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Der Schluß des Festes
Er nahm meinen Besuch nicht an. Er hatte sich eingeschlossen und schrieb. Auf mein wiederholtes Klopfen und Rufen antwortete er durch die Tür:
»Mein Freund, ich habe meine Rechnung ganz abgeschlossen; wer kann noch etwas von mir fordern?«
»Sie haben keine Rechnung abgeschlossen, sondern nur dazu beigetragen, daß alles zusammengestürzt ist. Um Gottes willen, lassen Sie die witzigen Redensarten, Stepan Trofimowitsch, und machen Sie auf! Wir müssen Maßregeln ergreifen; am Ende kommen Ihre Feinde noch her und beleidigen Sie ...«
Ich hielt mich für berechtigt, besonders nachdrücklich und sogar gebieterisch zu reden. Ich fürchtete, er werde irgend etwas noch Sinnloseres unternehmen. Aber zu meiner Verwunderung stieß ich bei ihm auf eine ungewöhnliche Festigkeit.
»Seien Sie nicht der erste, der mich beleidigt! Ich danke Ihnen für alles Frühere; aber ich wiederhole: ich habe meine Rechnung mit den Menschen ganz abgeschlossen, mit den guten und mit den bösen. Ich schreibe einen Brief an Darja Pawlowna, die ich bisher in so unverzeihlicher Weise vergessen habe. Tragen Sie ihn ihr morgen hin, wenn Sie wollen; aber jetzt: merci!«
»Stepan Trofimowitsch, ich versichere Sie: die Sache ist ernster, als Sie meinen. Sie meinen, Sie hätten dort jemanden zermalmt? Sie haben niemanden zermalmt, sondern sind selbst zerschlagen worden wie ein leeres Fläschchen« (oh, ich war grob und unhöflich; ich erinnere mich daran mit Betrübnis!). »An Darja Pawlowna zu schreiben haben Sie schlechterdings keinen Anlaß ... und was werden Sie jetzt ohne meinen Beistand anfangen? Was verstehen Sie vom praktischen Leben? Sie haben gewiß noch irgendwelche besonderen Pläne? Sie werden nur noch einmal Malheur haben, wenn Sie wieder so etwas aushecken ...«
Er stand auf und trat dicht an die Tür heran.
»Sie haben noch nicht lange mit jenen Menschen verkehrt, haben sich aber doch schon von ihrer Sprache und ihrem Tone anstecken lassen; Dieu vous pardonne, mon ami, et Dieu vous garde! Aber ich habe an Ihnen immer einen anständigen Kern bemerkt, und daher werden Sie sich vielleicht noch ändern, – après le temps natürlich, wie wir Russen alle. Was Ihre Bemerkung über mein unpraktisches Wesen anlangt, so erinnere ich Sie an einen Gedanken, den ich neulich aussprach: daß bei uns in Rußland eine Unmenge von Menschen ihr Amüsement darin finden, mit besonderem Ingrimm und mit einer Zudringlichkeit, wie Fliegen im Sommer, über das unpraktische Wesen anderer Leute herzufallen und all und jeden dieses Fehlers zu beschuldigen, nur sich selbst nicht. Cher, vergessen Sie nicht, daß ich sehr aufgeregt bin, und quälen Sie mich nicht! Noch einmal sage ich Ihnen merci für alles, und dann lassen Sie uns voneinander scheiden wie Karmasinow vom Publikum, das heißt, vergessen wir einander möglichst edelmütig! Allerdings war es von ihm nur ein schlaues Manöver, daß er seine bisherigen Leser dringend bat, ihn zu vergessen; quant à moi, so bin ich nicht so selbstsüchtig und hoffe vor allem auf die Jugendlichkeit Ihres unverdorbenen Herzens: wie sollten Sie denn lange an einen nutzlosen alten Mann denken? ›Leben Sie weiter!‹ mein Freund, wie mir das an meinem letzten Namenstage Nastasja wünschte (ces pauvres gens ont quelquefois des mots charmants et pleins de philosophie). Ich wünsche Ihnen nicht viel Glück; das Glück langweilt. Ich wünsche Ihnen auch nicht Unglück. Sondern ich wiederhole einfach gemäß der Volksphilosophie: ›Leben Sie weiter!‹ und bemühen Sie sich, sich nicht allzusehr zu langweilen! Diesen gehaltlosen Wunsch füge ich aus dem Meinigen hinzu. Nun, leben Sie wohl, leben Sie in allem Ernste wohl! Und bleiben Sie nicht an meiner Tür stehen; ich werde nicht aufschließen.«
Er ging weg, und ich erreichte nichts weiter. Trotz der von ihm erwähnten Aufregung hatte er fließend, ohne Hast und energisch gesprochen und offenbar gewünscht, auf mich Eindruck zu machen. Gewiß hatte er sich über mich ein bißchen geärgert und wollte sich nun indirekt an mir rächen, vielleicht noch wegen des gestrigen Bauernwagens und der auseinandergehenden Dielen. Die Tränen, die er am Vormittag vor dem Publikum vergossen hatte, hatten ihn trotz einer Art von Sieg dennoch (das wußte er) in eine etwas komische Situation gebracht, und es gab keinen Menschen, der um die strenge Innehaltung einer schönen Form im Verkehr mit Freunden so besorgt gewesen wäre wie Stepan Trofimowitsch. Oh, ich klage ihn nicht an! Aber diese Pedanterie und Spottlust, die sich bei ihm trotz aller Erschütterungen erhalten hatten, beruhigten mich damals: ein Mensch, der anscheinend so wenig von seinem sonstigen steten Wesen abgegangen war, konnte schließlich in diesem Augenblicke nicht zu etwas Tragischem oder Ungewöhnlichem Lust verspüren. So urteilte ich damals, und, o Gott, wie irrte ich mich! Ich hatte dabei gar zu vieles außer acht gelassen! ...
Den Ereignissen vorgreifend führe ich hier die ersten Zeilen des Briefes an Darja Pawlowna an, den diese wirklich am folgenden Tage empfing.
» Mon enfant, meine Hand zittert; aber ich habe mit allem abgeschlossen. Sie waren bei meinem letzten Zusammenstoße mit den Menschen nicht zugegen; Sie waren nicht zu dieser ›Vorlesung‹ gekommen, und Sie hatten gut daran getan. Aber man wird Ihnen erzählen, daß in unserem an Charakteren so armen Rußland ein kühner Mann aufgestanden ist und trotz der furchtbarsten Bedrohungen, mit denen er von allen Seiten überschüttet wurde, diesen Dummköpfen die Wahrheit gesagt hat, nämlich, daß sie Dummköpfe sind. O, ce sont de pauvres petits vauriens et rien de plus, de petits Dummköpfe, voilà le mot! Der Würfel ist geworfen; ich verlasse diese Stadt für immer und weiß nicht, wohin ich gehe. Alle, die ich geliebt habe, haben sich von mir abgewandt. Aber Ihnen, Sie reines, kindliches Wesen, Ihnen, Sie sanftes Geschöpf, dessen Schicksal sich nach dem Willen eines launenhaften, herrschsüchtigen Herzens beinah mit dem meinigen vereinigt hätte, Ihnen, die Sie mich vielleicht mit Geringschätzung angesehen haben, als ich kurz vor unserer nicht zustandegekommenen Ehe kleinmütige Tränen vergoß, Ihnen, die Sie, wie Sie auch immer sein mögen, mich notwendigerweise als eine komische Person betrachten müssen, o Ihnen, Ihnen gilt der letzte Aufschrei meines Herzens, gegen Sie habe ich meine letzte Pflicht zu erfüllen, nur gegen Sie! Ich kann Sie nicht für immer in der Meinung belassen, daß ich ein undankbarer Tor, ein grober Egoist sei, wie Ihnen das wahrscheinlich ein undankbares, grausames Herz, das ich leider nicht vergessen kann, täglich von mir versichert ...«
Und so weiter, und so weiter, im ganzen vier Seiten großen Formates.
Nachdem ich zur Antwort auf sein »Ich werde nicht aufschließen« dreimal mit der Faust gegen die Tür geschlagen und ihm nachgerufen hatte, er werde noch heute Nastasja dreimal zu mir schicken, um mich zu holen, ich würde aber nicht kommen, verließ ich ihn und eilte zu Julija Michailowna.
Hier wurde ich Zeuge einer aufregenden Szene: die arme Frau wurde, ihr gerade ins Gesicht, belogen und betrogen, und ich konnte nichts dabei tun. In der Tat, was konnte ich ihr sagen? Ich war schon einigermaßen zur Besinnung gekommen und zu der Anschauung gelangt, daß ich nur gewisse Empfindungen und argwöhnische Vermutungen hätte, aber weiter nichts. Ich fand sie in Tränen, beinah in Krämpfen; sie befeuchtete sich das Angesicht mit Eau de Cologne und trank ab und zu Wasser aus einem Glase. Vor ihr stand Peter Stepanowitsch, der ohne Unterbrechung redete, und der Fürst, welcher schwieg, als ob er ein Schloß vor dem Munde hätte. Mit Tränen und Geschrei machte sie Peter Stepanowitsch Vorwürfe wegen seiner »Abtrünnigkeit«. Von vorn herein überraschte es mich, daß sie den ganzen Mißerfolg, den ganzen schmählichen Verlauf dieses Vormittages, mit einem Worte alles einzig und allein darauf zurückführte, daß Peter Stepanowitsch nicht dabei gewesen war.
An ihm selbst bemerkte ich eine wichtige Veränderung: er war anscheinend über irgend etwas sehr in Sorge, ja er war beinah ernst. Gewöhnlich sah er nie ernst aus; er lachte immer, sogar wenn er ärgerlich war, und er war oft ärgerlich. Oh, er war auch jetzt ärgerlich und redete grob, nachlässig, mürrisch und ungeduldig. Er versicherte, er habe in der Wohnung Gaganows, den er zufällig früh morgens besucht habe, Kopfschmerzen und Erbrechen bekommen. Leider hatte die arme Frau die größte Lust, sich noch weiter betrügen zu lassen! Die wichtigste Frage, die bei meiner Ankunft verhandelt wurde, war, ob der Ball, das heißt die ganze zweite Hälfte des Festes, stattfinden solle oder nicht. Julija Michailowna erklärte, sie werde »nach den Beleidigungen von vorhin« um keinen Preis auf dem Balle erscheinen; mit andern Worten, sie wünschte dringend, dazu gezwungen zu werden, und zwar gerade von ihm, von Peter Stepanowitsch. Sie betrachtete ihn wie ein Orakel und würde sich, wenn er sogleich weggegangen wäre, ins Bett gelegt haben. Aber er wollte gar nicht weggehen: er selbst wollte durchaus, daß der Ball heute stattfände und Julija Michailowna unbedingt auf ihm erschiene.
»Na, was ist da zu weinen? Müssen Sie denn durchaus eine Szene machen und an jemandem Ihren Ärger auslassen? Na, lassen Sie ihn immerhin an mir aus, aber recht schnell; denn die Zeit vergeht, und wir müssen zu einem Entschlusse kommen. Haben wir mit der Vorlesung Pech gehabt, so wollen wir es mit dem Balle wieder wettmachen. Da, der Fürst ist derselben Meinung. Ja, wenn der Fürst nicht dagewesen wäre, wie wäre die Sache dann erst abgelaufen?«
Der Fürst war anfänglich gegen den Ball (das heißt gegen Julija Michailownas Erscheinen auf dem Balle; der Ball selbst mußte in jedem Falle stattfinden); aber nach zwei oder drei solchen Berufungen auf seine Meinung fing er allmählich an zum Zeichen der Zustimmung zu brummen.
In Erstaunen versetzte mich auch Peter Stepanowitschs ganz ungewöhnlich unhöflicher Ton. Oh, mit Entrüstung weise ich das nachher verbreitete gemeine Geklätsch zurück, als ob Julija Michailowna mit Peter Stepanowitsch irgendwelches Verhältnis gehabt habe. Es hat nichts Derartiges bestanden, und es konnte auch gar nichts Derartiges bestehen. Er hatte nur dadurch eine so große Macht über sie erlangt, daß er ihr gleich von Anfang an bei ihren phantastischen Hoffnungen, auf die Gesellschaft und auf das Ministerium Einfluß zu gewinnen, aus aller Kraft zugestimmt hatte, auf ihre Pläne eingegangen war, ihr solche selbst entworfen, die gröbste Schmeichelei bei ihr zur Anwendung gebracht, sie vom Kopf bis zu den Füßen umstrickt hatte und ihr so notwendig geworden war wie die Luft. Als sie mich erblickte, rief sie mit funkelnden Augen:
»Da, fragen Sie ihn! Er ist ebenfalls, gerade wie der Fürst, die ganze Zeit über nicht von meiner Seite gewichen. Sagen Sie, ist es nicht deutlich, daß das alles ein Komplott ist, ein gemeines, schlaues Komplott, um mir und Andrei Antonowitsch alles mögliche Böse anzutun? Oh, sie haben sich verschworen! Sie hatten einen bestimmten Plan. Das ist eine geschlossene Partei, eine ganze Partei!«
»Sie gehen zu weit, wie immer. Sie haben stets Phantasiegebilde im Kopfe. Ich freue mich übrigens über die Anwesenheit dieses Herrn« (er tat, als hatte er meinen Namen vergessen); »er wird Ihnen seine Ansicht sagen.«
»Meine Ansicht«, beeilte ich mich zu erwidern, »stimmt in allen Punkten mit Julija Michailownas Ansicht überein. Daß ein Komplott vorliegt, ist klar. Ich habe Ihnen diese Bänder zurückgebracht, Julija Michailowna. Ob der Ball stattfindet oder nicht, das ist natürlich nicht meine Sache, da ich darüber nichts zu sagen habe; aber meine Rolle als Festordner ist beendet. Verzeihen Sie meine Heftigkeit; aber ich kann nicht gegen die gesunde Vernunft und gegen meine Überzeugung handeln.«
»Hören Sie, hören Sie!« rief sie und schlug die Hände zusammen.
»Ich höre,« versetzte er. »Und nun ein Wort zu Ihnen,« wandte er sich an mich. »Ich glaube, Sie haben alle irgendein Tollkraut gegessen, von dem Sie so irrereden. Meiner Ansicht nach hat sich nichts zugetragen, absolut nichts, was nicht auch früher schon passiert wäre, und was nicht immer in dieser Stadt passieren könnte. Was für ein Komplott soll denn stattgefunden haben? Es ist ein häßlicher, schmählich dummer Vorfall gewesen; aber wo ist da ein Komplott zu finden? Und ein Komplott gegen Julija Michailowna, die doch gerade diese Menschen verzogen und patronisiert und ihnen all ihre leichtfertigen Streiche unverdientermaßen verziehen hat? Julija Michailowna! Was habe ich Ihnen einen ganzen Monat lang unaufhörlich wiederholt? Wovor habe ich Sie gewarnt? Wozu in aller Welt hatten Sie denn dieses ganze Pack nötig? Mußten Sie sich denn mit diesen gemeinen Menschen liieren? Um eine Vereinigung der Gesellschaft herbeizuführen? Die werden auch gerade eine Vereinigung eingehen; ich bitte Sie!«
»Wann hätten Sie mich gewarnt? Im Gegenteil, Sie haben es gebilligt; Sie haben es geradezu verlangt ... Ich muß gestehen, ich bin im höchsten Grade erstaunt ... Sie selbst haben mir viele seltsame Leute zugeführt.«
»Nein, ich habe mich mit Ihnen darüber gestritten und es nicht gebilligt; was aber das Zuführen anlangt, so ist es richtig, daß ich Ihnen welche zugeführt habe, aber erst als sie schon von selbst sich dutzendweise herandrängten, und erst in der letzten Zeit, um die literarische Quadrille zustande zu bringen; denn dabei kann man diesen Pöbel nicht entbehren. Aber ich möchte darauf wetten: heute haben diese Kerle noch ein Dutzend ebensolchen Gesindels ohne Billette mitgebracht!«
»Zweifellos!« stimmte ich ihm bei.
»Sehen Sie wohl, Sie sind schon meiner Ansicht. Erinnern Sie sich wohl, was hier in der letzten Zeit für ein Ton geherrscht hat, ich meine in der ganzen Stadt? Überall nichts als Frechheit und Schamlosigkeit; unaufhörlich wurden Skandalgeschichten ausposaunt. Und wer ermutigte dieses Treiben? Wer deckte es durch seine Autorität? Wer hat sie alle aus Rand und Band gebracht? Wer hat die ganze untere Volksklasse vor den Kopf gestoßen? In Ihrem Album sind ja alle hiesigen Familiengeheimnisse reproduziert. Haben Sie nicht Ihren Dichtern und Zeichnern den Kopf gestreichelt? Haben Sie nicht diesem Ljamschin Ihre Hand zum Küssen gereicht? Hat nicht in Ihrer Gegenwart der Seminarist den Wirklichen Staatsrat ausgeschimpft und seiner Tochter mit seinen Teerstiefeln das Kleid verdorben? Wie können Sie sich da darüber wundern, daß das Publikum unfreundlich gegen Sie gesinnt ist?«
»Aber das ist doch alles Ihr eigenes Werk! O mein Gott!«
»Nein, ich habe Sie gewarnt; wir haben uns gestritten, hören Sie wohl? Wir haben uns gestritten!«
»Sie lügen mir ja ins Gesicht!«
»Na, das können Sie allerdings leicht sagen. Sie brauchen jetzt ein Opfer, an dem Sie Ihren Ärger auslassen können; na gut, lassen Sie ihn an mir aus; ich habe es schon einmal gesagt. Ich will mich lieber an Sie wenden, mein Herr ...« (Er konnte sich gar nicht auf meinen Namen besinnen.) »Lassen Sie uns an den Fingern abzählen: ich behaupte, daß es außer Liputin keinen Verschwörer gegeben hat, ab-so-lut keinen! Das werde ich beweisen; aber sehen wir uns zunächst einmal diesen Liputin genauer an! Er hat ein Gedicht des Narren Lebjadkin vorgebracht, – ist das nun also Ihrer Ansicht nach ein Komplott? Wissen Sie, Liputin hat das möglicherweise einfach für einen Witz gehalten. Im Ernst, im Ernst, für einen Witz. Er hat das einfach in der Absicht vorgebracht, alle zu erheitern und zum Lachen zu bringen, und in erster Linie seine Gönnerin Julija Michailowna; das ist die ganze Geschichte. Glauben Sie das nicht? Na, war das denn etwa nicht in ganz demselben Tone, der hier einen ganzen Monat lang geherrscht hat? Und mit Ihrer Erlaubnis möchte ich sagen: weiß Gott, unter anderen Umständen hatte das auch vorkommen können! Der Scherz war plump, na ja, von starkem Kaliber, zugegeben, aber doch immerhin lächerlich.«
»Wie? Sie halten Liputins Benehmen für witzig?« rief Julija Michailewna in heftiger Entrüstung. »Diese Dummheit, diese Taktlosigkeit, diese schändliche Gemeinheit, dieses Attentat? Oh, Sie reden absichtlich so! Danach muß man annehmen, daß Sie selbst mit diesem Menschen im Komplott sind!«
»Unzweifelhaft; ich habe im Hintergrunde gesessen, mich versteckt gehalten und die ganze Maschinerie in Bewegung gesetzt. Aber wenn ich an einem Komplott beteiligt gewesen wäre, dann würde (das sollten Sie begreifen) die Sache mit der Liputinschen Geschichte allein nicht zu Ende gewesen sein! Also Ihrer Ansicht nach habe ich mit meinem Papa ein Komplott gemacht, damit er absichtlich einen solchen Skandal hervorrufen sollte? Na, wer ist denn schuld daran, daß Papachen eine Vorlesung halten durfte? Wer hat Sie gestern davon zurückzuhalten gesucht, noch gestern, noch gestern?«
»Oh, hier il avait tant d'esprit; ich rechnete so auf ihn; und dabei besitzt er gute Manieren: ich dachte, der und Karmasinow ... und nun!«
»Ja, und nun! Aber trotz tant d'esprit hat Papachen die Sache verdorben; wenn ich aber selbst voraus wußte, daß er die Sache verderben würde, hätte ich dann als Mitglied eines unzweifelhaft gegen Ihr Fest gerichteten Komplotts Ihnen gestern davon abgeredet, den Bock zum Gärtner zu machen? Nun aber habe ich Ihnen gestern davon abgeredet, habe Ihnen davon abgeredet, weil ich eine Ahnung hatte. Alles vorherzusehen war natürlich unmöglich: wahrscheinlich hat nicht einmal er selbst eine Minute vorher gewußt, wie er losschießen werde. Diese nervösen alten Herren haben ja gar keine Ähnlichkeit mit anderen Menschen. Aber die Sache läßt sich noch retten: schicken Sie gleich morgen zur Genugtuung des Publikums mittels administrativer Anordnung und mit aller schuldigen Rücksicht zwei Ärzte zu ihm, um seinen Gesundheitszustand festzustellen; es würde sogar heute schon gehen; und dann geradeswegs in eine Kaltwasserheilanstalt mit ihm! Wenigstens werden alle lachen und einsehen, daß sie keinen Grund haben, sich für beleidigt zu halten. Ich werde davon gleich heute auf dem Balle in meiner Eigenschaft als sein Sohn Mitteilung machen. Mit Karmasinow ist es eine andere Sache; der ist als grüner Esel aufgetreten und hat das Publikum mit seinem Opus eine ganze Stunde gelangweilt, – der ist also ohne Zweifel mit mir im Komplott! Er hat gewiß zu mir gesagt: ›Erlauben Sie, daß ich ebenfalls das Fest verderbe, um Julija Michailowna zu schaden!‹«
»Oh, Karmasinow, quelle honte! Ich wollte in den Boden sinken vor Scham über unser Publikum!«
»Na, ich wäre nicht in den Boden gesunken, sondern hätte mir Herrn Karmasinow selbst gehörig vorgenommen. Das Publikum hatte ja ganz recht. Und wer ist nun wieder an Karmasinow schuld? Habe ich ihn Ihnen ans Kleid gehängt? Habe ich mich an seiner Vergötterung beteiligt? Na, hol ihn der Teufel, aber der dritte, der politisierende Schauspieler, na, mit dem ist es etwas anderes. Dabei haben wir alle einen Bock geschossen und nicht nur mein Verschwörerbund!«
»Ach, reden Sie nicht davon; das ist ja schrecklich, ganz schrecklich! An dem bin ich allein schuld!«
»Gewiß, aber hier habe ich für Sie eine Entschuldigung in Bereitschaft. Wer in aller Welt soll sie genau kennen, diese ›Aufrichtigen‹? Selbst in Petersburg kann man sich nicht vor ihnen hüten. Er war Ihnen ja doch empfohlen, und noch dazu wie! Geben Sie also selbst zu, daß Sie jetzt sogar verpflichtet sind, auf dem Balle zu erscheinen. Denn das ist doch eine ernste Sache, daß Sie ihn selbst auf das Katheder geführt haben. Sie müssen jetzt öffentlich erklären, daß Sie mit ihm nicht solidarisch sind, daß der dreiste Mensch sich schon in den Händen der Polizei befindet, und daß Sie auf eine unbegreifliche Weise getäuscht worden sind. Sie müssen mit Entrüstung erklären, daß Sie das Opfer eines Verrückten geworden sind. Denn ein Verrückter ist er ja, weiter nichts. In diesem Sinne muß auch über ihn nach oben berichtet werden. Ich kann diese bissigen Kerle nicht ausstehen. Ich äußere mich ja selbst vielleicht noch ärger, aber doch nicht vom Katheder herab. Und gerade jetzt machen die Leute ein Gerede von einem Senator.«
»Von was für einem Senator? Wer macht Gerede?«
»Sehen Sie, ich selbst begreife nichts davon. Ist Ihnen, Julija Michailowna, nichts von einem Senator bekannt geworden?«
»Sehen Sie, die Leute sind davon überzeugt, daß in Petersburg bereits ein Senator dazu designiert ist, Sie hier abzulösen. Ich habe es von vielen gehört.«
»Ich habe es auch gehört,« bemerkte ich bestätigend.
»Wer hat das gesagt?« rief Julija Michailowna, die dunkelrot geworden war.
»Sie meinen, wer es zuerst gesagt hat? Woher soll ich das wissen? Es wird nun eben so geredet. Die ganze Einwohnerschaft redet es. Namentlich gestern wurde es gesagt. Alle waren dabei ganz ernst, obgleich man daraus nicht recht klug werden kann. Freilich, die Verständigeren, Sachkundigeren reden dabei nicht mit; aber auch von denen hören manche zu.«
»Was für eine Gemeinheit! Und – was für eine Dummheit!«
»Na, eben deswegen müssen Sie auf dem Balle erscheinen, um es diesen Dummköpfen zu zeigen.«
»Ich muß gestehen, ich habe selbst die Empfindung, daß ich dazu sogar verpflichtet bin; aber ... wie, wenn ein anderer Schimpf meiner wartet? Wie nun, wenn die Leute nicht kommen? Und es wird ja niemand kommen, niemand, niemand!«
»Unnötige Sorge! Die werden nicht kommen? Und die Kleider, die sie sich haben machen lassen, und die Toiletten der jungen Mädchen? Wenn Sie so reden, kann ich Sie gar nicht mehr für eine Frau halten. Ist das eine Menschenkenntnis!«
»Die Frau Adelsmarschall wird nicht da sein; sie wird bestimmt nicht da sein!«
»Aber was ist denn im Grunde passiert, weswegen man wegbleiben sollte?« rief er endlich ärgerlich und ungeduldig.
»Eine Blamage, eine Schande, – das ist passiert! Was eigentlich passiert ist, weiß ich nicht genau; aber jedenfalls war es etwas Derartiges, daß ich nun unmöglich hingehen kann.«
»Warum nicht? Was können Sie denn schließlich dafür? Warum nehmen Sie die Schuld auf sich? Ist nicht weit eher das Publikum schuld, die alten Herren, die Familienväter? Die mußten die Taugenichtse und Herumtreiber im Zaume halten; denn um Taugenichtse und Herumtreiber handelt es sich dabei einzig und allein, nicht um irgendwelche ernst zu nehmenden Elemente. In keiner Gesellschaft und nirgends läßt sich lediglich durch die Polizei zurechtkommen. Aber bei uns verlangt jeder, wenn er hereinkommt, daß hinter ihm ein besonderer Polizist aufgestellt wird, um ihn zu behüten. Die Leute begreifen nicht, daß die Gesellschaft sich selbst beschützen muß. Aber was tun bei uns die Familienväter, die Würdenträger, die Frauen und Mädchen in solchen Fällen? Sie schweigen und fühlen sich gekränkt. Nicht einmal dazu reicht die Willenskraft der Gesellschaft aus, solche Schlingel im Zaum zu halten.«
»Ach wie wahr, wie wahr! Sie schweigen, fühlen sich gekränkt und sehen sich um.«
»Wenn das aber wahr ist, dann müssen Sie es auch dort aussprechen, laut, stolz und streng. Sie müssen gerade zeigen, daß Sie nicht geschlagen sind. Gerade diesen alten Herren und den Müttern. Oh, Sie verstehen sich darauf, Sie haben Talent dazu, wenn Ihr Kopf klar ist. Sie werden alle um sich herumgruppieren und dann laut, ganz laut reden. Und dann schicken wir eine Korrespondenz an den Golos und die Börsennachrichten. Petersburger Zeitungen, von denen namentlich der Golos eine entschieden liberale Richtung vertrat. Anmerkung des Übersetzers. Warten Sie, ich werde mich selbst an die Arbeit machen und Ihnen alles arrangieren. Natürlich wird erhöhte Aufmerksamkeit vonnöten sein; wir werden das Büfett beobachten müssen; wir müssen den Fürsten bitten und diesen Herrn hier ... Sie dürfen uns nicht im Stich lassen, monsieur, jetzt, wo alles eigentlich von neuem beginnen soll. Na, und zuletzt erscheinen Sie an Andrei Antonowitschs Arm. Wie steht es mit Andrei Antonowitschs Befinden?«
»O wie ungerecht, wie falsch, wie beleidigend haben Sie immer über diesen engelhaften Menschen geurteilt!« rief Julija Michailowna plötzlich in einem unerwarteten Ausbruch ihrer Empfindungen; sie brach beinahe in Tränen aus und führte das Taschentuch an die Augen.
Peter Stepanowitsch konnte im ersten Augenblick nur stottern:
»Ich bitte Sie, ich ... aber wieso denn ... ich habe immer ...«
»Nein, niemals, niemals! Sie haben ihm niemals Gerechtigkeit widerfahren lassen!«
»Aus einer Frau kann man doch nie klug werden!« brummte Peter Stepanowitsch mit einem schiefen Lächeln.
»Er ist der redlichste, zartfühlendste, engelhafteste Mensch! Der beste Mensch!«
»Aber ich bitte Sie, was seine Herzensgüte anlangt ... ich habe seine Herzensgüte immer anerkannt ...«
»Niemals! Aber lassen wir das! Ich habe ihn früher immer nur in sehr ungeschickter Weise in Schutz genommen. Vorhin hat diese Jesuitin, die Frau Adelsmarschall, ebenfalls ein paar spöttische Bemerkungen über die Geschichte von gestern fallen lassen.«
»Oh, jetzt wird sie keine Lust mehr haben, Bemerkungen über gestrige Geschehnisse zu machen; sie hat heute ihr eigenes Erlebnis. Und warum beunruhigen Sie sich so darüber, daß sie nicht auf den Ball kommen wird? Kommen wird sie allerdings nicht, nachdem sie in eine solche Skandalgeschichte hineingeraten ist. Vielleicht trägt sie dabei keine Schuld; aber für ihren Ruf ist es doch sehr nachteilig; sie hat eben schmutzige Hände bekommen.«
»Was bedeutet das? Ich verstehe das nicht. Wieso hat sie schmutzige Hände bekommen?« fragte Julija Michajlowna, ihn erstaunt anblickend.
»Das heißt, ich behaupte es nicht; aber in der Stadt sagt man allgemein, sie habe die beiden zusammengebracht.«
»Was bedeutet das? Wen zusammengebracht?«
»Aber wissen Sie denn etwa noch nichts davon?« rief er mit vorzüglich fingiertem Erstaunen. »Nun, Stawrogin und Lisaweta Nikolajewna!«
»Wie? Was?« riefen wir beide.
»Aber wissen Sie es wirklich nicht? Hui! Da hat sich ein tragischer Roman abgespielt: Lisaweta Nikolajewna ist aus dem Wagen der Frau Adelsmarschall direkt in Stawrogins Kutsche umgestiegen und mit diesem Letzteren nach Skworeschniki gefahren, am hellen Tage. Erst vor einer Stunde; es ist noch nicht einmal eine Stunde her.«
Wir waren starr. Selbstverständlich bestürmten wir ihn mit weiteren Fragen; aber obgleich er selbst »zufällig« Zeuge des Vorganges gewesen war, konnte er doch zu unserer Verwunderung nichts Genaueres darüber erzählen. Die Sache hatte sich angeblich folgendermaßen zugetragen: als die Frau Adelsmarschall nach der Vorlesung Lisa und Mawriki Nikolajewitsch in ihrem Wagen zu dem Hause von Lisas noch immer fußkranker Mutter gebracht hatte, da hatte nicht weit von der Haustür, etwa fünfundzwanzig Schritte entfernt, seitwärts ein anderer Wagen gewartet. Sobald Lisa an der Haustür hinausgesprungen war, war sie geradeswegs zu diesem Wagen hingelaufen; der Schlag war geöffnet und dann wieder zugeschlagen worden; Lisa hatte Mawriki Nikolajewitsch zugerufen: »Kümmern Sie sich nicht um mich!« und der Wagen war im schnellsten Tempo nach Skworeschniki gefahren. Auf unsere hastigen Fragen, ob eine Verabredung vorgelegen habe, und wer in dem Wagen gesessen habe, antwortete Peter Stepanowitsch, er wisse das nicht; eine Verabredung habe gewiß vorgelegen; aber Stawrogin selbst habe er im Wagen nicht bemerkt; vielleicht habe dessen Kammerdiener, der alte Alexei Jegorowitsch, darin gesessen. Auf die Fragen: »Wie kam es denn, daß Sie gerade dabei waren? Und woher wissen Sie denn so bestimmt, daß sie nach Skworeschniki gefahren ist?« antwortete er, er sei dort zufällig vorbeigekommen und, als er Lisa erblickt habe, sogar an den Wagen herangelaufen (und doch hatte er nicht bemerkt, wer in dem Wagen saß, er bei seiner Neugier!); aber Mawriki Nikolajewitsch habe nicht nur keine Verfolgung unternommen, sondern nicht einmal versucht, Lisa zurückzuhalten; ja er habe sogar der Frau Adelsmarschall, die aus voller Kehle geschrien habe: »Sie will zu Stawrogin, sie will zu Stawrogin!« mit der Hand den Mund zugehalten. Hier verlor ich plötzlich die Geduld und schrie Peter Stepanowitsch wütend an:
»Das haben Sie Taugenichts alles angestiftet! Darauf haben Sie den Vormittag verwendet! Sie haben Stawrogin geholfen; Sie sind in dem Wagen hingefahren; Sie haben sie einsteigen lassen, Sie, Sie, Sie! Julija Michailowna, dieser Mensch ist Ihr Feind; er wird auch Sie zugrunde richten! Nehmen Sie sich vor ihm in acht!«
Und ich lief Hals über Kopf aus dem Hause.
Ich verstehe bis jetzt noch nicht und wundere mich selber darüber, wie ich ihm dies damals habe zuschreien können. Aber ich hatte ganz richtig geraten: alles war fast genau so zugegangen, wie ich es zu ihm gesagt hatte; das hat sich in der Folge herausgestellt. Sehr auffällig war vor allen Dingen die offenbar gekünstelte Manier, in der er uns die Nachricht mitteilte. Er erzählte sie uns nicht sofort, nachdem er ins Haus gekommen war, als erste, außerordentliche Neuigkeit, sondern tat, als glaube er, daß wir es schon ohne ihn wüßten, was doch in so kurzer Zeit unmöglich war. Und wenn wir es gewußt hätten, so hätten wir nicht davon schweigen können, bis er darüber zu reden anfing. Auch hatte er nicht hören können, was in der Stadt bereits über die Frau Adelsmarschall »allgemein gesagt« wurde, wiederum wegen der Kürze der Zeit. Außerdem lächelte er beim Erzählen ein paarmal in einer gemeinen, leichtfertigen Art, wahrscheinlich weil er uns schon für völlig betrogene Dummköpfe hielt. Aber ich hatte keine Lust, weiter an ihn zu denken; den eigentlichen Kern seiner Mitteilung hielt ich für wahr und lief ganz außer mir von Julija Michailowna weg. Diese Katastrophe empfand ich wie einen tiefen Stich ins Herz. Vor seelischem Schmerze kamen mir fast die Tränen, und vielleicht habe ich sogar wirklich geweint. Ich wußte gar nicht, was ich unternehmen sollte. Ich eilte zu Stepan Trofimowitsch; aber ärgerlicherweise schloß er wieder seine Tür nicht auf. Nastasja versicherte mir in ehrfurchtsvollem Flüstertone, er habe sich schlafen gelegt; aber ich glaubte es nicht. In Lisas Hause gelang es mir, die Dienerschaft zu befragen; sie bestätigten die Flucht, wußten aber selbst weiter nichts. Im Hause herrschte Wirrwarr; die kranke gnädige Frau hatte Ohnmachtsanfälle bekommen, und Mawriki Nikolajewitsch befand sich bei ihr. Diesen herausrufen zu lassen erschien mir unmöglich. Über Peter Stepanowitsch wurde mir auf meine Fragen gesagt, er sei in der letzten Zeit täglich verstohlen im Hause erschienen, mitunter zweimal an einem Tage. Die Dienerschaft war betrübt und sprach von Lisa mit besonderem Respekt; sie hatten sie alle gern gehabt. Daß sie verloren war, vollständig verloren, daran zweifelte ich nicht; aber die psychologische Seite des Vorgangs war mir völlig unverständlich, namentlich nach der Szene, welche Lisa tags zuvor mit Stawrogin gehabt hatte. Durch die Stadt zu laufen und mich in den Häusern schadenfroher Bekannter zu erkundigen, wo sich die Nachricht jetzt natürlich verbreitete, das widerstrebte mir und schien mir auch entwürdigend für Lisa. Aber sonderbarerweise lief ich zu Darja Pawlowna, wo ich übrigens nicht empfangen wurde (im Stawroginschen Hause wurde seit dem vorhergehenden Tage niemand empfangen); ich weiß nicht, was ich ihr hätte sagen können, und warum ich zu ihr gelaufen war. Von ihr begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatow hörte mich mürrisch und schweigend an. Ich bemerke, daß ich ihn in ungewöhnlich düsterer Stimmung getroffen hatte; er war sehr nachdenklich, und es schien ihn große Anstrengung zu kosten, mir zuzuhören. Er redete fast nichts und ging in seinem Zimmerchen auf und ab, von einer Ecke in die andere, wobei er stärker als sonst mit den Stiefeln aufstampfte. Als ich beim Weggehen schon auf der Treppe war, rief er mir nach, ich möchte zu Liputin herangehen: »Dort werden Sie alles erfahren.« Aber ich ging nicht zu Liputin heran, sondern kehrte, als ich schon ziemlich weit weg war, wieder zu Schatow zurück, öffnete die Tür halb und fragte ihn ohne einzutreten lakonisch und ohne alle Erklärungen, ob er heute zu Marja Timofejewna gehen werde. Darauf fing Schatow an zu schimpfen, und ich ging weg. Um es nicht zu vergessen, merke ich hier an, daß er noch an diesem Abend expreß nach dem Rande der Stadt zu Marja Timofejewna ging, die er seit ziemlich langer Zeit nicht gesehen hatte. Er fand sie den Umständen nach bei guter Gesundheit und in heiterer Stimmung; Lebjadkin aber war sinnlos betrunken und schlief auf dem Sofa im ersten Zimmer. Das war genau um neun Uhr gewesen. So berichtete er mir selbst gleich am folgenden Tage, als er mir eilig auf der Straße begegnete. Es war schon zwischen neun und zehn Uhr abends, als ich mich entschloß, auf den Ball zu gehen, aber nicht mehr in der Eigenschaft als Festordner (ich hatte auch meine Schleife bei Julija Michailowna gelassen), sondern aus unbezähmbarer Neugier, um ohne eigene Fragen zu hören, wie man bei uns in der Stadt über all diese Ereignisse rede. Auch wollte ich gern Julija Michailowna sehen, wenn auch nur von weitem. Ich machte mir starke Vorwürfe, daß ich vorher so formlos von ihr weggelaufen war.
III
Diese ganze Nacht mit ihren beinah absurden Ereignissen und mit der furchtbaren »Entwickelung« am Morgen schwebt mir noch bis auf den heutigen Tag wie ein häßlicher, beängstigender Traum vor und bildet, wenigstens für mich, den peinlichsten Teil dessen, was ich hier berichte. Ich hatte allerdings den Anfang des Balles versäumt, kam aber zu seinem Ende hin; so schnell war ihm zu enden beschieden. Es war schon zehn Uhr vorbei, als ich zum Portale des Hauses der Frau Adelsmarschall gelangte, wo derselbe Weiße Saal, in welchem vor kurzem die Vorlesung stattgefunden hatte, trotz der Kürze der Zeit bereits aufgeräumt und zurechtgemacht war, um als Haupttanzsaal für die ganze Stadt, wie geplant war, zu dienen. Aber eine wie ungünstige Prognose ich auch dem Balle am Vormittage gestellt hatte, so hatte ich doch nicht die volle Wahrheit geahnt: es war keine einzige Familie aus den höheren Kreisen erschienen; sogar die einigermaßen angesehenen Beamten fehlten, was ein sehr bemerkenswerter Zug war. Was die Frauen und jungen Mädchen anlangt, so ergab sich, daß Peter Stepanowitschs Voraussagungen (die sich jetzt offenbar als heimtückisch erwiesen) im höchsten Grade fehlerhaft waren: es waren nur äußerst wenige erschienen; auf vier Männer kam kaum eine Dame, und was für Damen! Die bedenklichen Gattinnen einiger höherer Offiziere des Regimentes, die Frauen kleinerer Post- und Verwaltungsbeamten, drei Doktorfrauen mit ihren Töchtern, zwei oder drei ärmere Gutsbesitzersfrauen, die sieben Töchter und die Nichte jenes Sekretärs, dessen ich schon oben Erwähnung getan habe, Kaufmannsfrauen, – war dies das Ballpublikum, welches Julija Michailowna erwartet hatte? Sogar von den Kaufmannsfamilien war die Hälfte nicht gekommen. Was die Männer anlangt, so bildeten sie trotz des vollständigen Fehlens unserer vornehmen Welt doch eine kompakte Masse; aber diese Masse machte einen zweideutigen, verdächtigen Eindruck. Allerdings waren darunter auch mehrere sehr ruhige, achtbare Offiziere mit ihren Frauen, einige sehr gehorsame Familienväter, wie zum Beispiel immer derselbe Sekretär, der Vater der sieben Töchter. Dieses ganze friedliche Völkchen war erschienen sozusagen, »weil es sich nicht vermeiden ließ,« wie sich einer dieser Herren ausdrückte. Aber andererseits schien die Menge verwegener Persönlichkeiten und außerdem die Menge derjenigen, von denen ich und Peter Stepanowitsch vorher geargwöhnt hatten; daß sie ohne Billette hereingelassen seien, sich gegen vorhin noch vermehrt zu haben. Sie saßen vorläufig sämtlich beim Büfett, und zwar begab sich ein jeder gleich beim Eintreffen geradeswegs dorthin wie nach einem im voraus bestimmten Platze. So schien es mir wenigstens. Das Büfett war am Ende einer Zimmerflucht in einem geräumigen Saale untergebracht, wo sich Prochorytsch mit allen Verlockungen der Klubküche und mit einer verführerischen Ausstellung von kalten Speisen und Getränken eingerichtet hatte. Ich bemerkte hier mehrere Individuen in beinah zerrissenen Röcken, in höchst zweifelhaftem, durchaus nicht ballmäßigem Anzuge, Leute, die offenbar nur mit großer Mühe für kurze Zeit nüchtern gemacht und Gott weiß woher herangeholt waren, einige sogar aus anderen Städten. Es war mir freilich bekannt, daß nach Julija Michailownas Idee der Ball einen demokratischen Charakter tragen sollte; selbst Kleinbürger sollten nicht ausgeschlossen werden, wenn sie ihre Billette bezahlten. Das hatte sie kühn in ihrem Komitee ausgesprochen, fest davon überzeugt, daß es keinem der durchweg sehr armen Kleinbürger unserer Stadt in den Sinn kommen werde, ein Billett zu nehmen. Aber dennoch befremdete es mich, daß man diese traurigen Subjekte in beinah zerrissenen Röcken hatte hereinlassen können, trotz aller demokratischen Gesinnung des Komitees. Aber wer hatte sie hereingelassen und in welcher Absicht? Liputin und Ljamschin trugen ihre Festordner-Schleifen nicht mehr (obwohl sie beim Balle anwesend waren, da sie an der literarischen Quadrille teilnahmen); aber an Liputins Stelle war zu meiner Verwunderung jener Seminarist von vorhin getreten, der die Matinee durch sein Renkontre mit Stepan Trofimowitsch am meisten gestört hatte, und an Ljamschins Stelle Peter Stepanowitsch selbst; was konnte man unter solchen Umständen Gutes erwarten? Ich bemühte mich, die Gespräche mit anzuhören. Manche Ansichten überraschten durch ihre Seltsamkeit. So wurde zum Beispiel in einer Gruppe behauptet, die ganze Geschichte mit Stawrogin und Lisa habe Julija Michailowna eingefädelt und dafür von Stawrogin Geld erhalten. Es wurde sogar die Summe genannt. Es wurde behauptet, sie habe sogar das Fest in dieser Absicht arrangiert, und eben darum sei die halbe Stadt nicht erschienen, weil sie gewußt habe, um was es sich handle, und Lembke selbst sei darüber so frappiert gewesen, daß sein Verstand in Unordnung gekommen sei, und sie behandle ihn jetzt als Verrückten. – Es gab dort auch viel Gelächter, heiseres, rohes, selbstgefälliges Gelächter. Alle kritisierten scharf den Ball und schimpften ganz ungeniert auf Julija Michailowna. Im allgemeinen ging dieses Gerede ohne Ruhe und Ordnung vor sich und bestand aus abgerissenen Bemerkungen Halbbetrunkener, so daß es schwer war, daraus klug zu werden und etwas daraus zu entnehmen. Ebendort beim Büfett hatte sich auch eine Anzahl von Leuten niedergelassen, die einfach vergnügt waren; es waren sogar einige Damen da von der Art, die man durch nichts mehr in Verwunderung oder in Schrecken versetzen kann, sehr liebenswürdige, ausgelassene Damen, größtenteils Offiziersfrauen mit ihren Männern. Sie hatten gruppenweise an einzelnen Tischen Platz genommen und tranken höchst vergnügt Tee. Der Büfettraum hatte sich in einen behaglichen Zufluchtsort für fast die Hälfte des anwesenden Publikums verwandelt. Und doch mußte nach einiger Zeit diese ganze Masse in den Saal fluten; man bekam einen Schreck, wenn man daran auch nur dachte.
Unterdessen waren im Weißen Saale unter Mitwirkung des Fürsten drei dürftige Quadrillen zustande gekommen. Die jungen Damen tanzten, und die Eltern freuten sich über sie. Aber auch hier begannen schon viele dieser achtungswerten Personen daran zu denken, wie sie, wenn ihre Töchter sich hinreichend amüsiert haben würden, sich möglichst frühzeitig davonmachen könnten, und nicht erst dann, »wenn es losgehe«. Daß es unfehlbar losgehen werde, davon waren alle fest überzeugt. Julija Michailownas eigenen Seelenzustand zu schildern würde schwer sein. Ich sprach nicht mit ihr, obgleich ich ihr mehrmals ziemlich nahe kam. Auf meine Verbeugung beim Eintritt antwortete sie nicht; sie schien mich nicht bemerkt zu haben (sie hatte mich tatsächlich nicht bemerkt). Ihr Gesicht hatte einen leidenden Ausdruck; der Blick war verächtlich und hochmütig, aber fahrig und unruhig, Sie nahm sich mit offenbarer Qual zusammen, wozu und für wen? Sie hätte unbedingt wegfahren und vor allen Dingen ihren Gemahl wegschaffen sollen; aber sie blieb! Schon an ihrem Gesichte konnte man wahrnehmen, daß ihr die Augen »vollständig aufgegangen« waren, und daß sie nichts Gutes mehr erwartete. Sie rief nicht einmal Peter Stepanowitsch zu sich heran (dieser schien sie auch selbst zu vermeiden; ich sah ihn am Büfett; er war außerordentlich heiter). Aber sie blieb dennoch auf dem Balle und ließ Andrei Antonowitsch keinen Augenblick von ihrer Seite. Oh, bis zum letzten Augenblick würde sie noch vorhin bei der Matinee jede Anspielung auf seinen Gesundheitszustand mit der aufrichtigsten Entrüstung zurückgewiesen haben; aber jetzt mußten ihr auch in dieser Hinsicht die Augen aufgehen. Was mich betrifft, so hatte ich gleich beim ersten Blicke den Eindruck, daß Andrei Antonowitsch schlechter aussah als am Vormittage. Er schien sich in einem Zustande der Selbstvergessenheit zu befinden und gar nicht zu wissen, wo er eigentlich war. Ab und zu sah er mit auffallend strenger Miene um sich, so zum Beispiel ein paarmal nach mir hin. Einmal versuchte er, über irgendeinen Gegenstand ein Gespräch anzufangen; er begann laut und kräftig, sprach aber nicht zu Ende und versetzte dadurch einen friedlichen alten Beamten, der zufällig in seiner Nähe war, in Schrecken. Aber auch diese friedliche Hälfte des Publikums, die sich im Weißen Saale befand, hielt sich mit düsterer, ängstlicher Miene von Julija Michailowna fern und richtete gleichzeitig sehr sonderbare Blicke auf ihren Gemahl, Blicke, deren Beharrlichkeit und Offenheit zu der sonstigen Schüchternheit dieser Leute wenig stimmte.
»Sehen Sie, dieses Benehmen war es, was mir einen Stich ins Herz gab, und ich fing auf einmal an, etwas über Andrei Antonowitsch zu ahnen,« gestand Julija Michailowna mir selbst später.
Ja, sie hatte wieder einen Fehler begangen. Wahrscheinlich war sie vor kurzem, als sie nach meinem Davonlaufen sich mit Peter Stepanowitsch dafür entschieden hatte, den Ball stattfinden zu lassen und auf ihm zu erscheinen, wahrscheinlich war sie da wieder in das Arbeitszimmer des schon bei der Vorlesung endgültig »erschütterten« Andrei Antonowitsch gegangen, hatte wieder all ihre Zauberkünste zur Anwendung gebracht und ihn mit sich mitgeschleppt. Aber welche Qual stand sie aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt aus! Und trotzdem fuhr sie nicht weg! Ob ihr Stolz sie peinigte, oder ob sie einfach die ruhige Überlegung verloren hatte, ich weiß es nicht. Bei all ihrem Hochmute versuchte sie es doch, demütig lächelnd mit einigen Damen ein Gespräch anzuknüpfen; aber diese wurden sofort verlegen, machten sich mit den einsilbigen, mißtrauischen Antworten »ja« und »nein« los und vermieden sie dann unverhohlen.
Von den unbestrittenen Würdenträgern unserer Stadt befand sich nur einer auf dem Balle, jener selbe angesehene General a. D., den ich schon einmal geschildert habe, und der bei der Frau Adelsmarschall nach Stawrogins Duell mit Gaganow »für die Ungeduld der ganzen Gesellschaft die Schleusen öffnete.« Er wanderte in würdevoller Haltung durch die Säle, betrachtete alles, hörte hier und da zu und suchte sich den Anschein zu geben, als sei er mehr zum Studium der Charaktere als zu seinem wirklichen Vergnügen hergekommen. Zuletzt ließ er sich definitiv bei Julija Michailowna nieder und wich keinen Schritt von ihr, offenbar bemüht, sie zu ermutigen und zu beruhigen. Ohne Zweifel war er ein herzensguter, sehr vornehmer und schon so bejahrter Mann, daß man es von ihm sogar ertragen konnte, bedauert zu werden. Aber Julija Michailowna fühlte sich sehr indigniert, da sie bemerkte, daß dieser alte Schwätzer sie zu bedauern und sogar zu protegieren wagte und ihr durch seine Gegenwart eine Ehre zu erweisen glaubte. Der General aber ließ von ihr nicht ab und schwatzte ohne Aufhören.
»Eine Stadt, sagt man, kann ohne sieben Gerechte nicht bestehen ... sieben, glaube ich, ich besinne mich nicht mit Be-stimmt-heit auf die Zahl. Ich weiß nicht, wie viele von diesen sieben ... unzweifelhaften Gerechten unserer Stadt ... die Ehre haben, Ihren Ball zu besuchen; aber trotz ihrer Anwesenheit bekomme ich das Gefühl, daß ich hier in Gefahr bin. Vous me pardonnerez, charmante dame, n'est-ce pas? Ich rede nur so an-deu-tungs-wei-se; aber ich ging in das Büfettzimmer und war froh, als ich mit heiler Haut wieder heraus war ... Unser unschätzbarer Prochorytsch ist da nicht an seinem Platze, und gegen Morgen werden sie ihm wohl seine ganzen Speisevorräte wegnehmen. Übrigens macht mir die Sache Spaß. Ich warte nur, wie sich die li-te-ra-ri-sche Quadrille machen wird; dann aber heißt es bei mir: ins Bett. Verzeihen Sie einem alten Podagriker; ich pflege mich früh hinzulegen und würde auch Ihnen raten, nach Hause zu fahren und sich in die Baba zu legen, wie man aux enfants sagt. Ich bin um der schönen jungen Damen willen hergekommen ... die ich nirgends in solcher Vollzähligkeit zu sehen bekommen kann wie hier ... Sie sind alle von jenseits des Flusses, und da komme ich nicht hin. Die Frau eines Offiziers ... wohl eines Jägeroffiziers ... ist eine sehr hübsche Erscheinung, sehr hübsch und ... und sie weiß das auch selbst. Ich habe mich mit dieser schalkhaften Person unterhalten; sie ist sehr keck und ... na, ihre Töchter sind auch ganz frisch; aber weiter auch nichts; außer ihrer Frische ist an ihnen nichts Besonderes. Übrigens hat es mir Vergnügen gemacht. Es gibt so Knöspchen, da sind nur die Lippen dick. Überhaupt besitzen schöne russische Frauengesichter wenig von jener Regelmäßigkeit und ... und bekommen leicht etwas Pfannkuchenhaftes ... Vous me pardonnerez, n'est-ce pas? ... übrigens neben schönen Augen ... lachenden Augen. Diese Knöspchen sind während zweier Jugendjahre ent-zü-ckend, sogar drei Jahre lang ... na, aber dann werden sie weich und schwammig für das ganze Leben ... und rufen bei ihren Männern jene bedauerliche Gleich-gül-tig-keit hervor, durch die die weitere Entwickelung der Frauenfrage so sehr befördert wird ... wenn anders ich diese Frage richtig verstehe ... Hm! Der Saal ist schön; die Zimmer sind nett ausgeschmückt. Es könnte schlechter sein. Die Musik könnte viel schlechter sein ... ich sage nicht, daß sie schlechter sein sollte. Es macht einen schlechten Eindruck, daß so wenig Damen da sind. Von den Toiletten will ich nicht reden. Unpassend, daß der da in den grauen Hosen sich so offen erlaubt Kankan zu tanzen. Ich würde es verzeihen, wenn er es aus Freude täte, und weil er ein hiesiger Apotheker ist ... aber vor elf Uhr ist es doch zu früh, auch für einen Apotheker – Da im Büfettzimmer haben sich zwei geprügelt, ohne daß sie hinausgebracht worden wären. Vor elf Uhr müssen Raufbolde noch hinausspediert werden, mögen die Sitten des Publikums sein, wie sie wollen ... ich rede nicht von der Zeit nach zwei Uhr morgens; da muß man schon den Anschauungen der betreffenden Gesellschaft eine gewisse Konzession machen, – wenn dieser Ball überhaupt bis nach zwei Uhr dauert. Warwara Petrowna hat doch nicht Wort gehalten und keine Blumen hergegeben. Hm! Sie wird wohl jetzt an andere Dinge denken als an Blumen, pauvre mère! Und die arme Lisa, haben Sie es gehört? Man sagt, es sei eine geheimnisvolle Geschichte, und ... und wieder erscheint dieser Stawrogin auf dem Plan ... Hm! Ich möchte gern wegfahren und mich schlafen legen ... ich kann schon den Kopf gar nicht mehr gerade halten. Wann mag denn diese li-te-ra-ri-sche Quadrille anfangen?«
Endlich fing auch die literarische Quadrille an. In der Stadt war man in der letzten Zeit, sobald irgendwo ein Gespräch über den bevorstehenden Ball begonnen hatte, immer alsbald auf diese literarische Quadrille zu reden gekommen, und da sich niemand so recht vorstellen konnte, was das sei, so hatte sie maßlose Neugier erregt. Nichts konnte für den Erfolg gefährlicher sein, und – wie groß war nun die Enttäuschung!
Eine bis dahin verschlossene Seitentür des Weißen Saales öffnete sich, und plötzlich erschienen einige Masken. Das Publikum umringte sie mit lebhaftem Interesse. Alle, die bisher im Büfettzimmer gewesen waren, kamen bis auf den letzten Mann auf einmal in den Saal geströmt. Die Masken stellten sich zum Tanzen auf. Es gelang mir, mich in die vorderste Reihe durchzudrängen, und ich kam gerade hinter Julija Michailowna, v. Lembke und den General zu stehen. In diesem Augenblicke sprang zu Julija Michailowna Peter Stepanowitsch heran, der bis dahin nirgends zu sehen gewesen war.
»Ich halte mich immer im Büfettzimmer auf und beobachte,« flüsterte er mit der Miene eines schuldbewußten Schulknaben, die er übrigens absichtlich fingierte, um sie noch mehr zu reizen.
Diese wurde dunkelrot vor Zorn.
»Wenn Sie mich nur wenigstens jetzt nicht mehr betrügen wollten, Sie frecher Mensch!« entfuhr es ihr beinah laut, so daß man es im Publikum hören konnte.
Peter Stepanowitsch lief, mit sich selbst höchst zufrieden, davon.
Es war schwer, sich eine kläglichere, gemeinere, dümmere, fadere Allegorie als diese »literarische Quadrille« vorzustellen. Man hätte nichts ersinnen können, was für unser Publikum weniger geeignet gewesen wäre, und dabei hatte diese Quadrille, wie gesagt wurde, Karmasinow ausgedacht. Arrangiert hatte sie allerdings Liputin nach Beratungen mit eben jenem lahmen Lehrer, der an der abendlichen Zusammenkunft bei Wirginski teilgenommen hatte. Aber Karmasinow hatte doch die Idee dazu geliefert und hatte sogar, wie man sagte, sich selbst verkleiden und eine besondere, selbständige Rolle übernehmen wollen. Die Quadrille bestand aus sechs Paaren von kläglichen Masken; eigentlich waren es gar keine Masken, da die betreffenden Personen ebensolche Kleider trugen wie alle andern. So hatte zum Beispiel ein bejahrter Herr von kleiner Statur einen Frack an, war, mit einem Worte, ebenso gekleidet wie alle Leute; nur hatte er sich einen würdevollen, grauen Bart angeheftet, und darin bestand sein ganzes Maskenkostüm; dieser Herr tanzte mit ernstem Gesichtsausdrucke immer auf einem Fleck herum, indem er mit raschen, kleinen Schritten umhertrippelte und sich fast nicht von der Stelle bewegte. Er stieß mit einer leidlichen, aber heiseren Baßstimme einige Laute aus, und diese heisere Stimme sollte eine bekannte Zeitung bedeuten. Dieser Maske gegenüber tanzten zwei Riesen X und Z, und diese Buchstaben waren ihnen an den Frack angeheftet; aber was diese Buchstaben X und Z bedeuteten, blieb unaufgeklärt. »Der ehrenhafte russische Gedanke« wurde von einem Herrn in mittlerem Alter dargestellt, mit Brille, Frack, Handschuhen und – Fußfesseln (echten Fußfesseln). Unter dem Arm trug dieser Gedanke ein Portefeuille mit irgendwelchen Akten. Aus seiner Tasche schaute ein aus dem Auslande gekommener, erbrochener Brief hervor, der für alle Zweifler eine Bescheinigung über die Ehrenhaftigkeit des »ehrenhaften russischen Gedankens« enthielt. All dies wurde von den Festordnern mündlich auseinandergesetzt; denn lesen konnte man natürlich den aus der Tasche heraussehenden Brief nicht. In der erhobenen rechten Hand hielt der »ehrenhafte russische Gedanke« ein Trinkglas, wie wenn er einen Toast ausbringen wollte. Rechts und links neben ihm trippelten zwei Nihilistinnen mit kurz geschorenem Haar umher, und vis-à-vis tanzte ein ebenfalls bejahrter Herr im Frack, aber mit einem schweren Knittel in der Hand; er stellte angeblich ein nicht in Petersburg erscheinendes Revolverjournal »Wen ich kriege, dem wasche ich den Kopf!« dar. Aber trotz seines Knittels konnte er die Blicke, die der »ehrenhafte russische Gedanke« durch seine Brillengläser beharrlich auf ihn richtete, nicht ertragen und bemühte sich zur Seite zu sehen, und wenn er einen pas de deux ausführte, so drehte und wand er sich und wußte nicht, wo er bleiben sollte; so quälte ihn wahrscheinlich das Gewissen ... Übrigens kann ich mich nicht auf all diese albernen Einfälle besinnen; es war alles von derselben Art, so daß ich mich schließlich in peinlichem Grade schämte. Und siehe da, diese selbe Empfindung der Scham prägte sich auch auf den Gesichtern des ganzen übrigen Publikums aus, sogar in den mürrischen Physiognomien derjenigen, die aus dem Büfettzimmer gekommen waren. Eine Zeitlang schwiegen alle und sahen mit unwilligem Staunen zu. Wer sich schämt, wird gewöhnlich unwillig und bekommt Lust zu schimpfen. Allmählich machte sich im Publikum ein dumpfes Gemurmel hörbar.
»Was soll denn das vorstellen?« brummte in einer Gruppe ein Büfettfreund.
»Irgendeine Dummheit.«
»Etwas aus der Literatur. Der Golos wird kritisiert.«
»Was kümmert das mich?«
In einer andern Gruppe:
»Die Esel!«
»Nein, sie sind keine Esel, sondern wir sind Esel.«
»Warum bist du ein Esel?«
»Nein, ich bin kein Esel.«
»Na, wenn du kein Esel bist, dann bin ich schon lange keiner.«
In einer dritten Gruppe:
»Man müßte ihnen allen einen Fußtritt geben und sie zum Teufel jagen!«
»Den ganzen Saal in Aufregung zu bringen!«
In einer vierten:
»Daß sich bloß die Lembkes nicht schämen, dabei zuzusehen!«
»Warum sollen sie sich schämen? Du schämst dich ja auch nicht!«
»Doch, ich schäme mich; und er ist doch der Gouverneur.«
»Und du bist ein Schafskopf.«
»In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen so ordinären Ball gesehen,« sagte giftig dicht neben Julija Michailowna eine Dame, offenbar mit der Absicht, von dieser gehört zu werden.
Diese Dame war etwa vierzig Jahre alt, stämmig, geschminkt; sie trug ein grellfarbiges Seidenkleid; in der Stadt kannten sie fast alle; aber niemand empfing sie. Sie war die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein hölzernes Haus und eine kärgliche Pension hinterlassen hatte; aber sie lebte auf großem Fuße und hielt sich Wagen und Pferde. Vor zwei Monaten hatte sie der neuen Frau Gouverneur ihrerseits zuerst einen Besuch gemacht, war aber nicht angenommen worden.
»Das war ja auch vorherzusehen,« fügte sie hinzu, indem sie Julija Michailowna frech ins Gesicht blickte.
»Wenn Sie das vorhersehen konnten, warum sind Sie denn dann hergekommen?« konnte sich Julija Michailowna nicht enthalten zu entgegnen.
»Aus Harmlosigkeit,« erwiderte die schlagfertige Dame sofort und setzte sich mit einem Ruck in Positur (sie hatte die größte Lust, mit Julija Michailowna anzubinden); aber der General trat zwischen die beiden:
»Chère dame,« sagte er, sich zu Julija Michailowna hinbeugend, »Sie sollten wirklich wegfahren. Wir genieren hier die Leute nur, und sie werden sich ohne uns vorzüglich amüsieren. Sie, meine Gnädige, haben alles getan; Sie haben ihnen den Ball eröffnet; nun, so überlassen Sie denn jetzt die Leute sich selbst ... Und auch Andrei Antonowitsch scheint sich nicht voll-stän-dig wohl zu fühlen ... Daß nur nicht noch ein Malheur passiert!«
Aber es war schon zu spät.
Andrei Antonowitsch hatte während der ganzen Quadrille den Tanzenden mit einer Art von zornigem Erstaunen zugesehen; aber als nun die lauten Bemerkungen im Publikum anfingen, begann er unruhig um sich zu blicken. Da fielen ihm zum erstenmal einige Persönlichkeiten aus dem Büfettzimmer in die Augen, und sein Blick drückte die größte Verwunderung aus. Plötzlich erscholl ein lautes Gelächter über ein Kunststück in der Quadrille; der Herausgeber des »nicht in Petersburg erscheinenden Revolverjournals«, der mit dem Knittel in der Hand tanzte, fühlte endlich, daß er die auf ihn gerichteten Brillengläser des »ehrenhaften russischen Gedankens« nicht länger ertragen konnte, und da er nicht wußte, wo er vor seinem Visavis bleiben sollte, ging er in der letzten Tanzfigur diesem plötzlich auf den Händen mit den Beinen nach oben entgegen, was (wie ich anmerke) das beständige Auf-den-Kopf-Stellen des gesunden Menschenverstandes in dem »nicht in Petersburg erscheinenden Revolverjournal« versinnbildlichen sollte. Da nur Ljamschin auf den Händen zu gehen verstand, so hatte er es übernommen, den Herausgeber mit dem Knittel darzustellen. Julija Michailowna wußte absolut nichts davon, daß da auf den Händen gegangen werden würde. »Das hatte man mir verheimlicht, das hatte man mir verheimlicht,« sagte sie später ganz verzweifelt und entrüstet zu mir. Das Gelächter der Menge galt natürlich nicht dem allegorischen Sinne, um den sich niemand kümmerte, sondern einfach dem Gehen auf den Händen in einem Frack mit Schößen. Lembke kochte vor Wut und zitterte am ganzen Leibe.
»Taugenichts!« schrie er, auf Ljamschin zeigend. »Man fasse den Schurken und drehe ihn um ... um, drehe ihn mit den Beinen um ... mit dem Kopf ... der Kopf soll oben sein ... oben!«
Ljamschin sprang auf die Füße. Das Gelächter wurde noch stärker.
»Man jage alle Schurken, die da lachen, hinaus!« befahl Lembke plötzlich.
Die Menge murrte und lachte.
»Das Publikum darf man nicht schimpfen.«
»Selbst ein Narr!« erscholl eine Stimme aus irgendeiner Ecke.
»Die Flibustier!« rief jemand von einem andern Ende her.
Lembke drehte sich auf diesen Ruf schnell um und wurde ganz blaß. Ein stumpfsinniges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, wie wenn er auf einmal etwas begriffe und sich an etwas erinnerte.
»Meine Herren,« wandte sich Julija Michailowna an die herandrängende Menge, indem sie gleichzeitig ihren Mann hinter sich herzog, »meine Herren, entschuldigen Sie Andrei Antonowitsch; er ist nicht wohl ... entschuldigen Sie ... verzeihen Sie ihm, meine Herren!«
Ich hörte genau, daß sie sagte: »Verzeihen Sie.« Die Szene spielte sich sehr schnell ab. Aber ich erinnere mich bestimmt, daß ein Teil des Publikums in diesem Augenblicke schon aus dem Saale hinausstrebte, anscheinend erschrocken, namentlich nach diesen Worten Julija Michailownas. Ich erinnere mich sogar, daß eine Frauenstimme, von Tränen fast erstickt, krampfhaft schrie:
»Ach, wieder wie am Vormittag!«
Und plötzlich schlug in dieses schon beginnende Gedränge wieder eine Bombe ein, gerade »wieder wie am Vormittag.«
»Feuer! Die ganze jenseitige Stadt brennt!«
Ich erinnere mich nur nicht, wo dieser schreckliche Ruf zuerst erscholl: ob in den Sälen, oder ob jemand, wie es scheint, mit diesem Rufe von der Treppe und aus dem Vorzimmer hereingelaufen kam; aber unmittelbar darauf trat ein solcher Wirrwarr ein, daß ich es nicht unternehme, ihn zu schildern. Mehr als die Hälfte des auf dem Balle anwesenden Publikums war aus dem jenseitigen Stadtteile und besaß dort Holzhäuser oder wohnte in solchen zur Miete. Sie stürzten zu den Fenstern; im Nu waren die Gardinen auseinandergezogen, die Rouleaus zerrissen. Der jenseitige Stadtteil brannte. Allerdings war die Feuersbrunst erst im Entstehen; aber es brannte an drei ganz verschiedenen Stellen; gerade das war es, was Schrecken erregte.
»Brandstiftung! Die Schpigulinschen!« wurde in der Menge gerufen.
Ich erinnere mich an einige sehr charakteristische Ausrufe.
»Das habe ich doch geahnt, daß sie Feuer anlegen werden; all diese Tage her habe ich es geahnt!«
»Die Schpigulinschen, die Schpigulinschen; kein anderer!«
»Man hat uns hier absichtlich versammelt, um dort Feuer anzulegen!«
Dieser letzte, wunderlichste, unwillkürliche Ausruf rührte von einer Frau her, die ihr Haus ebenfalls gefährdet wußte. Alles strömte dem Ausgange zu. Ich versuche nicht zu schildern, welches Gedränge im Vorzimmer beim Suchen nach den Pelzen, Tüchern und Pelerinen herrschte, wie erschrockene Frauen kreischten und junge Mädchen weinten. Diebstähle sind wohl kaum vorgekommen; aber es ist kein Wunder, daß bei solcher Unordnung manche Leute ohne ihre warmen Überkleider wegfuhren, da sie das Ihrige nicht hatten finden können; darüber kursierten nachher in der Stadt viele Erzählungen mit legendenhaften Ausschmückungen. Lembke und Julija Michailowna wurden von der Menge in der Tür beinahe erdrückt.
»Alle zurückhalten! Niemanden hinauslassen!« schrie Lembke und streckte den Drängenden drohend die Hand entgegen. »Alle sollen Mann für Mann aufs strengste visitiert werden, sofort!«
Aus dem Saale antwortete ein Hagel kräftiger Schimpfworte.
»Andrei Antonowitsch! Andrei Antonowitsch!« rief Julija Michailowna in heller Verzweiflung.
»Die soll zuerst verhaftet werden!« schrie dieser und wies drohend mit dem Finger auf sie. »Die soll zuerst visitiert werden. Der Ball ist zum Zwecke der Brandstiftung arrangiert worden ...«
Sie schrie auf und fiel in Ohnmacht (oh, natürlich in eine wirkliche Ohnmacht). Ich, der Fürst und der General stürzten zu ihr hin, um ihr zu helfen; es fanden sich auch andere, die uns in diesem schweren Augenblicke beistanden, sogar einige Damen. Wir trugen die Unglückliche aus dieser Hölle hinaus und setzten sie in ihren Wagen; aber erst als wir bei ihrem Hause vorfuhren, kam sie zur Besinnung, und ihr erster Schrei betraf wieder Andrei Antonowitsch. Nach der Zerstörung all ihrer Phantasiegebilde stand nur noch Andrei Antonowitschs Gestalt vor ihrem geistigen Blicke. Wir schickten zu einem Arzte. Ich wartete bei ihr eine ganze Stunde lang, desgleichen der Fürst; der General wollte in einem Anfall hochherziger Gesinnung (obwohl er selbst einen großen Schreck bekommen hatte) die ganze Nacht nicht »von dem Bette der Unglücklichen« weggehen; aber nach zehn Minuten schlief er, noch ehe der Arzt gekommen war, im Saale auf einem Lehnstuhle sitzend ein; da ließen wir ihn denn auch.
Dem Polizeimeister, der sofort den Ball verließ, um zum Feuer zu eilen, gelang es, Andrei Antonowitsch hinter uns her hinauszuführen, und er wollte ihn veranlassen, zu Julija Michailowna in die Kutsche zu steigen, indem er Seiner Exzellenz aus aller Kraft zuredete, sich doch zu beruhigen. Aber ich begreife nicht, warum er nicht auf diesem Verlangen bestand. Allerdings wollte Andrei Antonowitsch nichts von Ruhe hören, sondern wollte mit Gewalt zum Feuer; aber das hätte kein Grund sein dürfen. Schließlich nahm ihn der Polizeimeister in seinem eigenen Wägelchen mit zum Feuer. Später erzählte er, Lembke habe während der ganzen Fahrt gestikuliert und schreiend ganz absonderliche, unausführbare Ideen vorgebracht. In der Folge lautete denn auch die amtliche Darstellung, Seine Exzellenz habe zu jener Zeit »infolge des plötzlichen Schrecks« bereits ein Nervenfieber gehabt.
Ich brauche nicht erst zu erzählen, wie der Ball endete. Ein paar Dutzend Strolche und mit ihnen sogar einige Damen waren in den Sälen zurückgeblieben. Polizei war keine mehr da. Die Musik ließ man nicht weg; die Musikanten, die fortgehen wollten, wurden geprügelt. Bis zum Morgen wurden dem Koche Prochorytsch seine sämtlichen Vorräte weggenommen; man trank bis zur Bewußtlosigkeit, tanzte den Kamarinski ohne Zensur, besudelte die Zimmer, und erst bei Tagesgrauen eilte ein Teil dieser Bande völlig betrunken zur Brandstätte, um dort neuen Unfug zu treiben. Die andere Hälfte übernachtete in den Sälen, in sinnlos betrunkenem Zustande mit allen Folgen desselben, auf den Samtsofas und auf dem Fußboden. Am Morgen, so bald es irgend möglich war, zog man sie an den Beinen auf die Straße hinaus. So endete das Fest zum Besten der Gouvernanten unseres Gouvernements.
Die Feuersbrunst rief bei unserer jenseits des Flusses wohnenden Einwohnerschaft namentlich deswegen einen so großen Schrecken hervor, weil die Brandstiftung zweifellos war. Es ist bemerkenswert, daß bei dem ersten Schrei: »Es brennt!« sogleich auch gerufen wurde: »Die Schpigulinschen legen Feuer an!« Jetzt ist bereits hinreichend festgestellt, daß sich in der Tat drei Schpigulinsche Arbeiter an der Brandstiftung beteiligt haben, aber auch nicht mehr; alle übrigen Arbeiter dieser Fabrik sind sowohl von der öffentlichen Meinung als auch amtlich völlig freigesprochen worden. Außer diesen drei Taugenichtsen (von denen einer ergriffen wurde und geständig war, während die beiden andern noch bis jetzt flüchtig sind) war an der Brandstiftung zweifellos auch der Sträfling Fedka beteiligt. Das ist alles, was vorläufig über die Entstehung der Feuersbrunst mit Sicherheit bekannt ist; etwas anderes ist es mit den Mutmaßungen. Wodurch sind diese drei Taugenichtse zu der Tat veranlaßt worden? Hat sie jemand dazu angestiftet? Auf diese Fragen ist es sehr schwer eine Antwort zu geben, selbst jetzt.
Infolge des starken Windes, infolge der fast durchweg hölzernen Bauart des jenseits des Flusses gelegenen Stadtteiles und endlich infolge der Brandstiftung an drei verschiedenen Stellen breitete sich das Feuer schnell aus und ergriff mit unglaublicher Gewalt eine ganze Menge von Häusern (übrigens darf man eigentlich nur Brandstiftung an zwei Stellen rechnen; eine dritte wurde fast in demselben Augenblicke, wo es aufbrannte, bemerkt und gelöscht; hierauf komme ich noch weiter unten zu sprechen). Aber in den Korrespondenzen der hauptstädtischen Zeitungen wurde das Unglück, das uns betroffen hatte, übertrieben: abgebrannt ist nicht mehr als ein Viertel (vielleicht sogar noch weniger) des ganzen jenseits gelegenen Stadtteiles, schätzungsweise gesagt. Unsere Feuerwehr, die allerdings im Verhältnis zu der Ausdehnung und Einwohnerzahl unserer Stadt nur schwach ist, arbeitete doch sehr prompt und aufopfernd. Aber sie hätte nicht viel ausgerichtet, auch trotz der freundlichen Mithilfe der Einwohner nicht, wenn nicht gegen Morgen eine Änderung im Winde eingetreten wäre, der sich auf einmal kurz vor Tagesanbruch legte. Als ich nur eine Stunde nach meiner Flucht vom Balle nach dem jenseitigen Stadtteile gelangte, war das Feuer auf seiner vollen Höhe. Die ganze mit dem Flusse parallel laufende Straße brannte. Es war so hell wie am Tage. Ich will das Bild, das die Feuersbrunst darbot, nicht eingehend schildern: wer kennt es in Rußland nicht? In den der brennenden Straße zunächst liegenden Gassen war ein maßloses Gehaste und Gedränge. Hier wurde das Feuer mit Bestimmtheit erwartet, und die Bewohner schleppten ihre Habe heraus, entfernten sich aber immer noch nicht von ihren Wohnungen, sondern saßen wartend auf ihren herausgeschleppten Kasten und Betten, jeder vor seinen Fenstern. Ein Teil der männlichen Bevölkerung war mit schwerer Arbeit beschäftigt: sie schlugen schonungslos Zäune nieder und trugen sogar ganze Hütten ab, die dem Feuer zu nahe waren und unter dem Winde lagen. Die soeben aus dem Schlafe gerissenen Kinder weinten; die Weiber, die bereits ihren Kram herausgeschleppt hatten, heulten und jammerten; diejenigen, die noch nicht damit fertig waren, verrichteten die Arbeit des Heraustragens schweigend und mit aller Energie. Funken und brennende Holzstücke flogen weithin; man löschte sie nach Möglichkeit. An der Brandstätte selbst drängten sich die Zuschauer, die von allen Enden der Stadt zusammengelaufen waren. Manche halfen löschen; andere sahen nur schaulustig zu. Ein großes nächtliches Feuer hat immer die Wirkung, die Nerven zu reizen und ein Gefühl des Vergnügens hervorzurufen; darauf beruhen die Feuerwerke; aber da wird das Feuer nach schönen, regelmäßigen Entwürfen arrangiert und bringt bei seiner völligen Gefahrlosigkeit eine muntere, lustige Stimmung hervor, ähnlich wie ein Glas Champagner. Etwas anderes ist eine wirkliche Feuersbrunst: hier haben der Schrecken und eine Art von Gefühl, als ob man selbst gefährdet sei, neben dem vergnüglichen Eindrucke des nächtlichen Feuers, bei dem Zuschauer (natürlich nicht bei dem Bewohner, welcher abbrennt) eine gewisse Erschütterung des Gehirnes zur Folge und erwecken seinen eigenen Zerstörungstrieb, der leider in eines jeden Seele verborgen liegt, sogar in der Seele des friedlichsten Familienvaters und Titularrates ... Diese düstere Empfindung hat fast immer etwas Berauschendes. »Ich weiß wirklich nicht, ob man eine Feuersbrunst ohne ein gewisses Vergnügen mit ansehen kann,« sagte Wort für Wort Stepan Trofimowitsch einmal zu mir, als er von einer nächtlichen Feuersbrunst zurückkehrte, zu der er zufällig gekommen war, noch unter dem ersten Eindrucke dieses Schauspieles. Natürlich wird derselbe Liebhaber eines nächtlichen Feuers sich auch selbst ins Feuer stürzen, um ein von den Flammen bedrohtes Kind oder eine alte Frau zu retten; aber das steht auf einem andern Blatte.
Indem ich mich hinter einem neugierigen Haufen herdrängte, gelangte ich ohne zu fragen zu dem wichtigsten, gefährdetsten Punkte, wo ich endlich Lembke erblickte, den ich in Julija Michailownas eigenem Auftrage suchte. Seine Situation war wunderlich und ungewöhnlich. Er stand auf den Trümmern eines Zaunes; links von ihm, in einer Entfernung von etwa dreißig Schritten, ragte das schwarze Skelett eines schon fast ganz verbrannten zweistöckigen Holzhauses in die Höhe, mit Löchern statt der Fenster in beiden Etagen, mit dem eingestürzten Dache und mit Flämmchen, die immer noch hier und da an den verkohlten Balken herumzüngelten. Hinten auf dem Hofe, ungefähr zwanzig Schritte von dem verbrannten Hause entfernt, begann ein ebenfalls zweistöckiges Nebengebäude zu brennen, und um dieses bemühte sich die Feuerwehr aus allen Kräften. Rechts suchten Feuerwehrleute und Zivilisten ein ziemlich großes hölzernes Gebäude zu schützen, das noch nicht brannte, aber schon mehrmals zu brennen angefangen hatte und dem Schicksal des Abbrennens nicht entgehen zu können schien. Lembke wandte das Gesicht dem Nebengebäude zu, schrie und gestikulierte und gab Befehle, die niemand ausführte. Ich hatte den Eindruck, daß man ihn einfach unbeachtet ließ und sich gar nicht um ihn kümmerte. Denn der dichte und sehr buntscheckige Menschenhaufe, der ihn umgab, und in welchem mit allerlei Volk zusammen sich auch Herren befanden und sogar der Dompfarrer, hörte zwar neugierig und verwundert an, was er sagte; aber niemand von ihnen redete mit ihm, und niemand versuchte, ihn fortzuführen. Blaß und mit funkelnden Augen sprach Lembke das wunderlichste Zeug; obendrein war er barhäuptig, da er seinen Hut schon lange verloren hatte.
»Immer Brandstiftung! Das ist der Nihilismus! Wenn etwas brennt, so ist es der Nihilismus!« hörte ich ihn sagen und erschrak darüber; denn wenn ich mich bei ihm auch über nichts mehr wundern konnte, so hat die nackte Wirklichkeit doch immer etwas Erschütterndes.
»Exzellenz,« sagte ein Reviervorsteher, der zu ihm trat, »wenn Sie doch belieben wollten, sich zu Hause Ruhe zu vergönnen ... Hier zu stehen ist für Euer Exzellenz sogar gefährlich.«
Dieser Reviervorsteher war, wie ich nachher erfuhr, von dem Polizeimeister ausdrücklich zu Andrei Antonowitsch abkommandiert worden, um ihn zu beobachten und mit allen Mitteln zu versuchen, ihn nach Hause zu schaffen, und im Falle von Gefahr sogar unter Anwendung von Gewalt, ein Auftrag, der augenscheinlich über die Kräfte des Beauftragten hinausging.
»Die Tränen der Abgebrannten werden getrocknet werden, aber die Stadt wird abbrennen. Das sind immer die vier Schurken, vier bis fünf. Man arretiere den Schurken! Er drängt sich in die Ehre der Familien ein. Zum Anzünden der Häuser haben sie sich der Gouvernanten bedient. Das ist gemein, gemein! Oho, was macht der da?« rief er, da er auf dem Dache des brennenden Nebengebäudes einen Feuerwehrmann bemerkte, unter dem das Dach schon brannte, und um den herum das Feuer aufloderte. »Zieht ihn weg, zieht ihn weg; er wird herunterfallen; er wird verbrennen; löscht ihn! ... Was tut er da?«
»Er löscht, Exzellenz.«
»Das ist unwahrscheinlich. Die Feuersbrunst ist in den Köpfen der Menschen, nicht auf den Dächern der Häuser. Zieht ihn herunter und laßt alles stehen und liegen! Das ist das Beste, alles stehen und liegen zu lassen! Mag es selbst sehen, wie es zurechtkommt! Oho, wer weint da? Eine alte Frau! Da schreit eine alte Frau; warum hat man die alte Frau vergessen?«
In der Tat schrie in dem unteren Stockwerke des brennenden Nebengebäudes eine alte Frau, eine achtzigjährige Verwandte des Kaufmanns, dem das brennende Haus gehörte. Aber man hatte sie nicht vergessen, sondern sie war selbst, als es noch möglich war, in das brennende Haus zurückgekehrt, in der sinnlosen Absicht, aus ihrer noch unversehrten Kammer ihr Federbett herauszuholen. Nur mühsam in dem Rauche atmend und in der Gluthitze schreiend, da auch die Kammer nun zu brennen angefangen hatte, versuchte sie dennoch aus aller Kraft mit ihren schwachen Armen ihr Bett durch den Fensterrahmen, aus dem die Scheiben herausgeschlagen waren, hindurchzuschieben. Lembke stürzte zu ihr hin, um ihr zu helfen. Alle sahen, wie er zum Fenster hinlief, einen Zipfel des Bettes ergriff und es mit aller Kraft aus dem Fenster zu ziehen suchte. Unglücklicherweise fiel von dem Dache gerade in diesem Augenblicke ein losgebrochenes Brett herunter und traf den Ärmsten; das Brett erschlug ihn nicht, da es ihn im Falle nur mit einem Ende am Halse streifte; aber Andrei Antonowitschs Laufbahn war damit, wenigstens bei uns, beendet; der Schlag warf ihn zu Boden, und er fiel besinnungslos hin.
Endlich dämmerte trübe und verdrossen der Morgen herauf. Die Feuersbrunst wurde schwächer; der Wind hatte sich auf einmal gelegt, und die Luft war still geworden, und darauf begann ein leiser, langsamer Regen wie durch ein Sieb herabzurieseln. Ich war schon in einer anderen Gegend dieses jenseitigen Stadtteiles, weit entfernt von der Stelle, wo Lembke hingefallen war, und hier hörte ich in der Volksmenge sehr seltsame Gespräche. Eine sonderbare Tatsache war zutage gekommen: ganz am Rande des Stadtviertels stand auf einem freien Platze, hinter Gemüsegärten, nicht weniger als fünfzig Schritte von anderen Gebäuden entfernt, ein soeben erst erbautes kleines Holzhaus, und dieses einsame Haus war fast zu allererst in Brand geraten, gleich zu Anfang der Feuersbrunst. Wenn es auch in Flammen aufgegangen wäre, so hätte es bei dem Abstande doch das Feuer keinem andern Bauwerke der Stadt mitteilen können; und umgekehrt, wenn auch der ganze jenseitige Stadtteil gebrannt hätte, so hätte doch dieses Haus allein unversehrt bleiben können, von welcher Richtung auch der Wind kommen mochte. Es ergab sich daraus, daß es für sich und selbständig zu brennen angefangen hatte und folglich eine besondere Absicht vorgelegen haben mußte. Aber die Hauptsache war, daß es nicht zum Abbrennen des Häuschens gekommen war und in seinem Innern um die Morgendämmerung erstaunliche Dinge entdeckt worden waren. Der Besitzer dieses neuen Hauses, ein Kleinbürger, der in der nächsten Vorstadt wohnte, hatte kaum das Feuer in seinem neuen Hause gesehen, als er auch schon hineilte und es mit Erfolg schützte, indem er mit Hilfe der Nachbarn das an einer Seitenwand aufgeschichtete Holz, welches brannte, auseinanderwarf. Aber in dem Hause wohnten Mieter, ein in der Stadt bekannter Hauptmann mit seiner Schwester und bei ihnen eine bejahrte Magd; und siehe da, diese Mieter, der Hauptmann, seine Schwester und die Magd, waren alle drei in dieser Nacht ermordet und offenbar beraubt worden. (Hierher, hatte sich auch der Polizeimeister von der Feuersbrunst zu der Zeit begeben gehabt, als Lembke das Bett zu retten suchte.) Gegen Morgen verbreitete sich diese Nachricht, und eine gewaltige Menge von Menschen aller Art, darunter sogar viele Abgebrannte, strömten nach dem freien Platze zu dem neuen Hause hin. Es war schwer hindurchzukommen, so groß war das Gedränge. Man erzählte mir sofort, der Hauptmann sei mit durchschnittener Kehle gefunden worden, auf einer Bank liegend, angekleidet; er sei wahrscheinlich in sinnlos betrunkenem Zustande ermordet worden, so daß er den Mörder nicht gehört habe, und habe geblutet »wie ein Ochse«; seine Schwester Marja Timofejewna sei von Messerstichen ganz durchlöchert und habe auf dem Fußboden an der Tür gelegen, so daß mit Sicherheit anzunehmen sei, sie sei wach gewesen und habe sich gewehrt und mit dem Mörder gerungen. Der Magd, die sicherlich ebenfalls aufgewacht sei, sei der Schädel vollständig zerschmettert. Nach den Erzählungen des Hauswirtes war der Hauptmann noch am Vormittage des vorhergehenden Tages betrunken zu ihm gekommen, hatte geprahlt und viel Geld gezeigt, gegen zweihundert Rubel. Die alte, abgescheuerte grüne Brieftasche des Hauptmanns war leer auf dem Fußboden gefunden worden; aber Marja Timofejewnas Kasten war unangerührt gewesen, desgleichen der silberne Rahmen des Heiligenbildes; auch die Garderobe des Hauptmanns stellte sich als unversehrt heraus. Es war offenbar, daß der Dieb es eilig gehabt, die Verhältnisse des Hauptmanns genau gekannt hatte, nur um des Geldes willen gekommen war und gewußt hatte, wo er es finden konnte. Wäre der Hauswirt nicht so bald herbeigekommen, so würde das brennende Holz sicherlich das Haus in Brand gesetzt haben, und, sagten die Leute, an den verbrannten Leichnamen wäre es dann schwer gewesen, die Wahrheit zu erkennen.
So wurde die Sache dargestellt. Noch eine Notiz wurde hinzugefügt: die Wohnung habe für den Hauptmann und dessen Schwester Herr Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin, der Sohn der Generalin Stawrogina, gemietet, und er sei zu diesem Zwecke persönlich zu dem Wirte gekommen; er habe dem Wirte erst sehr zureden müssen, da dieser die Wohnung nicht habe hergeben wollen, weil er das Haus zu einer Schenke bestimmt gehabt habe; aber Nikolai Wsewolodowitsch habe wegen des Preises keine Schwierigkeiten gemacht und die Miete gleich auf ein halbes Jahr vorausbezahlt.
»Dieses Feuer ist nicht ohne besondere Absicht angelegt worden,« hörte ich in der Menge sagen.
Aber die Mehrzahl schwieg. Die Gesichter waren finster; eine größere, sichtbare Aufregung konnte ich jedoch nicht wahrnehmen. Ringsumher fuhr man aber fort Geschichten von Nikolai Wsewolodowitsch zu erzählen, und daß die Ermordete seine Frau gewesen sei, und daß er gestern aus einem der angesehensten Häuser der Stadt, bei der Generalin Drosdowa, ein junges Mädchen, ihre Tochter, »unehrenhafter Weise« zu sich entführt habe, und daß darüber Klage in Petersburg erhoben werden solle; und daß seine Frau ermordet sei, das sei offenbar geschehen, damit er das Fräulein Drosdowa heiraten könne. Skworeschniki war nicht weiter als zwei und eine halbe Werst entfernt, und ich erinnere mich, daß mir der Gedanke kam: soll ich nicht Nachricht dorthin gelangen lassen? Übrigens bemerkte ich nicht, daß jemand die Menge besonders aufgehetzt hätte; ich will keine Unwahrheit auf mein Gewissen laden; allerdings huschten vor meinen Augen die Visagen zweier oder dreier jener Büfettfreunde vorüber, die sich gegen Morgen bei der Feuersbrunst eingefunden hatten, und die ich sofort wiedererkannte. Aber besonders erinnere ich mich an einen hageren, ausgemergelten, hochgewachsenen Burschen mit krausem, kohlschwarzem Haar, einen Kleinbürger, von Beruf Schlosser, wie ich später erfuhr. Er war nicht betrunken, war aber im Gegensatz zu der finster dastehenden Menge wie außer sich. Er wandte sich fortwährend an das Volk, obwohl ich mich an seine Worte nicht erinnere. Alles, was er Zusammenhängendes sagte, war nicht länger als folgendes: »Brüder, was stellt das vor? Soll das wirklich so weitergehen?« und dabei fuchtelte er mit den Armen umher.