»Leiden Sie nicht an Epilepsie?«

»Nein.«

»Dann werden Sie sie noch bekommen. Nehmen Sie sich in acht, Kirillow; ich habe gehört, daß die Epilepsie genau in dieser Weise beginnt. Mir hat ein Epileptiker diese einem Anfalle vorhergehende Empfindung eingehend geschildert, genau so wie Sie; auch er gab als Zeitdauer fünf Sekunden an und sagte, mehr könne man nicht ertragen. Denken Sie an Muhammeds Krug, der nicht völlig ausfloß, während der Prophet auf seinem Rosse das Paradies durchflog. Der Krug, das sind eben jene fünf Sekunden; und das Paradies erinnert sehr an Ihre Harmonie; Muhammed aber war Epileptiker. Nehmen Sie sich vor der Epilepsie in acht, Kirillow!«

»Die kommt zu spät!« erwiderte Kirillow mit stillem Lächeln.

 

VI

Die Nacht verging. Schatow wurde gescholten, fortgeschickt, wieder zurückgerufen. Marjas Angst um ihr Leben stieg auf den höchsten Grad. Sie schrie, sie wolle »unbedingt, unbedingt« leben und fürchte sich zu sterben: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« wiederholte sie einmal über das andere. Wäre nicht Arina Prochorowna dagewesen, so würde die Sache einen sehr schlimmen Verlauf genommen haben. Allmählich gewann diese vollständig die Herrschaft über ihre Patientin. Letztere hörte wie ein kleines Kind auf jedes Wort und jeden Ruf von ihr. Arina Prochorowna wirkte durch Strenge, nicht durch Freundlichkeit, verrichtete aber ihre Obliegenheiten meisterhaft. Es begann zu dämmern. Arina Prochorowna erwähnte auf einmal, daß Schatow soeben auf die Treppe hinausgelaufen war, um zu beten, und sie fing an zu lachen. Marja lachte ebenfalls in einer boshaften, giftigen Art, als ob ihr von diesem Lachen leichter ums Herz würde. Zuletzt wurde Schatow ganz und gar hinausgejagt. Ein feuchter, kalter Morgen brach an. Schatow drückte sich mit dem Gesichte gegen die Wand, in die Ecke, genau so wie tags zuvor, als Erkel gekommen war. Er zitterte wie Espenlaub und fürchtete sich davor, etwas zu denken; aber sein Geist klammerte sich in Gedanken an alles, was sich ihm darbot, gerade wie es im Traum zu geschehen pflegt. Zukunftsphantasien schlugen ihn fortwährend in ihren Bann und zerrissen wieder fortwährend wie mürbe Fäden. Aus dem Zimmer erscholl endlich kein Stöhnen mehr, sondern ein furchtbares, rein tierisches Geschrei, das gar nicht zu ertragen war. Er wollte sich die Ohren zustopfen; aber er konnte es nicht und fiel auf die Knie, indem er bewußtlos wiederholte: »Marja, Marja!« Und siehe da, endlich erscholl ein Schrei, ein neuer Schrei, bei welchem Schatow zusammenfuhr und von den Knien aufsprang, der schwache, abgebrochene Schrei eines kleinen Kindes! Er bekreuzte sich und lief ins Zimmer. In Arina Prochorownas Händen schrie und zappelte mit den winzigen Händchen und Füßchen ein kleines, rotes, runzeliges Wesen, das erschreckend hilflos und wie ein Stäubchen vom ersten besten Windstoße abhängig war, aber doch schrie und sich kundgab, als hätte es ebenfalls ein volles Recht auf das Leben ... Marja lag wie bewußtlos da; aber eine Minute darauf schlug sie die Augen auf und sah Schatow ganz seltsam an: das war ein ganz neuartiger Blick; was für ein Blick es eigentlich war, das vermochte er noch nicht zu begreifen; aber nach seiner Erinnerung hatte er einen solchen Blick früher an ihr noch nie kennen gelernt.

»Ein Knabe? Ein Knabe?« fragte sie Arina Prochorowna mit schwacher Stimme.

»Ja, ein Knabe!« rief diese zur Antwort, während sie das Kind wickelte.

Als sie damit fertig war und sich anschickte, das Kind zwischen zwei Kissen quer über das Bett zu legen, gab sie es Schatow einen Augenblick zum Halten. Marja gab ihm gewissermaßen verstohlen, als fürchte sie sich vor Arina Prochorowna, einen Wink mit dem Kopfe. Dieser verstand sie sofort und trug ihr das Kind hin, um es ihr zu zeigen.

»Wie hübsch ... er ist ...« flüsterte sie lächelnd mit matter Stimme.

»Nein, aber wie sehen Sie aus!« rief die triumphierende Arina Prochorowna fröhlich lachend, als sie Schatows Gesicht erblickte. »Was machen Sie für ein Gesicht!«

»Lachen Sie nur darüber, Arina Prochorowna ... Das ist eine große Freude ...« stammelte Schatow mit idiotenhaft glückseliger Miene; nach den wenigen Worten, die Marja über das Kind gesagt hatte, strahlte er über das ganze Gesicht.

»Wieso ist denn das für Sie eine so große Freude?« fragte Arina Prochorowna belustigt, während sie eifrig herumhantierte und arbeitete wie eine Zuchthäuslerin.

»Es ist das Geheimnis des Erscheinens eines neuen Wesens, ein großes, unerklärliches Geheimnis, Arina Prochorowna; wie schade, das Sie dafür kein Verständnis haben!«

Und dann murmelte er unzusammenhängend, ganz benommen und verzückt vor sich hin. Die Gedanken schienen in seiner Seele hin und her zu wogen und ihr unwillkürlich zu entströmen.

»Es waren zwei Menschen, und auf einmal ist ein dritter Mensch da, ein neuer, ganzer, vollständiger Geist, wie er aus Menschenhänden nicht hervorgehen kann; eine neue Denkkraft und eine neue Liebe; es ist geradezu furchtbar ... Und es gibt nichts Höheres auf der Welt!«

»Was schwatzen Sie da zusammen! Es ist einfach die Weiterentwickelung eines Organismus, und weiter ist nichts dabei, kein Geheimnis!« sagte Arina Prochorowna mit herzlichem, fröhlichem Lachen. »Auf die Art wäre ja jede Fliege ein Geheimnis. Aber ich will Ihnen etwas sagen: überflüssige Menschen sollten nicht geboren werden. Gestaltet zunächst alles auf der Welt um, damit sie nicht überflüssig sind, und dann erzeugt sie! So aber wollen wir ihn übermorgen ins Kinderasyl bringen ... Übrigens ist das auch notwendig.«

»Niemals soll er von mir weg in das Kinderasyl gebracht werden!« erklärte Schatow, auf den Fußboden starrend, in festem Tone.

»Sie werden ihn adoptieren?«

»Er ist so schon mein Sohn.«

»Gewiß, er ist ein Schatow, nach dem Gesetz ist er ein Schatow, und Sie sind nicht in der Lage, sich als Wohltäter des Menschengeschlechtes aufzuspielen. Bei manchen Leuten geht es eben ohne Phrasen nicht ab. Na, nun gut; aber jetzt will ich Ihnen etwas sagen, meine Herrschaften,« fügte sie hinzu, da sie endlich mit ihrer geschäftigen Tätigkeit fertig war: »ich muß jetzt gehen. Ich werde im Laufe des Vormittags noch einmal herankommen und ebenso am Abend, wenn es nötig sein sollte; jetzt aber, da alles so glücklich vonstatten gegangen ist, muß ich zu anderen gehen, die schon lange warten. Sie haben da schon irgendwo eine alte Frau sitzen, Schatow; das ist ja ganz gut; aber verlassen auch Sie, als lieber Gatte, die Wöchnerin nicht! Setzen Sie sich da neben sie; vielleicht können Sie ihr von Nutzen sein; Marja Ignatjewna wird Sie ja wohl nicht wegjagen ... nun, nun, ich scherze ja nur ...«

Am Tore, wohin Schatow sie begleitete, fügte sie noch für ihn allein hinzu:

»Sie haben mir für das ganze Leben Stoff zum Lachen gegeben; Geld werde ich von Ihnen nicht nehmen; selbst im Traum werde ich lachen. Etwas Komischeres, als Sie in dieser Nacht, habe ich noch nie gesehen.«

Sie ging ganz zufrieden weg. Nach Schatows Miene und Worten schien es ihr sonnenklar, daß dieser Mensch »den Vater spielen werde und ein Waschlappen erster Güte sei«. Obgleich sie auf direktem Wege näher hätte zu einer anderen Patientin gehen können, ging sie doch absichtlich erst nach ihrer Wohnung heran, um ihrem Manne davon Mitteilung zu machen.

»Marja, sie hat dir befohlen, mit dem Schlafen noch eine Weile zu warten, obgleich dir das, wie ich sehe, furchtbar schwer wird ...« begann Schatow schüchtern. »Ich werde mich hier ans Fenster setzen und auf dich achtgeben, nicht wahr?«

Und er setzte sich ans Fenster hinter das Sofa, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Aber es war noch keine Minute vergangen, als sie ihn zu sich rief und ihn mürrisch ersuchte, ihr Kopfkissen zurechtzulegen. Er begann, das zu tun. Sie blickte ärgerlich nach der Wand.

»Nicht so, ach, nicht so ... Was haben Sie für ungeschickte Hände!«

Schatow legte es noch einmal zurecht.

»Beugen Sie sich zu mir herunter!« sagte sie auf einmal in seltsamem Tone, indem sie sich nach Möglichkeit bemühte, ihn nicht anzusehen.

Er fuhr zusammen, beugte sich aber herab.

»Noch weiter ... nicht so ... näher!« Und auf einmal schlang sich ihr linker Arm ungestüm um seinen Hals, und er fühlte auf seiner Stirn einen kräftigen, herzlichen Kuß.

»Marja!«

Ihre Lippen bebten; sie suchte sich zu beherrschen; aber plötzlich richtete sie sich auf und sagte mit funkelnden Augen:

»Nikolai Stawrogin ist ein Schuft!«

Und kraftlos, wie niedergemäht, fiel sie mit dem Gesicht auf das Kissen, schluchzte krampfhaft und drückte Schatows Hand fest in der ihrigen zusammen.

Von diesem Augenblicke an ließ sie ihn nicht mehr von sich; sie verlangte, daß er neben ihr am Kopfende sitzen solle. Sprechen konnte sie nur wenig; aber sie blickte immer nach ihm hin und lächelte ihm glückselig zu. Sie hatte sich auf einmal in eine Art von Törin verwandelt. Alles schien umgewandelt zu sein. Schatow weinte bald wie ein kleiner Knabe, bald redete er Gott weiß was in seltsamer, nebelhafter, begeisterter Art; er küßte ihr die Hände; sie hörte ihm entzückt zu, vielleicht ohne ihn zu verstehen; aber sie spielte mit ihrer matten Hand freundlich in seinem Haar, streichelte es und betrachtete es mit Wohlgefallen. Er sprach ihr von Kirillow und davon, daß sie jetzt für alle Zeit ein neues Leben beginnen würden, und von der Existenz Gottes und davon, daß alle Menschen gut seien ... In ihrem Entzücken nahmen sie das Kindchen wieder heraus, um es zu betrachten.

»Marja!« rief er, während er das Kindchen auf den Händen hielt, »nun hat der alte Fieberwahn und die Schmach und der seelische Tod ein Ende! Laß uns arbeiten und zu dreien einen neuen Weg wandeln, ja, ja! ... Ach ja: wie wollen wir ihn denn nennen, Marja?«

»Nennen? Wie wir ihn nennen wollen?« fragte sie erstaunt zurück, und plötzlich malte sich auf ihrem Gesichte eine furchtbare Traurigkeit.

Sie schlug die Hände zusammen, blickte Schatow vorwurfsvoll an und warf sich mit dem Gesichte auf das Kissen.

»Marja, was ist dir?« rief er betrübt und erschrocken.

»Und Sie konnten, Sie konnten – Oh, Sie Undankbarer!«

»Marja, verzeih mir, Marja ... Ich fragte nur, wie wir ihn nennen wollen. Ich weiß nicht ...«

»Iwan, Iwan,« erwiderte sie und hob ihr glühendes, tränenfeuchtes Gesicht in die Höhe. »Konnten Sie wirklich denken, daß wir ihm einen andern, einen schrecklichen Namen geben könnten?«

»Marja, beruhige dich! Oh, wie reizbar du bist!«

»Das ist eine neue Grobheit, daß Sie das auf Reizbarkeit zurückführen. Ich möchte wetten, daß, wenn ich jenen schrecklichen Namen für ihn in Vorschlag gebracht hätte, Sie sogleich einverstanden gewesen wären, ja es nicht einmal beachtet hätten! O wie undankbar, wie niedrig denkend alle sind, alle!«

Nach einer Minute hatten sie sich natürlich versöhnt. Schatow redete ihr zu zu schlafen. Sie schlief ein, ließ aber seine Hand immer noch nicht aus der ihrigen, wachte häufig auf, blickte ihn an, als fürchte sie, daß er weggehe, und schlief dann wieder ein.

Kirillow schickte die alte Frau, »um zu gratulieren«, und außerdem heißen Tee, frisch gebratene Koteletts und Bouillon mit Weißbrot »für Marja Ignatjewna«. Die Kranke trank gierig die Bouillon; die Alte legte das Kind in Windeln; Marja veranlaßte auch Schatow, ein Kotelett zu essen.

Die Zeit verging. Auch Schatow schlief kraftlos auf seinem Stuhle ein, mit dem Kopfe auf Marjas Kissen. So fand die beiden Arina Prochorowna vor, welche Wort gehalten hatte; sie weckte sie fröhlich, besprach mit Marja das Nötige, besah das Kind und sagte wieder zu Schatow, er solle bei der Kranken bleiben. Dann machte sie über die »Eheleute« ein paar Witzchen, die einen Beigeschmack von Geringschätzung und Hochmut hatten, und ging ebenso zufrieden fort wie das erstemal.

Es war schon ganz dunkel, als Schatow aufwachte. Er zündete schnell Licht an und lief weg, um die alte Frau zu holen; aber kaum fing er an, die Treppe hinabzusteigen, als er zu seiner Verwunderung die leisen, langsamen Schritte eines ihm entgegen Heraufsteigenden hörte. Es war Erkel.

»Ich kann Sie nicht ins Zimmer lassen!« flüsterte Schatow, ergriff ihn hastig bei der Hand und zog ihn nach dem Tore zurück. »Warten Sie hier; ich komme gleich heraus; ich hatte Sie vollständig vergessen. Oh, unter welchen Umständen bringen Sie sich wieder in Erinnerung!«

Er beeilte sich so sehr, daß er nicht einmal zu Kirillow heranlief, sondern nur die alte Frau rief. Marja geriet in Verzweiflung und Entrüstung darüber, daß er »auch nur daran denken konnte, sie allein zu lassen«.

»Aber«, rief er ganz glückselig, »das ist auch der letzte Schritt, den ich auf der alten Bahn tue! Und dann liegt ein neuer Weg vor uns, und niemals, niemals werden wir an die alte schreckliche Zeit zurückdenken!«

Er beruhigte sie mit Not und Mühe und versprach, pünktlich um neun Uhr zurück zu sein, küßte sie herzlich, küßte das Kind und lief schnell hinunter zu Erkel.

Sie schlugen die Richtung nach dem Stawroginschen Parke in Skworeschniki ein, wo Schatow vor anderthalb Jahren an einem einsamen Platze, ganz am Rande des Parks, da, wo bereits ein Fichtenwald anfing, die ihm anvertraute Druckerei vergraben hatte. Es war ein wilder, abgelegener Ort, ganz unbemerkbar, von dem Gutsgebäude ziemlich weit entfernt. Von dem Filippowschen Hause hatten sie etwa drei und eine halbe Werst zu gehen, vielleicht auch vier.

»Wollen wir denn den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen?« fragte Schatow. »Ich werde eine Droschke nehmen.«

»Ich bitte Sie dringend, das nicht zu tun,« erwiderte Erkel. »Die Unsrigen haben das ausdrücklich verlangt. Ein Droschkenkutscher würde ein Zeuge sein.«

»Na, hol's der Teufel, meinetwegen! Es ist ja ganz gleich, wenn die Sache nur zu Ende kommt, endlich zu Ende kommt!«

Sie gingen sehr schnell.

»Erkel, Sie kleiner Knabe!« rief Schatow. »Sind Sie einmal glücklich gewesen?«

»Sie sind, wie es scheint, jetzt sehr glücklich,« bemerkte Erkel mit lebhaftem Interesse.


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