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Der letzte Beschluß
An diesem Tage sahen viele Peter Stepanowitsch; diejenigen, die ihn gesehen hatten, erinnerten sich, daß er sich in höchst aufgeregtem Zustande befunden hatte. Um zwei Uhr nachmittags kam er zu Gaganow gelaufen, der erst am Tage zuvor vom Lande angekommen war, und in dessen Hause sich eine große Menge von Besuchern zusammenfand, die viel und heftig über die soeben stattgefundenen Ereignisse debattierten. Peter Stepanowitsch redete am meisten von allen und brachte die andern dazu, ihm zuzuhören. Man hatte ihn bei uns immer für einen »geschwätzigen, ein bißchen verdrehten Studenten« gehalten; aber jetzt sprach er über Julija Michailowna, und bei dem allgemeinen Wirrwarr war das ein fesselndes Thema. In seiner Eigenschaft als ihr intimer Vertrauter in der letzten Zeit, teilte er über sie viele ganz neue und überraschende Einzelheiten mit; unabsichtlich (und natürlich unvorsichtigerweise) berichtete er mehrere private Äußerungen dieser Dame über einige in der Stadt allgemein bekannte Persönlichkeiten, wodurch deren Ehrgefühl verletzt wurde. Es kam bei ihm alles unklar und verworren heraus wie bei einem nicht allzu klugen Menschen, der sich als ehrlicher Mensch in die peinliche Notwendigkeit versetzt sieht, mit einem Male einen ganzen Berg von Zweifeln aufzuklären, und in seiner Einfalt und Ungeschicklichkeit selbst nicht weiß, womit er anfangen und aufhören soll. Ziemlich unvorsichtig ließ er sich auch die Bemerkung entschlüpfen, daß Julija Michailowna um Stawrogins ganzes Geheimnis gewußt habe, und daß sie es gewesen sei, die die ganze Intrige geleitet hätte. Sie habe auch ihn, Peter Stepanowitsch, da er selbst in diese unglückliche Lisa verliebt gewesen sei, mit hineingezogen und ihn dabei dermaßen »eingewickelt«, daß er sie »beinahe« in einem Wagen zu Stawrogin hingebracht habe. »Ja, ja, Sie haben gut lachen, meine Herren; wenn ich nur gewußt hätte, wie die Sache enden würde, ja, wenn ich das nur gewußt hätte!« schloß er. Auf verschiedene dringende Fragen nach Stawrogin erklärte er geradezu, die Katastrophe mit Lebjadkin sei seiner Meinung nach ein reiner Zufall, und Lebjadkin selbst sei an allem dadurch schuld, daß er Geld gezeigt habe. Diesen Punkt setzte er besonders gut auseinander. Einer der Zuhörer bemerkte ihm, er gebe sich vergebens soviel Mühe sich zu verstellen; er habe in Julija Michailownas Hause gegessen, getrunken, ja beinahe geschlafen, und jetzt sei er der erste, der sie anschwärze; dieses Verhalten sei ganz und gar nicht so schön, wie er meine. Aber Peter Stepanowitsch verteidigte sich sofort:
»Ich habe dort nicht etwa deshalb gegessen und getrunken, weil ich kein Geld gehabt hatte, und ich kann nichts dafür, daß man mich einlud. Gestatten Sie, daß ich selbst beurteile, inwieweit ich dafür dankbar zu sein habe.«
Im allgemeinen hinterließ er einen günstigen Eindruck: »Er ist ja ein alberner Patron und gewiß ein hohler Geselle; aber was kann er für Julija Michailownas Dummheiten? Im Gegenteil sieht man ja, daß er sie zurückzuhalten gesucht hat.«
Gegen zwei Uhr nachmittags verbreitete sich die Nachricht, daß Stawrogin, über den soviel geredet wurde, plötzlich mit dem Mittagszuge nach Petersburg gefahren sei. Das erregte großes Aufsehen; viele runzelten die Stirn. Peter Stepanowitsch war dermaßen überrascht, daß, wie man erzählt, sein Gesicht sich ganz verzerrte und er sonderbarerweise ausrief: »Wie hat man ihn denn weglassen können?« Er lief sogleich von Gaganow fort. Indessen sah man ihn noch in zwei oder drei anderen Häusern.
Um die Dämmerstunde fand er die Möglichkeit, auch zu Julija Michailowna durchzudringen, wiewohl nur mit der größten Mühe, da sie ihn entschieden nicht empfangen wollte. Erst drei Wochen später erfuhr ich von diesem Zusammensein, und zwar aus ihrem eigenen Munde, vor ihrer Abreise nach Petersburg. Sie teilte mir keine Einzelheiten darüber mit, bemerkte aber, noch nachträglich zitternd, er habe sie damals in ein maßloses Erstaunen versetzt. Ich nehme an, daß er sie einfach durch die Drohung erschreckt hat, sie als Helfershelferin zu denunzieren, falls sie sich beikommen ließe zu »reden«. Die Notwendigkeit, sie einzuschüchtern, hing eng mit seinen damaligen Plänen zusammen, die ihr selbstverständlich unbekannt waren, und erst später, nach fünf Tagen, erriet sie, warum er ihrer Verschwiegenheit so sehr gemißtraut und neue Ausbrüche ihres Unwillens so sehr gefürchtet hatte.
Zwischen sieben und acht Uhr abends, als es bereits ganz dunkel geworden war, versammelten sich am Rande der Stadt in der Fomin-Gasse, in einem kleinen, schief gewordenen Häuschen, in der Wohnung des Fähnrichs Erkel die »Unsrigen« vollzählig als Fünferkomitee. Obwohl Peter Stepanowitsch diese Versammlung selbst angesetzt hatte, verspätete er sich doch in unverzeihlicher Weise, und die Mitglieder mußten eine Stunde lang auf ihn warten. Dieser Fähnrich Erkel war jener selbe von auswärts gekommene junge Offizier, der an dem Abende bei Wirginski die ganze Zeit über mit dem Bleistifte in der Hand und mit dem Notizbuche vor sich dagesessen hatte. Er war erst vor kurzem in die Stadt gekommen, hatte sich ganz allein in einer stillen Gasse bei zwei Schwestern, alten Kleinbürgerinnen, eingemietet und mußte bald wieder abreisen; bei ihm zusammenzukommen konnte am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Dieser sonderbare junge Mensch zeichnete sich durch eine ganz ungewöhnliche Schweigsamkeit aus: er konnte zehn Abende hintereinander in lärmender Gesellschaft und bei den interessantesten Gesprächen dasitzen, ohne selbst ein Wort zu sagen, wobei er aber mit der größten Aufmerksamkeit seine kindlichen Augen auf die Redenden richtete und zuhörte. Er hatte ein sehr hübsches und sogar ein sehr kluges Gesicht. Zum Fünferkomitee gehörte er nicht; die »Unsrigen« nahmen an, daß er irgendwelche besonderen Aufträge rein exekutiver Art habe. Jetzt ist bekannt, daß er keinerlei Aufträge hatte, ja schwerlich selbst seine Lage begriff. Er beugte sich nur vor Peter Stepanowitsch, den er erst vor kurzem kennen gelernt hatte. Wäre er mit einem vorzeitig sittlich verdorbenen Menschen zusammengekommen und hätte ihn dieser unter irgendeinem sozialistisch und romantisch klingenden Vorwande dazu angeregt, eine Räuberbande zu bilden, und ihm als Probestück befohlen, den ersten besten Bauer totzuschlagen und auszuplündern, so wäre er unfehlbar hingegangen und hätte das gehorsam ausgeführt. Er hatte irgendwo eine kranke Mutter wohnen, der er die Hälfte seines kärglichen Gehaltes schickte; – und wie mochte sie diesen armen Blondkopf küssen und für ihn zittern und für ihn beten! Ich habe über ihn so ausführlich gesprochen, weil er mir sehr leid tut.
Die »Unsrigen« befanden sich in großer Aufregung. Die Ereignisse der vorhergehenden Nacht waren ihnen überraschend gekommen und schienen sie ängstlich gemacht zu haben. Der einfache, wiewohl systematisch organisierte Skandal, an dessen Vorbereitung sie sich bisher so eifrig beteiligt hatten, hatte sich in einer für sie unerwarteten Weise entwickelt. Die nächtliche Feuersbrunst, die Ermordung der beiden Lebjadkins, die Gewalttätigkeit der Menge gegen Lisa, all das waren Überraschungen, die in ihrem Programm nicht vorgesehen gewesen waren. Mit Heftigkeit beschuldigten sie die Hand, die sie leitete, des Despotismus und der Unaufrichtigkeit. Kurz, während sie auf Peter Stepanowitsch warteten, hetzten sie einander dergestalt auf, daß sie wieder beschlossen, ihn noch einmal energisch um eine unumwundene Erklärung zu ersuchen und, wenn er wieder ausweichen sollte, wie das schon dagewesen war, sogar das Fünferkomitee aufzulösen, aber mit der Absicht, an seiner Statt eine neue geheime Gesellschaft »der Propaganda der Idee« zu gründen, und zwar auf eigene Hand und auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Demokratie. Liputin, Schigalew und der Kenner des Volkes unterstützten diesen Gedanken ganz besonders; Ljamschin verhielt sich schweigsam, wiewohl er eine zustimmende Miene machte. Wirginski schwankte und wünschte zunächst Peter Stepanowitsch zu hören. Man entschied sich dafür, Peter Stepanowitsch zu hören; aber dieser kam immer noch nicht; durch eine derartige Rücksichtslosigkeit wurde die Erbitterung noch gesteigert. Erkel schwieg vollständig und beschränkte sich darauf, Tee zu reichen, den er von seinen Wirtinnen eigenhändig in Gläsern auf einem Präsentierbrett holte; einen Samowar hatte er nicht hereingebracht, auch ließ er die Magd nicht ins Zimmer.
Peter Stepanowitsch erschien erst um halb neun. Mit schnellen Schritten ging er zu dem runden Sofatisch, an dem die Gesellschaft Platz genommen hatte; er behielt seine Mütze in der Hand und lehnte den Tee ab. Seine Miene war ärgerlich, streng und hochmütig. Wahrscheinlich hatte er sofort an den Gesichtern gemerkt, daß sie »rebellierten«.
»Ehe ich den Mund auftue, packen Sie Ihren Kram aus; Sie haben etwas vor,« bemerkte er mit einem boshaften Lächeln, indem er seinen Blick über die Gesichter schweifen ließ.
Liputin begann »im Namen aller« und erklärte mit einer Stimme, die im Gefühl der erlittenen Kränkung zitterte, wenn das so weitergehe, könne man sich selbst die Stirn zerschlagen. Oh, sie fürchteten sich ganz und gar nicht davor, sich die Stirn zu zerschlagen, und seien sogar dazu bereit, aber einzig und allein für die gemeinsame Sache (allgemeine Bewegung und Zustimmung). Aber deshalb müsse man auch ihnen gegenüber aufrichtig sein, damit sie immer im voraus unterrichtet seien; was solle sonst daraus werden? (wieder Bewegung, einige Kehllaute). »Ein solches Verfahren ist demütigend und gefährlich. Wir sagen das durchaus nicht, weil wir Furcht hätten; aber wenn nur ein einziger handelt und alle übrigen weiter nichts als Steine im Brett sind, dann kann es kommen, daß der eine einen Fehler macht und alle dadurch zugrunde gehen.« (Zurufe: »Ja, ja!« Allgemeine Zustimmung.)
»Hol's der Teufel, was wollen Sie denn eigentlich?«
»Welche Beziehung zur gemeinsamen Sache«, fuhr Liputin fort, der vor Wut kochte, »haben die Intrigen dieses Herrn Stawrogin? Mag er auch auf irgendwelche geheime Weise zur Zentrale gehören, falls überhaupt diese phantastische Zentrale wirklich existiert; indes das wollen wir gar nicht wissen. Aber inzwischen ist ein Mord begangen, die Polizei ist in Bewegung gekommen, und man wird dem Faden nachgehen bis zum Knäuel.«
»Sie werden mit Stawrogin zugrunde gehen, und wir ebenfalls,« fügte der Kenner des Volkes hinzu.
»Und ohne allen Nutzen für die gemeinsame Sache,« schloß Wirginski in trübem Tone.
»Was ist das für Unsinn! Der Mord ist ein zufälliges Ereignis; Fedka hat ihn begangen, um zu rauben.«
»Hm! Es ist doch ein sonderbares Zusammentreffen,« sagte Liputin, sich zusammenkrümmend.
»Na, man kann sogar sagen, daß gerade Sie die Schuld an dem Morde tragen.«
»Wieso? Was soll das heißen?«
»Erstens haben Sie, Liputin, sich selbst an dieser Intrige beteiligt, und zweitens, was die Hauptsache ist, war Ihnen befohlen worden, Lebjadkin wegzuschaffen, und es war Ihnen zu diesem Zwecke Geld gegeben worden; aber was taten Sie? Hätten Sie ihn weggeschafft, dann wäre nichts passiert.«
»Aber haben denn nicht Sie selbst den Gedanken ausgesprochen, daß es gut wäre, wenn man ihn das Gedicht vorlesen ließe?«
»Ein Gedanke ist kein Befehl. Der Befehl lautete, Sie sollten ihn wegschaffen.«
»Der Befehl! Ein recht sonderbarer Ausdruck! ... Vielmehr haben Sie mir ausdrücklich befohlen, die Wegschaffung zu verschieben.«
»Sie irren sich und reden töricht und eigenwillig. Der Mord aber ist Fedkas Tat, und er hat sie ganz allein begangen, um zu rauben. Sie haben auf das Gerede der Menschen hingehört und es geglaubt. Sie haben es mit der Angst bekommen. Stawrogin ist nicht so dumm; und der Beweis dafür ist, daß er heute um zwölf Uhr mittags nach einem Gespräche mit dem Vizegouverneur weggefahren ist; wenn irgend etwas gegen ihn vorläge, hätte man ihn nicht am hellen, lichten Tage nach Petersburg fahren lassen.«
»Wir behaupten ja auch gar nicht, daß Herr Stawrogin den Mord selbst begangen hat,« erwiderte Liputin giftig und ohne sich zu genieren. »Möglicherweise hat er nicht einmal etwas davon gewußt, ebensowenig wie ich; und das ist Ihnen selbst sehr wohl bekannt, daß ich nichts davon gewußt habe, obgleich ich wie ein Hammel von selbst in den Kochkessel hineingestiegen bin.«
»Wen beschuldigen Sie denn?« fragte Peter Stepanowitsch, ihn finster anblickend.
»Eben diejenigen, die für nötig gehalten haben die Stadt anzuzünden.«
»Das Schlimmste ist, daß Sie sich so gewundener Ausdrücke bedienen. Wollen Sie übrigens dies hier gefälligst lesen und es den andern zeigen: nur so zur Kenntnisnahme.«
Er zog Lebjadkins anonymen Brief an Lembke aus der Tasche und übergab ihn Liputin. Dieser las ihn durch, wunderte sich offenbar sehr und gab ihn seinem Nachbar; der Brief machte schnell die Runde.
»Ist das wirklich Lebjadkins Handschrift?« bemerkte Schigalew.
»Ja, es ist seine Handschrift,« erklärten Liputin und Tolkatschenko (das heißt der Kenner des Volkes).
»Ich wollte Ihnen den Brief nur zur Kenntnisnahme vorlegen, und weil ich weiß, daß Sie an Lebjadkins Schicksal so herzlichen Anteil nehmen,« sagte Peter Stepanowitsch, als er den Brief wieder in Empfang nahm. »Auf diese Weise, meine Herren, hat ein gewisser Fedka uns ganz zufällig von einem gefährlichen Menschen befreit. Da sieht man, was der Zufall manchmal zu bedeuten hat! Nicht wahr, das ist lehrreich?«
Die Mitglieder wechselten untereinander schnelle Blicke.
»Aber jetzt, meine Herren, ist die Reihe zu fragen an mir,« fuhr Peter Stepanowitsch fort und nahm eine würdevolle Haltung an. »Gestatten Sie die Frage, wie Sie dazu gekommen sind, die Stadt ohne Erlaubnis in Brand zu stecken?«
»Was soll das heißen? Wir, wir sollen die Stadt in Brand gesteckt haben? Sie sind wohl nicht bei Troste!« riefen die Versammelten durcheinander.
»Ich weiß ja, daß Sie schon gar zu übermütig geworden sind,« fuhr Peter Stepanowitsch hartnäckig fort; »aber das ist doch eine andere Sache als die kleinen Skandälchen, die Sie sich mit Julija Michailowna erlaubt haben. Ich habe Sie hier versammelt, meine Herren, um Ihnen die Größe der Gefahr darzulegen, die Sie so törichterweise auf sich heraufbeschwören, und die auch außer Ihnen nur zu vieles bedroht.«
»Erlauben Sie, wir beabsichtigten jetzt eben im Gegenteil bei Ihnen Verwahrung einzulegen gegen den Despotismus und die Überhebung, womit über die Köpfe der Mitglieder hinweg eine so ernste und gleichzeitig so sonderbare Maßregel ergriffen worden ist,« erklärte der bis dahin so schweigsame Wirginski ganz empört.
»Also Sie leugnen es? Aber ich behaupte, daß Sie die Stadt angezündet haben, Sie allein und kein anderer. Meine Herren, lügen Sie nicht; ich habe zuverlässige Beweise. Durch Ihre Eigenmächtigkeit haben Sie sogar die gemeinsame Sache in Gefahr gebracht. Sie sind nur eine einzelne Masche in einem gewaltigen Netze und der Zentrale gegenüber zu blindem Gehorsam verpflichtet. Trotzdem haben drei von Ihnen Schpigulinsche Arbeiter zur Brandstiftung aufgereizt, ohne dazu die geringste Instruktion zu besitzen, und so hat denn die Brandstiftung auch wirklich stattgefunden.«
»Welche drei? Welche drei von uns?«
»Vorgestern zwischen drei und vier Uhr in der Nacht haben Sie, Tolkatschenko, den Fabrikarbeiter Fomka Sawjalow im ›Vergißmeinnicht‹ dazu beredet.«
»Aber ich bitte Sie!« rief dieser, halb aufspringend, »ich habe kaum ein Wort zu ihm gesagt, und auch das ohne besondere Absicht, nur so, weil er am Morgen durchgepeitscht worden war; und ich habe die Sache sofort wieder fallen lassen, da ich sah, daß er zu betrunken war. Wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten, würde ich die Sache vollständig vergessen haben. Von einem Worte konnte nichts anbrennen.«
»Sie reden gerade wie jener, der sich darüber wunderte, daß von einem einzigen Fünkchen ein ganze Pulverfabrik in die Luft geflogen war.«
»Ich habe es flüsternd gesagt und in einer Ecke, ihm ins Ohr; wie haben Sie es wiedererfahren können?« fragte auf einmal Tolkatschenko, der sich das vergebens überlegt hatte.
»Ich habe dort unter dem Tische gesessen. Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren, ich kenne alle Ihre Schritte. Sie lächeln boshaft, Herr Liputin? Aber ich weiß zum Beispiel, daß Sie vorvorgestern um Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer, als Sie sich zu Bette legten, Ihre Frau arg gekniffen haben.«
Liputin sperrte den Mund auf und wurde blaß.
(Später wurde bekannt, daß er von Liputins Heldentat durch Agasja, dessen Dienstmädchen, erfahren hatte, der er gleich von Anfang an Geld für Spionendienste bezahlt hatte, was sich erst in der Folge herausstellte.)
»Darf auch ich eine Tatsache konstatieren?« fragte Schigalew, indem er sich erhob.
»Tun Sie das!«
Schigalew setzte sich und machte sich fertig:
»Soweit ich es verstanden habe, und es war ja auch nicht mißzuverstehen, haben Sie selbst am Anfang und nachher noch einmal mit sehr beredten Worten, wiewohl nur rein theoretisch, ein Bild von Rußland entworfen, das mit einem gewaltigen, maschenreichen Netze bedeckt sei. Jede der tätigen Gruppen habe ihrerseits die Aufgabe, Proselyten zu machen, sich durch seitliche Verzweigungen auszudehnen und durch eine systematische, sich gegen alle Mißbräuche richtende Propaganda ununterbrochen das Ansehen der örtlichen Behörden zu erschüttern, in den Ortschaften Mißtrauen zu erregen, Zynismus und Skandalgeschichten, völligen Unglauben an alles Mögliche, sowie die Begierde nach etwas Besserem hervorzurufen und schließlich durch das Operieren mit Brandstiftungen als dem volkstümlichsten Mittel das Land im vorgeschriebenen Augenblicke nötigenfalls sogar in Verzweiflung zu stürzen. Sind das Ihre Worte? Ich habe mich bemüht, sie buchstäblich im Gedächtnisse zu behalten. Ist das Ihr Aktionsprogramm, das Sie uns in Ihrer Eigenschaft als Bevollmächtigter des zentralen, aber uns bisher völlig unbekannten und für uns beinah phantastischen Komitees mitgeteilt haben?«
»Es ist richtig; nur treten Sie die Sache zu breit.«
»Ein jeder hat das Recht, sich in seiner Weise auszusprechen. Indem Sie uns zu verstehen gaben, daß solcher einzelnen Maschen des allgemeinen Netzes, das schon jetzt Rußland überziehe, zur Zeit mehrere Hunderte beständen, und indem Sie die Anschauung entwickelten, daß, wenn ein jeder seine Sache prompt ausführe, ganz Rußland im gegebenen Augenblicke auf ein Signal ...«
»Ach, hol's der Teufel, ich habe auch schon ohne Sie genug zu tun!« rief Peter Stepanowitsch, sich auf seinem Lehnstuhl ungeduldig hin und her drehend.
»Nun gut, ich werde mich kurz fassen und schließe mit einer Frage: wir haben hier bereits Skandalgeschichten erlebt; wir haben die Unzufriedenheit der Einwohnerschaft gesehen; wir sind bei dem Zusammenbruch der hiesigen Regierungsbehörde zugegen gewesen und haben daran teilgenommen; und wir haben schließlich mit eigenen Augen eine Feuersbrunst gesehen. Womit sind Sie denn unzufrieden? Ist das nicht Ihr Programm? Was können Sie uns für einen Vorwurf machen?«
»Den Vorwurf der Eigenmächtigkeit!« schrie Peter Stepanowitsch wütend. »Solange ich hier bin, dürfen Sie nicht wagen, ohne meine Erlaubnis zu handeln. Aber genug davon! Eine Denunziation steht unmittelbar bevor, und vielleicht schon morgen oder heute nacht werden Sie festgenommen werden. Nun wissen Sie es! Die Nachricht ist zuverlässig.«
Jetzt sperrten alle den Mund auf.
»Sie werden nicht nur als Aufhetzer zur Brandstiftung, sondern auch als Fünferkomitee festgenommen werden. Dem Denunzianten ist das ganze Geheimnis des Netzes bekannt. Das haben Sie mit Ihren Streichen angerichtet!«
»Gewiß Stawrogin!« rief Liputin.
»Wie? ... Warum Stawrogin?« Peter Stepanowitsch schien zu stocken. »Unsinn!« fuhr er, sich sogleich besinnend, fort, »es ist Schatow! Es ist Ihnen wohl schon allen bekannt, daß Schatow früher dem Bunde angehörte. Ich muß Ihnen die Enthüllung machen, daß ich ihn durch Personen, gegen die er keinen Argwohn hegt, habe beobachten lassen und zu meinem Erstaunen erfahren habe, daß für ihn die Einrichtung des Netzes und kurz gesagt alles kein Geheimnis ist. Um sich von der Anklage wegen früherer Beteiligung zu retten, wird er alle denunzieren. Bisher hat er immer noch geschwankt, und ich habe ihn geschont. Jetzt haben Sie ihn durch diese Feuersbrunst entfesselt: das hat ihm einen starken Eindruck gemacht, und er wird nun nicht mehr schwanken. Schon morgen werden wir als Brandstifter und politische Verbrecher arretiert werden.«
»Ist das sicher? Woher weiß es Schatow?«
Die Aufregung war eine unbeschreibliche.
»Alles ist vollkommen sicher. Ich bin nicht berechtigt, Ihnen meine Wege, und wie ich das alles entdeckt habe, zu enthüllen; aber hören Sie, was ich einstweilen für Sie tun kann: ich kann durch eine bestimmte Persönlichkeit auf Schatow so einwirken, daß er, ganz ohne Verdacht zu schöpfen, die Denunziation noch aufschiebt, aber nicht länger als für einen Tag. Für längere Zeit als einen Tag kann ich es nicht erreichen. Somit können Sie sich bis übermorgen als gesichert betrachten.«
Alle schwiegen.
»Da müßte man ja ihn selbst zum Teufel schicken!« rief als erster Tolkatschenko.
»Das hätte man schon längst tun sollen!« fiel Ljamschin grimmig ein und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Aber wie soll man es machen?« murmelte Liputin.
Peter Stepanowitsch griff diese Frage sofort auf und setzte seinen Plan auseinander. Derselbe bestand darin, Schatow zwecks Übergabe der in seinen Händen befindlichen geheimen Druckerei morgen bei Einbruch der Nacht an den einsamen Ort zu locken, wo sie vergraben war, und »dort dann das Erforderliche zu tun«. Er ging auf viele notwendige Einzelheiten ein, die wir jetzt weglassen, und setzte umständlich die gegenwärtigen zweideutigen Beziehungen Schatows zum Zentralkomitee auseinander, die dem Leser bereits bekannt sind.
»Alles ganz gut,« bemerkte Ljamschin unsicher; »aber wenn da wieder ... ein neues Ereignis von derselben Art stattfindet ... so wird das die Leute gar zu stutzig machen.«
»Ohne Zweifel,« stimmte ihm Peter Stepanowitsch bei; »aber auch das ist vorhergesehen. Es gibt ein Mittel, um den Verdacht völlig abzulenken.«
Und er erzählte mit derselben Genauigkeit, wie vorher, von Kirillow, von seiner Absicht, sich zu erschießen, und wie er versprochen habe, auf das Signal zu warten und bei seinem Tode ein Schriftstück zu hinterlassen und alles auf sich zu nehmen, was man ihm diktieren werde. (Kurz, alles, was dem Leser bereits bekannt ist.)
»Sein fester Entschluß, sich des Lebens zu berauben, ein philosophischer und meiner Ansicht nach verrückter Entschluß, ist ›dort‹ bekannt geworden,« fuhr Peter Stepanowitsch in seiner Auseinandersetzung fort. »›Dort‹ läßt man auch nicht das Kleinste, nicht das Unbedeutendste unbenutzt; alles wird zum Vorteile der gemeinsamen Sache verwertet. Da man den Nutzen vorhersah und sich überzeugt hatte, daß sein Entschluß durchaus ernst ist, so hat man ihm die Mittel zur Rückreise nach Rußland gewährt (er wollte aus irgendwelchem Grunde unbedingt in Rußland sterben), ihm einen Auftrag erteilt, den er sich verpflichtete auszuführen und auch ausgeführt hat, und ihn überdies durch das Ihnen bereits mitgeteilte Versprechen verpflichtet, seinem Leben erst dann ein Ende zu machen, wenn man es ihm sagen werde. Er hat alles versprochen. Beachten Sie, daß er mit unserer gemeinsamen Sache auf besonderer Grundlage in Beziehung steht und sich nützlich zu machen wünscht; mehr darf ich Ihnen nicht enthüllen. Morgen, nach Erledigung der Schatowschen Angelegenheit, werde ich ihm ein Schriftstück diktieren, daß er Schatow umgebracht habe. Das wird sehr glaublich erscheinen: sie sind Freunde gewesen und zusammen nach Amerika gereist; dort haben sie sich entzweit, und das alles wird in dem Schriftstück dargelegt werden ... und ... und je nach den Umständen werde ich Kirillow auch sonst noch dies und das in die Feder diktieren können, zum Beispiel von den Proklamationen und womöglich auch etwas über die Brandstiftung. Darüber werde ich übrigens noch nachdenken. Beunruhigen Sie sich nicht; er ist frei von Vorurteilen; er wird alles unterschreiben.«
Es wurden Zweifel geäußert. Die Geschichte erschien phantastisch. Über Kirillow hatten übrigens alle schon mehr oder weniger etwas gehört, Liputin das meiste von allen.
»Er wird auf einmal anderen Sinnes werden und nicht wollen,« sagte Schigalew. »So oder so, jedenfalls ist er ein Verrückter und die Hoffnung auf ihn eine unsichere Sache.«
»Seien Sie ohne Sorge, meine Herren; er wird wollen,« erwiderte Peter Stepanowitsch, weitere Einwendungen abschneidend. »Nach der Verabredung bin ich verpflichtet, ihn tags zuvor, also heute noch, zu benachrichtigen. Ich lade Liputin ein, sofort mit mir zu ihm zu gehen und sich zu vergewissern; und bei der Rückkehr wird er dann Ihnen, meine Herren, nötigenfalls heute noch mitteilen, ob ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Übrigens,« unterbrach er sich plötzlich in sehr gereiztem Tone, wie wenn er sich auf einmal bewußt würde, daß er diesen geringwertigen Menschen gar zu viel Ehre antue, wenn er sie so zu überzeugen versuche und sich mit ihnen abmühe, »übrigens mögen Sie handeln, wie es Ihnen beliebt. Wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, ist der Bund zerrissen, aber einzig und allein durch Ihren Ungehorsam und Ihre Verräterei. Auf diese Weise sind wir von diesem Augenblicke an geschiedene Leute. Wissen Sie aber, daß Sie in solchem Falle außer der Unannehmlichkeit der Schatowschen Denunziation und ihrer Folgen sich auch noch eine kleine Unannehmlichkeit zuziehen, die bei der Bildung des Bundes klar ausgesprochen worden ist. Was mich anlangt, so fürchte ich mich nicht allzu sehr vor Ihnen, meine Herren ... Glauben Sie nicht, daß ich schon so fest mit Ihnen verbunden bin ... Übrigens ist das ganz gleichgültig.«
»Nein, wir sind entschlossen,« erklärte Ljamschin.
»Einen anderen Ausweg gibt es nicht,« murmelte Tolkatschenko, »und wenn Liputin das wirklich über Kirillow bestätigt, dann ...«
»Ich bin dagegen; aus aller Kraft meiner Seele protestiere ich gegen einen solchen Blutbeschluß!« sagte Wirginski und erhob sich von seinem Platze.
»Aber?« fragte Peter Stepanowitsch.
»Was meinen Sie mit ›aber‹?«
»Sie sagten ›aber‹ ... und ich warte auf die Fortsetzung.«
»Ich habe, soviel ich weiß, nicht ›aber‹ gesagt ... Ich wollte nur sagen: wenn dieser Beschluß gefaßt wird, dann ...«
»Nun, dann?«
Wirginski verstummte.
»Ich meine, man kann die Sicherheit des eigenen Lebens geringschätzen,« sagte Erkel, der plötzlich auch einmal den Mund auftat; »aber wenn die gemeinsame Sache dadurch leiden kann, so darf man, meine ich, die Sicherheit des eigenen Lebens nicht geringschätzen ...«
Er verwirrte sich und errötete. Wie sehr auch alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt waren, so blickten ihn doch alle erstaunt an; so unerwartet kam es ihnen, daß auch er angefangen hatte zu reden.
»Ich bin für die gemeinsame Sache,« erklärte Wirginski plötzlich.
Alle erhoben sich von ihren Plätzen. Es wurde beschlossen, am nächsten Mittage noch einmal Nachrichten auszutauschen, ohne daß alle an einem Orte zusammenkämen, und dann eine endgültige Verabredung zu treffen. Es wurde der Ort bezeichnet, wo die Druckerei vergraben war, und die Rollen und Obliegenheiten verteilt. Liputin und Peter Stepanowitsch begaben sich unverzüglich zusammen zu Kirillow.
Daran, daß Schatow denunzieren wolle, glaubten die »Unsrigen« sämtlich; aber daran, daß Peter Stepanowitsch mit ihnen wie mit Brettsteinen spiele, glaubten sie ebenfalls. Aber sie wußten alle, daß sie trotzdem am folgenden Tage vollzählig am bezeichneten Platze erscheinen würden, und daß Schatows Schicksal besiegelt sei. Sie fühlten, daß sie wie Fliegen in das Netz einer riesigen Spinne hineingeraten seien; sie waren ergrimmt, aber sie zitterten vor Furcht.
Peter Stepanowitsch hatte sie ihrer Ansicht nach entschieden ungehörig behandelt; die ganze Sache hätte einen viel glatteren, leichteren Verlauf genommen, wenn er sich auch nur ein bißchen Mühe gegeben hätte, die Wirklichkeit auszuschmücken. Statt die beabsichtigte Tat in einem anständigen Lichte darzustellen, etwa als den Ausfluß römischen Bürgersinnes oder etwas Ähnliches, hatte er nur die grobe Furcht und die Bedrohung ihrer eigenen Haut als Moment verwertet, was einfach eine Unhöflichkeit war. Gewiß, überall in der Welt herrschte der Kampf ums Dasein, und ein anderes Prinzip des Handelns gab es nicht; das war ihnen allen bekannt; aber dennoch ...
Aber Peter Stepanowitsch hatte keine Zeit, die Römer in Bewegung zu bringen; er war selbst aus dem Geleise geworfen. Stawrogins Flucht hatte ihn niedergeschmettert und betäubt. Seine Mitteilung, daß Stawrogin eine Unterredung mit dem Vizegouverneur gehabt habe, war eine Lüge gewesen; das war es ja eben, daß dieser weggefahren war, ohne mit irgend jemand, nicht einmal mit seiner Mutter, geredet zu haben; und es war in der Tat seltsam, daß man ihn so ganz unbehelligt gelassen hatte. (In dieser Hinsicht mußte sich unsere Behörde in der Folgezeit besonders verantworten.) Peter Stepanowitsch hatte sich den ganzen Tag über erkundigt, aber bisher nichts Näheres erfahren und hatte sich noch nie in solcher Unruhe befunden. Und wie konnte er denn auch so plötzlich auf Stawrogin verzichten? Dies war denn auch der Grund, weshalb er nicht imstande war, mit den »Unsrigen« allzu zart zu verfahren. Zudem fühlte er sich durch sie in ärgerlicher Weise gebunden: er hatte sich schon vorgenommen gehabt, unverzüglich Stawrogin nachzueilen, und nun hielt ihn die Sache mit Schatow zurück, auch mußte er das Fünferkomitee für alle Fälle fest zusammenschweißen. »Ich darf das Komitee nicht so ohne weiteres hinwerfen; am Ende ist es doch noch zu etwas zu gebrauchen;« so dachte er, wie ich annehme.
Was Schatow anlangte, so war er völlig davon überzeugt, daß dieser eine Denunziation einreichen werde. Er hatte zwar alles erlogen, was er den »Unsrigen« über die Denunziation gesagt hatte; nie hatte er etwas Derartiges zu sehen oder zu hören bekommen; aber daß eine solche stattfinden werde, war ihm so sicher wie zweimal zwei vier. Er war speziell der Ansicht, Schatow werde sich die letzten Ereignisse, den Tod Lisas und den Tod Marja Timofejewnas, furchtbar zu Herzen nehmen und gerade jetzt sich zu einer Denunziation entschließen. Wer weiß, vielleicht hatte er auch einigen Anlaß, dies zu vermuten. Bekannt ist auch, daß er Schatow persönlich haßte; es hatte zwischen ihnen früher einmal ein Streit stattgefunden, und Peter Stepanowitsch verzieh eine Beleidigung niemals. Ich bin sogar überzeugt, daß dies für ihn die Hauptursache war.
Die Ziegeltrottoirs in unserer Stadt sind schmal, und ebenso die hölzernen Brückchen. Peter Stepanowitsch ging in der Mitte des Trottoirs, so daß er es ganz einnahm, ohne die geringste Rücksicht auf Liputin zu nehmen, der neben ihm keinen Raum fand und genötigt war, entweder einen Schritt hinter ihm herzulaufen oder, wenn er des Gesprächs wegen neben ihm gehen wollte, auf die Straße in den Schmutz hinauszutreten. Peter Stepanowitsch erinnerte sich plötzlich, daß er vor ganz kurzer Zeit genau ebenso durch den Schmutz gelaufen war, um mit Stawrogin Schritt zu halten, der, gerade wie er jetzt, in der Mitte gegangen war und das ganze Trottoir eingenommen hatte. Er dachte an diese ganze Szene, und eine rasende Wut benahm ihm den Atem.
Aber auch Liputin war wütend über die Beleidigung. Mochte Peter Stepanowitsch die andern »Unsrigen« behandeln, wie es ihm gut dünkte; aber ihn? Er »wußte« ja doch mehr als alle jene, stand der gemeinsamen Sache näher, war tiefer in sie eingeweiht und hatte bisher zwar nur indirekt, aber doch ununterbrochen sich an ihr beteiligt. Oh, er wußte, daß Peter Stepanowitsch auch ihn jetzt »schlimmstenfalls« vernichten konnte. Aber er haßte diesen Peter Stepanowitsch schon lange, und zwar nicht wegen dieser Gefahr, sondern wegen seines hochmütigen Benehmens. Jetzt, wo man sich zu einer solchen Tat hatte entschließen müssen, war er mehr ergrimmt als all die »Unsrigen« zusammengenommen. Er wußte leider, daß er »wie ein Sklave« morgen jedenfalls als der erste auf dem Platze sein und auch noch alle übrigen hinbringen werde, und hätte er jetzt, vor dem morgigen Tage, Peter Stepanowitsch auf irgendeine Weise, ohne sich selbst ins Verderben zu stürzen, töten können, so würde er ihn selbstverständlich unbedingt getötet haben.
In seine Gedanken versunken, schwieg er und ging furchtsam hinter seinem Peiniger her. Dieser schien ihn ganz vergessen zu haben; er stieß ihn nur mitunter unachtsamer und unhöflicher Weise mit dem Ellbogen an. Auf einmal blieb Peter Stepanowitsch in einer unserer ansehnlichsten Straßen stehen und ging in ein Restaurant hinein.
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Liputin, vor Wut kochend. »Das ist ja ein Restaurant.«
»Ich will ein Beefsteak essen.«
»Aber ich bitte Sie, da sind ja immer eine Menge Menschen!«
»Na, das schadet ja nichts!«
»Aber ... wir werden zu spät kommen. Es ist schon zehn Uhr.«
»Da kommt man nie zu spät.«
»Aber ich werde mich verspäten! Die da warten auf meine Rückkehr.«
»Na, mögen sie; es wäre nur dumm von Ihnen, wenn Sie noch einmal zu denen hingingen. Ich habe infolge der Plackerei, die ich um Ihretwillen gehabt habe, heute noch nicht zu Mittag gespeist. Und je später wir zu Kirillow kommen, um so besser ist es.«
Peter Stepanowitsch nahm ein besonderes Zimmer. Liputin setzte sich ärgerlich und beleidigt in einiger Entfernung von ihm auf einen Lehnstuhl und sah zu, wie jener aß. So verging eine halbe Stunde und mehr. Peter Stepanowitsch beeilte sich nicht; er aß mit Behagen, klingelte, verlangte anderen Senf, dann Bier und redete die ganze Zeit über kein Wort. Er war in tiefes Nachdenken versunken. Er konnte zwei Dinge zugleich tun: mit Appetit essen und angestrengt nachdenken. Liputin wurde schließlich so wütend auf ihn, daß er nicht imstande war, seine Blicke von ihm loszureißen. Sein Zustand hatte Ähnlichkeit mit einem nervösen Anfall. Er zählte jeden Bissen des Beefsteaks, den dieser zum Munde führte, haßte ihn für die Art, wie er den Mund öffnete, wie er kaute, wie er wohlgefällig einen besonders saftigen Bissen aussog, haßte sogar das Beefsteak. Zuletzt verwirrten sich die Gegenstände vor seinen Augen; der Kopf wurde ihm etwas schwindlig; es lief ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken.
»Sie haben nichts zu tun; lesen Sie einmal dies hier!« sagte auf einmal Peter Stepanowitsch und warf ihm ein Blatt Papier hin.
Liputin setzte sich näher an die Kerze heran. Das Blatt war mit kleiner, schlechter Schrift bedeckt; in jeder Zeile fanden sich Ausstreichungen. Als Liputin sich hindurchgearbeitet hatte, hatte Peter Stepanowitsch schon bezahlt und ging weg. Auf dem Trottoir reichte Liputin ihm das Blatt wieder hin.
»Behalten Sie es an sich; ich werde gleich darüber reden. Übrigens, was sagen Sie dazu?«
Liputin bebte am ganzen Leibe.
»Meiner Ansicht nach ... ist eine solche Proklamation ... nur eine lächerliche Abgeschmacktheit.«
Sein Ingrimm kam zum Durchbruch; er hatte ein Gefühl, als ob er von einem Sturmwinde gepackt und vorwärts getrieben werde.
»Wenn wir uns entschließen,« fuhr er, über und über leise zitternd, fort, »solche Proklamationen zu verbreiten, so bewirken wir, daß man uns wegen unserer Dummheit und Unkenntnis der Verhältnisse verachtet.«
»Hm! Ich denke darüber anders,« versetzte Peter Stepanowitsch und ging festen Schrittes weiter.
»Ich denke so, wie ich sagte; haben Sie das denn wirklich selbst verfaßt?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Ich glaube auch, daß das Gedicht ›Eine glänzende Persönlichkeit‹ das kläglichste Machwerk ist, das es überhaupt nur geben kann, und unmöglich von Herzen herrührt.«
»Sie reden Unsinn; das Gedicht ist gut.«
»Ich wundere mich zum Beispiel auch darüber,« fuhr Liputin fort, während er immer, mühsam atmend, nebenher galoppierte, »daß man uns zu einer Handlungsweise auffordert, bei der alles zusammenstürzt. In Westeuropa ist der Wunsch, daß alles zusammenstürzen möge, ein natürlicher, weil es da ein Proletariat gibt; aber wir hier sind nur Liebhaber und tun meiner Ansicht nach nur groß.«
»Ich meinte, Sie seien ein Anhänger Fouriers.«
»Bei Fourier steht etwas anderes, etwas ganz anderes.«
»Ich weiß, daß da Unsinn steht.«
»Nein, bei Fourier steht kein Unsinn ... Nehmen Sie es mir nicht übel, ich kann aber schlechterdings nicht glauben, daß im Mai ein Aufstand stattfinden wird.«
Liputin knöpfte sich sogar den Rock auf; so heiß war ihm geworden.
»Nun genug davon!« sagte Peter Stepanowitsch, indem er mit der größten Kaltblütigkeit zu einem andern Gegenstande übersprang; »ehe ich es vergesse: dieses Blatt haben Sie eigenhändig zu setzen und zu drucken. Wir werden Schatows Druckerei ausgraben, und Sie werden sie gleich morgen übernehmen. Sie werden die Proklamationen mit möglichster Beschleunigung setzen, möglichst viele Exemplare abziehen und sie dann den ganzen Winter über verbreiten. Über die Mittel und Wege werden Sie belehrt werden. Es sind recht viele Exemplare erforderlich, weil man Ihnen von anderen Orten aus welche abverlangen wird.«
»Nein, entschuldigen Sie; ich kann eine solche ... einen solchen Auftrag nicht übernehmen ... Ich weigere mich.«
»Und doch werden Sie ihn übernehmen. Ich handle nach der mir vom Zentralkomitee erteilten Instruktion, und Sie müssen gehorchen.«
»Ich glaube aber, daß unsere ausländischen Zentralen ganz vergessen haben, wie es in Rußland wirklich steht, und jede Fühlung verloren haben und darum nur dummes Zeug reden ... Ich glaube sogar, daß statt vieler Hunderte von Fünferkomitees in Rußland wir das einzige sind, und daß ein Netz überhaupt nicht existiert,« sagte Liputin endlich keuchend und atemlos.
»Um so verächtlicher ist Ihre Handlungsweise, wenn Sie, ohne an die Sache zu glauben, ihr doch nachgelaufen sind ... und jetzt mir nachlaufen wie ein gemeiner Köter.«
»Nein, ich laufe Ihnen nicht nach. Wir haben das volle Recht, uns von Ihnen loszusagen und eine neue Gesellschaft zu bilden.«
»Dumm-kopf!« rief Peter Stepanowitsch laut und drohend mit funkelnden Augen.
Beide blieben eine Zeitlang stehen und sahen einander an; dann drehte sich Peter Stepanowitsch um und setzte voll Selbstgefühl seinen früheren Weg fort.
Seinem Begleiter Liputin schoß wie ein Blitz ein Gedanke durch den Kopf:
»Ich werde mich umdrehen und zurückgehen; wenn ich mich jetzt nicht umdrehe, werde ich niemals zurückgehen.«
So dachte er genau zehn Schritte lang; aber beim elften Schritte flammte eine neue, tolle Idee in seinem Kopfe auf, und er drehte sich nicht um und ging nicht zurück.
Sie näherten sich dem Filippowschen Hause; aber noch ehe sie ganz hingelangt waren, schlugen sie ein Seitengäßchen oder, richtiger gesagt, einen kaum bemerkbaren Fußsteig an einem Zaune entlang ein, so daß sie sich eine Zeitlang auf der steilen Böschung eines Grabens fortarbeiten mußten, wo die Füße keinen Halt fanden und sie genötigt waren, sich mit den Händen am Zaune festzuhalten. Im dunkelsten Winkel des schief gewordenen Zaunes nahm Peter Stepanowitsch ein Brett heraus; es entstand eine Öffnung, durch die er sofort hindurchkroch. Liputin war verwundert, kroch aber ebenfalls hindurch; darauf wurde das Brett wieder eingefügt, wie es vorher gewesen war. Dies war jener geheime Zugang, durch welchen Fedka zu Kirillow zu schleichen pflegte.
»Schatow darf nicht wissen, daß wir hier sind,« flüsterte Peter Stepanowitsch dem andern in strengem Tone zu.
Wie immer um diese Stunde saß Kirillow auf seinem Ledersofa beim Tee. Er erhob sich nicht, um die Ankömmlinge zu begrüßen, sondern zuckte mit dem ganzen Körper zusammen und blickte die Eingetretenen unruhig an.
»Sie irren sich nicht,« sagte Peter Stepanowitsch; »ich komme gerade deswegen.«
»Heute?«
»Nein, nein, morgen ... um diese Zeit.«
Er setzte sich eilig an den Tisch und betrachtete mit einiger Unruhe den aufgeregten Kirillow. Dieser beruhigte sich übrigens bereits wieder und sah aus wie immer.
»Sehen Sie, diese Menschen wollen es durchaus nicht glauben. Hoffentlich sind Sie nicht böse darüber, daß ich Liputin mitgebracht habe?«
»Heute habe ich nichts dagegen; aber morgen will ich allein sein.«
»Aber nicht, bevor ich komme, und dann in meiner Gegenwart.«
»Ich möchte es nicht in Ihrer Gegenwart tun.«
»Sie erinnern sich, daß Sie versprochen haben, alles niederzuschreiben und zu unterschreiben, was ich Ihnen diktieren werde.«
»Es ist mir alles ganz egal. Werden Sie jetzt lange hierbleiben?«
»Ich muß mich mit jemand anderswo treffen und bis dahin noch etwa eine halbe Stunde warten; dann werde ich Ihrem Wunsche gemäß fortgehen; aber diese halbe Stunde werde ich noch hier sitzen.«
Kirillow schwieg. Liputin hatte unterdessen seitwärts Platz genommen, unter dem Bilde des Bischofs. Die tolle Idee von vorhin bemächtigte sich seiner immer mehr und mehr. Kirillow bemerkte ihn kaum. Liputin kannte Kirillows Theorie schon von früher her und hatte sich über ihn immer lustig gemacht; aber jetzt schwieg er und blickte finster um sich.
»Ich wäre auch nicht abgeneigt, Tee zu trinken,« sagte Peter Stepanowitsch, sich auf seinem Platze hin und her bewegend. »Ich habe soeben ein Beefsteak gegessen und rechnete darauf, bei Ihnen Tee zu bekommen.«
»Trinken Sie meinetwegen!«
»Früher boten Sie einem von selbst Tee an,« bemerkte Peter Stepanowitsch säuerlich.
»Das ist ganz egal. Liputin kann auch welchen trinken.«
»Nein, ich ... ich kann nicht.«
»Kann nicht oder will nicht?« fragte Peter Stepanowitsch, indem er sich schnell zu ihm umdrehte.
»Ich werde bei Herrn Kirillow nicht trinken,« erwiderte Liputin, nachdrücklich ablehnend.
Peter Stepanowitsch zog die Augenbrauen zusammen.
»Das riecht nach Mystizismus; weiß der Teufel, was für Kerle ihr alle seid!«
Niemand antwortete ihm; das Schweigen dauerte eine ganze Minute.
»Aber das Eine weiß ich,« fuhr er dann in scharfem Tone fort, »daß keine Vorurteile einen von uns davon abhalten können, seine Pflicht zu erfüllen.«
»Ist Stawrogin weggereist?« fragte Kirillow.
»Ja.«
»Daran hat er gut getan.«
Peter Stepanowitschs Augen fingen schon an zu funkeln; aber er beherrschte sich.
»Was Sie denken, ist mir gleichgültig, wenn nur jeder sein Wort hält.«
»Ich werde mein Wort halten.«
»Übrigens bin ich immer überzeugt gewesen, daß Sie als unabhängiger, fortschrittlich denkender Mensch Ihre Pflicht erfüllen werden.«
»Sie aber sind lächerlich.«
»Mag sein; ich freue mich sehr, wenn ich andere zum Lachen bringen kann. Es ist mir immer eine Freude, jemandem einen Dienst zu erweisen.«
»Sie wünschen sehr, daß ich mich erschieße, und fürchten, daß ich es auf einmal nicht tue?«
»Das heißt, sehen Sie wohl, Sie haben selbst Ihren Plan mit unseren Handlungen in Verbindung gesetzt. Da wir auf Ihren Plan rechneten, haben wir bereits ein Unternehmen eingeleitet, so daß Sie jetzt auf keine Weise sich weigern können, da Sie uns dazu gebracht haben.«
»Sie haben keinerlei Recht.«
»Ich verstehe, ich verstehe; Sie haben Ihren freien Willen und wir kein Recht; aber es ist zu wünschen, daß dieser Ihr freier Wille zur Ausführung gelangt.«
»Und ich soll alle Ihre Schändlichkeiten auf meine Kappe nehmen?«
»Hören Sie mal, Kirillow, Sie haben es doch nicht mit der Angst bekommen? Wenn Sie sich weigern wollen, so erklären Sie es sogleich!«
»Ich habe es nicht mit der Angst bekommen.«
»Ich meine, weil Sie anfangen, so viel zu fragen.«
»Werden Sie bald fortgehen?«
»Sie fragen schon wieder?«
Kirillow blickte ihn verächtlich an.
»Sehen Sie,« fuhr Peter Stepanowitsch fort, der sich immer mehr ärgerte und beunruhigte und nicht den richtigen Ton fand, »Sie wollen, daß ich fortgehe, damit Sie allein sind und Ihre Gedanken konzentrieren können; aber all dies sind gefährliche Zeichen, gefährlich für Sie, für Sie in erster Linie. Sie wollen viel nachdenken. Meiner Ansicht nach wäre es besser, nicht nachzudenken, sondern es ohne das zu tun. Sie beunruhigen mich wirklich.«
»Zuwider ist mir dabei nur eins: daß in jenem Augenblicke ein solches Reptil wie Sie bei mir sein soll.«
»Na, das ist ja ganz gleichgültig. Meinetwegen kann ich ja unterdessen hinausgehen und mich vor die Haustür stellen. Wenn Sie sterben wollen und so wenig gleichmütig sind, so ... so ist das doch sehr gefährlich. Ich werde vor die Haustür gehen, und Sie mögen meinetwegen denken, daß ich nichts verstehe und intellektuell unermeßlich tief unter Ihnen stehe.«
»Nein, Sie stehen nicht intellektuell unermeßlich tief unter mir; Sie besitzen Fähigkeiten; aber Sie haben für sehr vieles kein Verständnis, weil Sie ein gemeiner Mensch sind.«
»Freut mich sehr, freut mich sehr! Ich habe schon gesagt, daß es mich sehr freut, wenn ich jemanden amüsiere ... noch dazu in einem solchen Augenblicke.«
»Sie haben kein Verständnis dafür.«
»Das heißt, ich ... jedenfalls höre ich respektvoll an, was Sie sagen.«
»Sie können nichts; Sie können nicht einmal jetzt Ihren kleinlichen Ärger verbergen, obgleich es für Sie unvorteilhaft ist, ihn zu zeigen. Sie werden mich in Wut versetzen, und ich werde es dann auf einmal noch ein halbes Jahr aufschieben.«
Peter Stepanowitsch sah nach der Uhr.
»Ich habe niemals Verständnis für Ihre Theorie gehabt; aber ich weiß, daß Sie sie nicht um unseretwillen ersonnen haben und sie darum auch ohne Rücksicht auf uns zur Ausführung bringen werden. Ich weiß auch, daß Sie nicht diese Idee gefaßt haben, sondern umgekehrt die Idee Sie gepackt hat; also werden Sie es auch nicht aufschieben.«
»Wie? Die Idee hat mich gepackt?«
»Ja.«
»Und ich habe nicht die Idee gefaßt? Das ist gut! Sie haben nur wenig Verstand. Sie wollen mich nur anstacheln; aber ich bin stolz.«
»Wunderschön, wunderschön! Gerade das ist nötig, daß Sie stolz sind.«
»Nun genug; Sie haben ausgetrunken; gehen Sie jetzt fort!«
»Hol's der Teufel, ich muß wohl,« sagte Peter Stepanowitsch und stand auf. »Aber es ist noch zu früh. Hören Sie mal, Kirillow, werde ich den Betreffenden (Sie verstehen?) bei der Frau Mjasnitscha treffen? Oder hat die auch gelogen?«
»Sie werden ihn nicht treffen, weil er hier ist, und nicht dort.«
»Was heißt: hier? Zum Teufel, wo?«
»Er sitzt in der Küche und ißt und trinkt.«
»Wie kann er es wagen!« rief Peter Stepanowitsch, der vor Zorn ganz rot geworden war. »Er war verpflichtet zu warten ... Unsinn! Er hat weder einen Paß noch Geld!«
»Das weiß ich nicht. Er ist hergekommen, um mir Lebewohl zu sagen; er ist im Reiseanzuge und völlig fertig. Er geht weg und kommt nicht wieder. Er hat gesagt, Sie seien ein Schurke, und er wolle nicht auf Ihr Geld warten.«
»Aha! Er fürchtet, daß ich ... nun, ich kann ihn ja auch jetzt, wenn ... Wo ist er? In der Küche?«
Kirillow öffnete eine Seitentür zu einem winzigen, dunklen Zimmer; aus diesem Zimmer führten drei Stufen in die Küche hinab, unmittelbar in das durch einen Verschlag abgetrennte Kämmerchen, in welchem gewöhnlich das Bett der Köchin seinen Platz hatte. Hier saß jetzt in einer Ecke unter den Heiligenbildern Fedka an einem ungedeckten Brettertisch. Auf dem Tische vor ihm befand sich ein halbes Stof Branntwein, ein Teller mit Brot und eine irdene Schüssel mit kaltem Rindfleisch und Kartoffeln. Er aß mit Behagen und war bereits halb betrunken, saß aber im Schafpelz da und war offenbar vollständig reisefertig. Auf der anderen Seite des Verschlages siedete ein Samowar, aber nicht für Fedka; sondern Fedka hatte selbst pflichtgemäß die Glut darin angeblasen und ihn zum Gebrauche bereit gemacht, wie er das schon seit einer Woche oder noch länger jeden Abend getan hatte, »für Alexei Nilytsch, da der Herr sehr gewöhnt sind, nachts Tee zu trinken«. Ich glaube bestimmt, daß in Ermangelung einer Köchin Kirillow selbst das Rindfleisch und die Kartoffeln für Fedka schon am Vormittag gekocht hatte.
»Was fällt dir denn ein?« schrie Peter Stepanowitsch, der eilig die Stufen hinabstieg. »Warum hast du nicht da gewartet, wo ich es dir befohlen hatte?«
Ausholend schlug er mit der Faust auf den Tisch.
Fedka nahm eine würdevolle Haltung an.
»Warte mal, Peter Stepanowitsch, warte mal,« begann er, indem er in stutzerhafter Manier jedes Wort mit besonderer Deutlichkeit aussprach; »deine erste Pflicht ist hier, zu begreifen, daß du auf einem anständigen Besuch bei Herrn Alexei Nilytsch Kirillow bist, dem du immer die Stiefel putzen kannst, weil er ein viel gebildeterer Kopf ist als du; denn du bist nur – pfui!«
Er tat in affektierter Weise, als spucke er seitwärts aus. Sein Benehmen zeigte Hochmut, Entschlossenheit und jene sehr gefährliche, trügerische, ruhige Redeweise, die dem ersten Ausbruche vorherzugehen pflegt. Aber Peter Stepanowitsch nahm sich keine Zeit, die Gefahr zu bemerken, und das vertrug sich auch nicht mit seiner Auffassung der Dinge. Die Vorgänge und Mißerfolge dieses Tages hatten ihn ganz schwindlig gemacht ... Liputin, der oben an den drei Stufen in dem dunklen Zimmer stand, blickte neugierig hinunter.
»Willst du nun einen richtigen Paß und gutes Geld haben, um nach dem Orte zu reisen, der dir angegeben ist? Ja oder nein?«
»Siehst du, Peter Stepanowitsch, du hast mich gleich von Anfang an betrogen; denn du bist in meinen Augen ein richtiger Schurke. Ganz wie eine garstige Menschenlaus bist du; da hörst du's, wofür ich dich halte! Du hast mir für unschuldiges Blut viel Geld versprochen und mir für Herrn Stawrogin einen Eid geschworen, und nun kommt's heraus, daß das alles von dir nur eine schlechte Manier gewesen ist. Ich habe wahrhaftig keinen Groschen zu sehen bekommen, geschweige denn anderthalbtausend Rubel, und Herr Stawrogin hat dich vor kurzem auf die Backen gehauen, was auch uns schon bekannt ist. Jetzt drohst du mir von neuem und versprichst mir Geld; was ich dafür tun soll, davon schweigst du. Aber ich denke mir in meinem Verstande, daß du mich nach Petersburg schickst, um dich an Herrn Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin in deiner Bosheit für irgend etwas zu rächen, wobei du auf meine Leichtgläubigkeit hoffst. Und daraus ergibt sich, daß du ein Mörder ersten Ranges bist. Und weißt du auch wohl, was du schon allein dafür verdient hast, daß du in deiner Schlechtigkeit aufgehört hast, an Gott selbst, den Schöpfer aller Dinge, zu glauben? Du bist geradezu ein Heide und stehst auf einer Stufe mit einem Tataren oder Mordwinen. Alexei Nilytsch, der ein Philosoph ist, hat dir den wahren Gott, den Schöpfer und Erhalter, und die Schöpfung der Welt oftmals erklärt und dir auch von den zukünftigen Geschicken und der Verwandlung eines jeden Geschöpfes und eines jeden Tieres vieles aus dem Buche der Offenbarung mitgeteilt. Aber du verharrst wie ein unvernünftiges Götzenbild in Taubheit und Stummheit, und auch den Fähnrich Ertelew hast du zu demselben Unglauben verleitet, gerade wie jener allerböseste Verführer, des Name ist Atheist ...«
»Ach, du betrunkenes Schwein! Beraubt selbst Heiligenbilder und will noch von Gott predigen!«
»Ja, siehst du, Peter Stepanowitsch, ich will dir das wahrheitsgemäß sagen, daß ich Heiligenbilder beraubt habe; aber ich habe nur Perlen weggenommen; und woher willst du das wissen, vielleicht hat sich die Träne, die ich dabei vergoß, in dem Schmelzofen des Allerhöchsten in jenem selben Augenblick in eine Perle verwandelt, zum Lohn für ein mir widerfahrenes Leid; denn ich habe wahrhaftig keinen Menschen auf der Welt und nicht einmal ein Obdach. Weißt du wohl aus den Büchern, daß einmal in alter Zeit ein Kaufmann unter eben solchen Tränen und Seufzern und Gebeten der Allerheiligsten Muttergottes aus dem Heiligenschreine Perlen gestohlen und dann vor allem Volke unter Kniebeugungen die ganze Summe zum Sockel des heiligen Bildes zurückgebracht hat, und daß da die Muttergottes, die Fürbitterin, ihn vor den Augen aller Leute mit dem heiligen Vorhang gesegnet hat, so daß das damals offenbar ein Wunder war und die Obrigkeit es alles in den Staatsbüchern genau aufschreiben ließ? Aber du hast eine Maus hineingesetzt; also du hast den Finger Gottes selbst verspottet. Und wenn du nicht mein natürlicher Herr wärest, den ich als Knaben oft auf meinen Armen getragen habe, so würde ich dich jetzt wahrhaftig auf diesem Fleck abtun!«
Peter Stepanowitsch geriet in einen maßlosen Zorn.
»Sprich, bist du heute mit Stawrogin zusammengetroffen?«
»Du darfst dich nie unterstehen, mich ins Verhör zu nehmen. Herr Stawrogin ist über dich wahrhaftig ganz erstaunt und hat sich nicht einmal mit einem Wunsche an der Sache beteiligt, geschweige denn mit einer Anordnung oder mit Geld. Du hast mich frech belogen.«
»Das Geld wirst du bekommen, und die zweitausend Rubel wirst du ebenfalls bekommen, in Petersburg, an Ort und Stelle, alles zusammen, und du wirst noch mehr bekommen.«
»Du lügst, lieber Freund, und es ist mir lächerlich, dich auch nur anzusehen, wie du dir einbilden kannst, daß man dir glauben wird. Herr Stawrogin steht hoch über dir wie auf einer Leiter, und du kläffst ihn von unten an wie ein dummer Hund, während er dir eine große Ehre zu erweisen glaubt, wenn er von oben auf dich herabspuckt.«
»Weißt du wohl, du Kanaille,« schrie Peter Stepanowitsch rasend, »daß ich dich keinen Schritt von hier weglassen, sondern dich geradezu der Polizei übergeben werde?«
Fedka sprang auf; seine Augen funkelten vor Wut. Peter Stepanowitsch griff nach seinem Revolver. Nun spielte sich schnell eine widerwärtige Szene ab: bevor Peter Stepanowitsch mit dem Revolver zielen konnte, hatte sich Fedka geschwind zur Seite gebogen und schlug ihn aus voller Kraft auf die Backe. Unmittelbar darauf erscholl ein zweiter furchtbarer Schlag, dann ein dritter, ein vierter, alle auf die Backe. Peter Stepanowitsch war betäubt; die Augen standen ihm weit auf; er murmelte etwas und fiel auf einmal der Länge lang zu Boden.
»Da habt ihr ihn; nehmt ihn!« rief Fedka, sich mit der Miene eines Siegers zu dem Zuschauer hinwendend, ergriff im Nu seine Mütze und sein unter der Bank liegendes Bündel und war verschwunden.
Peter Stepanowitsch röchelte bewußtlos. Liputin glaubte sogar, es hätte ein Totschlag stattgefunden. Kirillow kam Hals über Kopf in die Küche hinabgelaufen.
»Wir wollen ihn mit Wasser ...« rief er.
Er schöpfte mit einer Blechkelle Wasser aus einem Eimer und goß es ihm über den Kopf. Peter Stepanowitsch regte sich, hob den Kopf in die Höhe, setzte sich aufrecht und blickte gedankenlos vor sich hin.
»Nun, wie befinden Sie sich?« fragte Kirillow.
Der sah ihn starr an, immer noch ohne ihn zu erkennen; aber als er dann Liputin erblickte, der von der Küche aus hereinschaute, verzog er das Gesicht zu seinem gewöhnlichen häßlichen Lächeln, sprang plötzlich in die Hohe und hob den Revolver vom Fußboden aus. Ganz blaß stürzte er wütend auf Kirillow los.
»Wenn Sie sich einfallen lassen, morgen davonzulaufen wie der Schurke Stawrogin,« schrie er ihm stammelnd und die Worte nur undeutlich aussprechend zu, »so werde ich Sie am andern Ende des Erdballs aufhängen ... ich werde Sie zerquetschen wie eine Fliege ... merken Sie sich das!«
Er setzte ihm den Revolver gerade vor die Stirn; aber fast in demselben Augenblicke kam er endlich wieder vollständig zu sich, zog die Hand zurück, steckte den Revolver in die Tasche und rannte, ohne ein Wort weiter zu sagen, aus dem Hause. Liputin lief hinter ihm her. Sie krochen durch das frühere Schlupfloch hindurch und gingen wieder, sich am Zaune festhaltend, auf der Grabenböschung dahin. Dann schritt Peter Stepanowitsch schnell das Seitengäßchen entlang, so daß Liputin kaum nachkommen konnte. Bei der ersten Straßenkreuzung blieb er plötzlich stehen.
»Nun?« sagte er, sich mit herausfordernder Miene nach Liputin umwendend.
Liputin dachte an den Revolver und zitterte noch am ganzen Leibe in Erinnerung an die Szene, deren Zeuge er geworden war; aber unwillkürlich und unhemmbar kam ihm die Antwort über die Lippen:
»Ich glaube ... ich glaube, daß man doch nicht von Smolensk bis nach Taschkent mit solcher Ungeduld auf den Studenten wartet.«
»Haben Sie gesehen, was Fedka in der Küche trank?«
»Was er trank? Branntwein trank er.«
»Nun, so mögen Sie wissen, daß er zum letztenmal in seinem Leben Branntwein getrunken hat. Für Ihre weiteren Entschließungen empfehle ich Ihnen, daran zu denken. Jetzt aber scheren Sie sich zum Teufel; vor morgen brauche ich Sie nicht mehr ... Aber das sage ich Ihnen: machen Sie keine Dummheiten!«
Liputin eilte Hals über Kopf nach Hause.
Er hatte sich schon vor längerer Zeit einen Paß auf einen falschen Namen beschafft. Es ist ein befremdender Gedanke, daß dieser regulär lebende Mensch, ein kleinlicher Familientyrann, dabei Beamter (wenn auch Anhänger Fouriers) und endlich vor allen Dingen Kapitalist und Wucherer, daß der schon vor langer Zeit im stillen auf den phantastischen Einfall gekommen war, sich für alle Eventualitäten diesen Paß zu beschaffen, um mit dessen Hilfe nach dem Auslande zu entkommen, »wenn« ... Das Eintreten eines solchen Falles hielt er für möglich, wiewohl er selbst nie imstande war, genauer anzugeben, was dieses »wenn« eigentlich bedeuten konnte.
Aber jetzt hatte sich diese Bedeutung ganz von selbst und in völlig unerwarteter Weise ergeben. Die tolle Idee, mit der er bei Kirillow eingetreten war, nachdem ihm Peter Stepanowitsch auf dem Trottoir jenes Schimpfwort »Dummkopf« zu hören gegeben hatte, bestand darin, gleich am folgenden Tage frühmorgens alles im Stich zu lassen, dem Vaterlande den Rücken zu kehren und ins Ausland zu gehen! Wer es nicht glauben mag, daß solche phantastischen Dinge auch jetzt in unserer alltäglichen Wirklichkeit vorkommen, der möge sich nach dem Lebenslaufe aller jetzigen russischen Emigranten im Auslande erkundigen. Kein einziger ist aus verständigeren, realistischeren Gründen entflohen. Alle haben sie lediglich unter der unwiderstehlichen Herrschaft von Wahnvorstellungen gehandelt.
Als er nach Hause gekommen war, schloß er sich sofort ein, nahm eine Reisetasche und begann, sie hastig zu packen. Seine Hauptsorge bildete das Geld, nämlich die Frage, wieviel er davon retten könne, und wie er es machen müsse. Jawohl, retten; denn nach seiner Vorstellung durfte er auch nicht eine Stunde mehr zaudern und mußte sich bei Tagesanbruch bereits auf der Landstraße befinden. Er wußte auch nicht, wie er in die Eisenbahn steigen sollte; unklar nahm er sich vor, etwa auf der zweiten oder dritten größeren Station von der Stadt einzusteigen, den Weg bis dahin aber nötigenfalls zu Fuß zurückzulegen. So mühte er sich instinktiv und mechanisch, den Kopf voll von durcheinander wirbelnden Gedanken, mit seiner Reisetasche ab und – hielt plötzlich inne, ließ alles liegen und streckte sich tief aufstöhnend auf dem Sofa aus.
Er fühlte es deutlich und war sich darüber klar, daß er fliehen werde, nun ja, fliehen werde, aber daß es jetzt über seine Kraft gehe, die Frage zu entscheiden, ob er vor Erledigung der Schatowschen Angelegenheit fliehen müsse oder erst nachher; daß er jetzt nur ein materieller, vernunftloser Körper, eine trüge Masse sei, daß ihn aber eine fremde, schreckliche Kraft in Bewegung setze, und daß er, trotzdem er einen Auslandspaß besitze und vor der Schatowschen Angelegenheit weggehen könne (weswegen hätte er sich denn auch sonst so beeilt?), dennoch nicht vorher, sondern erst nachher weggehen werde, und daß das nun einmal beschlossene Sache, unterschrieben und untersiegelt sei. In unerträglicher Unruhe, indem er alle Augenblicke zu seiner eigenen Verwunderung zitterte, stöhnte und vor Angst vergehen wollte, verbrachte er, in seinem zugeschlossenen Zimmer auf dem Sofa liegend, kläglich die Zeit bis elf Uhr vormittags, und da erfolgte plötzlich der erwartete äußere Anstoß, der seinem Entschlusse die Richtung gab. Sowie er um elf Uhr seine Tür aufgeschlossen hatte und zu den Seinigen gegangen war, erfuhr er von ihnen, daß der entlaufene Sträfling Fedka, der alle in Schrecken versetzt hatte, dieser Straßen- und Kirchenräuber, Mörder und Brandstifter, den unsere Polizei verfolgte, ohne ihn doch fassen zu können, daß der bei Tagesgrauen erschlagen aufgefunden sei, sechs Werst von der Stadt entfernt, da, wo von der großen Landstraße der Weg nach Sacharjino abzweigt, und daß schon die ganze Stadt davon spreche. Sogleich lief er Hals über Kopf aus dem Hause, um Näheres in Erfahrung zu bringen, und erfuhr erstens, daß Fedka mit zerschmettertem Schädel gefunden und nach allen Anzeichen beraubt worden sei, und zweitens, daß die Polizei schon starken Verdacht und sogar einige bestimmte Indizien habe, aus denen sich schließen lasse, daß sein Mörder der Schpigulinsche Arbeiter Fomka sei, eben der, mit welchem zusammen Fedka zweifellos den Mord und die Brandstiftung bei den Geschwistern Lebjadkin begangen habe; es sei wahrscheinlich zwischen ihnen unterwegs ein Streit entstanden, wohl wegen einer größeren Geldsumme, die Fedka bei Lebjadkin entwendet und dann verheimlicht habe ... Liputin lief auch nach Peter Stepanowitschs Wohnung und erfuhr an der Hintertreppe heimlich, Peter Stepanowitsch sei zwar in der Nacht erst gegen ein Uhr nach Hause gekommen, habe dann aber die ganze Nacht bis acht Uhr morgens sehr schön geschlafen. Selbstverständlich war an dem Tode des Räubers Fedka absolut nichts, was ungewöhnlich erscheinen konnte, da gerade solche Laufbahnen am häufigsten einen derartigen Ausgang nehmen; aber das Zusammentreffen der verhängnisvollen Worte, daß Fedka an diesem Abend zum letztenmal Branntwein getrunken habe, mit der unverzüglichen Erfüllung dieser Prophezeiung war doch so merkwürdig, daß Liputin auf einmal aufhörte zu schwanken. Der äußere Anstoß war gegeben; es war gleichsam auf ihn ein großer Stein herabgefallen, der ihn für immer zu Boden drückte. Als er nach Hause zurückgekehrt war, stieß er schweigend seine Reisetasche mit dem Fuße unter das Bett und erschien am Abend zur festgesetzten Stunde als erster von allen an dem für das Zusammentreffen mit Schatow verabredeten Orte, allerdings immer noch mit seinem Passe in der Tasche.