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Ein unangenehmes Erlebnis

*

Eine Erzählung


Dieses unangenehme Erlebnis trug sich gerade in der Zeit zu, als die Wiedergeburt unseres lieben Vaterlandes Dies bezieht sich auf die sog. »Großen Reformen« in der Regierungszeit von Zar Alexander II. Dem Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft (Bauernreform von 1861) folgten Lokalverwaltungsreformen, Reformen zum Finanz- und Bildungswesen, zum Justizsystem, zur städtischen Selbstverwaltung und eine Militärreform. Am Ende der Herrschaft Alexanders II. wurden jedoch unter dem Einfluss der Konservativen einige Reformen wieder eingeschränkt. Gegenreformen, die von seinem Nachfolger Alexander III. eingeleitet wurden, berührten auch die Bestimmungen der Bauernreform und die Reform der Stadtregierung. Das Reformwerk wurde damit letztendlich nicht abgeschlossen, so dass die sozioökonomischen Probleme kaum ansatzweise gelöst waren; weder wurde der Weg für die Entwicklung des Kapitalismus in Russland hinreichend freigemacht noch wurden die Grenzen der Zivilgesellschaft erweitert und die tatsächliche Unabhängigkeit und Öffentlichkeit der Rechtsprechung erzielt. – Anm.d.Hrsg. mit so unwiderstehlicher Gewalt und mit so rührend naivem Drange sich zu vollziehen begann und alle wackeren Söhne desselben neuen Zielen zustrebten und sich neuen Hoffnungen hingaben.

Damals saßen einmal an einem klaren, kalten Winterabende (es war schon elf Uhr vorbei) drei sehr ehrenwerte Herren in einem behaglich, ja luxuriös eingerichteten Zimmer eines schönen zweistöckigen Hauses auf der Petersburger Seite Ein Stadtteil von Petersburg. – Anm. des Übersetzers. zusammen und führten ein ernstes, verständiges Gespräch über ein sehr interessantes Thema. Diese drei hohen Zivilbeamten besaßen sämtlich Generalsrang. Sie saßen um ein kleines Tischchen, jeder in einem schönen, weichen Lehnstuhl, und tranken während des Gespräches ruhig und mit Genuß Champagner. Die Flasche stand vor ihnen auf dem Tischchen in einem silbernen Kübel mit Eis. Der Anlaß ihres Zusammenseins war, daß der Hausherr, der Geheimrat Stepan Nikiforowitsch Nikiforow, ein alter Junggeselle von fünfundsechzig Jahren, seinen Einzug in das Haus feierte, das er sich vor kurzem gekauft hatte, und, da es sich so traf, auch seinen Geburtstag, der gerade auf diesen Tag fiel, und den er allerdings sonst noch nie gefeiert hatte. Übrigens hielt sich die Feier in sehr mäßigen Grenzen; wie wir bereits gesehen haben, waren nur zwei Gäste da, beides frühere Amtsgenossen des Herrn Nikiforow und frühere Untergebene von ihm, nämlich erstens der Wirkliche Staatsrat Semjon Iwanowitsch Schipulenko und zweitens Iwan Iljitsch Pralinski, gleichfalls Wirklicher Staatsrat. Sie waren um neun Uhr gekommen, hatten Tee getrunken, waren dann zum Weine übergegangen und wußten, daß sie pünktlich um halb zwölf sich auf den Heimweg machen mußten. Der Hausherr war sein ganzes Leben lang ein großer Freund der Regelmäßigkeit gewesen. Hier ein paar Worte über seine Vergangenheit. Er hatte seine Laufbahn als kleiner Beamter ohne Protektion begonnen, hatte ruhig fünfundvierzig Jahre lang seinen Dienst getan, war sich völlig klar darüber, bis zu welcher Rangstufe er es bringen werde, haßte nichts so sehr als das sogenannte »Greifen nach den Sternen« (übrigens hatte er von Sternen im nicht-figürlichen Sinne, d. h. von höheren Orden, bereits zwei Stück) und hatte eine besondere Abneigung dagegen, bei jeder Gelegenheit seine eigene persönliche Meinung zum Ausdruck zu bringen. Ferner war er ein ehrlicher Mann, d. h. er war niemals in die Lage gekommen, etwas besonders Unehrenhaftes zu tun; er war Junggeselle, weil er ein Egoist war; er war recht klug, mochte aber sein Licht nicht gern leuchten lassen; besonders widerwärtig war ihm Unordnung und Schwärmerei, welche letztere er für eine Art von Unordnung der Seele hielt, und in höherem Alter hatte er sich vollständig in ein süßes, träges Genußleben versenkt und ergab sich absichtlich der Einsamkeit. Zwar machte er selbst mitunter bei seinen Bekannten, Leuten besseren Standes, Besuche; aber bei sich selbst Besuch empfangen, das hatte er schon von jungen Jahren an nicht gemocht, und in der letzten Zeit genügte ihm, wenn er nicht grande patience legte, die Gesellschaft seiner Stutzuhr, und er konnte ganze Abende lang im Halbschlummer auf einem Lehnstuhl sitzen und ruhig auf ihr Ticken unter einem Glassturze auf dem Kaminsims horchen. Sein Äußeres machte einen sehr anständigen Eindruck: er war stets sauber rasiert, sah jünger aus, als es seinen Jahren entsprach, hatte sich sehr gut konserviert, ließ erwarten, daß er noch lange leben werde, und benahm sich in jeder Hinsicht durchaus wie ein Gentleman. Das Amt, das er bekleidete, war ziemlich bequem: er hatte irgendwo als Beisitzer zu fungieren und irgendwelche Papiere zu unterschreiben. Mit einem Worte: er galt allgemein als ein vortrefflicher Mensch. Nur eine Leidenschaft oder, richtiger gesagt, nur einen glühenden Wunsch hatte er: ein eigenes Haus zu besitzen, und zwar ein herrschaftlich gebautes, nicht so ein auf Gelderwerb berechnetes. Dieser Wunsch war ihm nun endlich in Erfüllung gegangen: er hatte sich nach längerem Suchen ein Haus auf der Petersburger Seite gekauft; es lag allerdings etwas fern vom Mittelpunkte der Stadt; aber dafür war es ein Haus mit einem Garten und ein elegantes Haus. Nach der Auffassung des neuen Hausbesitzers war die weite Entfernung sogar als ein Vorzug anzusehen: denn Gäste bei sich zu empfangen war nicht sein Geschmack, und um zu einem Bekannten oder zum Dienste zu fahren, dazu hatte er einen schönen, zweisitzigen, schokoladenbraunen Wagen und seinen Kutscher Michei und zwei kleine, aber kräftige und hübsche Pferde. All das hatte er sich durch eine vierzigjährige sparsame Wirtschaft langsam und rechtlich erworben, so daß sein Herz daran seine Freude hatte. Dies war der Grund, weshalb Stepan Nikiforowitsch, nachdem er das Haus gekauft und bezogen hatte, in seiner ruhigen Seele eine solche Befriedigung empfand, daß er sich sogar Gäste zu seinem Geburtstag einlud, den er früher selbst seinen nächsten Bekannten sorgfältig verheimlicht hatte. Auf einen der beiden Eingeladenen hatte er auch noch seine besonderen Absichten. Er selbst bewohnte in seinem Hause die obere Etage; für die untere aber, die ganz ebenso gebaut und eingerichtet war, hätte er gern einen Mieter gehabt. Stepan Nikiforowitsch spekulierte in dieser Hinsicht auf Semjon Iwanowitsch Schipulenko und hatte an diesem Abend schon zweimal das Gespräch auf dieses Thema gelenkt. Aber Semjon Iwanowitsch war jedesmal ausgewichen. Dies war ein Mann, der ebenfalls durch seine Energie sich im Laufe der Zeit seinen Weg gebahnt hatte; er hatte schwarzes Haar, trug einen Backenbart, und der Farbenton seines Teints ließ darauf schließen, daß er an chronischem Gallenerguß litt. Er war verheiratet, ein mürrischer Stubensitzer, hielt sein ganzes Haus in Furcht, zeigte im Dienste viel Selbstgefühl, wußte ebenfalls sehr genau, wie weit er es bringen werde, und noch genauer, was er niemals werde erreichen können, saß auf einer guten Stelle und saß auf ihr sehr fest. Die in der Entwickelung begriffene neue Ordnung der Dinge betrachtete er allerdings mit Mißvergnügen, ohne sich jedoch darüber sonderlich aufzuregen; dazu besaß er zuviel Selbstvertrauen, und mit spöttischer Miene hörte er Iwan Iljitsch Pralinskis schwungvolle Reden über die neuen Ideen mit an. Übrigens hatte bei allen dreien der Wein zu wirken begonnen, so daß selbst Stepan Nikiforowitsch sich dazu herbeiließ, mit Herrn Pralinski in ein gelindes Wortgefecht über die neuen Einrichtungen einzutreten. Aber nun einige Worte über Seine Exzellenz Herrn Pralinski, um so mehr, da er der Hauptheld der folgenden Erzählung ist.

Der Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch Pralinski hieß erst seit vier Monaten Exzellenz, war also im Generalsrang einer der jüngsten Beamten. Auch seinem Lebensalter nach war er noch jung, da er erst dreiundvierzig Jahre zählte; er sah aber noch jünger aus und legte auch Wert darauf, noch jünger auszusehen. Er war ein hübscher Mann, von großer Statur, verwandte viel Sorgfalt auf seine Kleidung, die stets von einer auserlesenen Gediegenheit war, trug einen hohen Orden am Halse, und zwar mit vollem Verständnis für dessen Bedeutung, hatte schon seit seiner Kindheit sich ein Benehmen, wie es in der vornehmen Welt üblich ist, zu eigen gemacht und dachte, da er noch Junggeselle war, jetzt im stillen daran, ein reiches und womöglich vornehmes Mädchen zu heiraten. Er hing auch noch sonst mancherlei hochfliegenden Träumereien nach, obwohl er keineswegs dumm war. Zeitweilig war er sehr redselig und gefiel sich sogar darin, die Art eines Parlamentsredners anzunehmen. Er stammte aus guter Familie (sein Vater war ein Beamter mit Generalsrang gewesen) und war in seiner Jugend sehr verwöhnt worden; als kleiner Knabe war er in Samt und Batist gegangen. Dann war er in einem aristokratischen Institut erzogen worden, und obgleich er aus diesem nicht allzuviel Kenntnisse mitgebracht hatte, war seine dienstliche Tätigkeit doch für ihn erfolgreich gewesen, indem er den Rang eines Generals erreicht hatte. Seine Vorgesetzten hielten ihn für einen fähigen Kopf und setzten sogar für die Zukunft auf ihn noch größere Hoffnungen. Stepan Nikiforowitsch freilich, unter dem er seine dienstliche Laufbahn begonnen und fast bis zum Generalsrange fortgesetzt hatte, hatte ihn niemals für einen besonders tüchtigen Beamten gehalten und keinerlei Hoffnungen auf ihn gesetzt. Aber es gefiel ihm, daß Iwan Iljitsch aus gutem Hause war, Vermögen besaß (nämlich ein großes Mietshaus mit einem Verwalter), mit vornehmen Leuten verwandt war und sich angemessen zu benehmen verstand. Im stillen tadelte Stepan Nikiforowitsch ihn wegen seiner phantastischen, leichtfertigen Denkweise. Iwan Iljitsch selbst hatte mitunter die Empfindung, daß er zu viel Eigenliebe und Empfindlichkeit besitze. Es war merkwürdig: mitunter bekam er Anfälle eines schmerzlichen Gefühles der Beschämung, das sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit leiser Reue hatte. Mit geheimem Gram und Kummer wurde er sich dann innerlich bewußt, daß sein Geist doch nicht zu so hohem Fluge befähigt sei, wie er das sonst glaube. In solchen Augenblicken verfiel er sogar in eine Art von Trübsinn, namentlich wenn ihm seine Hämorrhoiden zu schaffen machten, nannte sein Leben une existence manquée, hörte selbst auf (natürlich nur ganz im stillen für sich) an seine rednerische Begabung zu glauben und nannte sich einen Schwätzer und Maulhelden. Das alles machte ihm ja zwar gewiß viel Ehre, hinderte ihn aber keineswegs, eine halbe Stunde darauf den Kopf wieder hoch zu tragen, dreist und mutig zu sein und sich mit um so größerer Hartnäckigkeit und mit um so größerem Dünkel dem Glauben hinzugeben, es werde ihm doch noch gelingen sich durchzusetzen, und er werde dann nicht nur ein hoher Würdenträger, sondern ein wirklicher großer Staatsmann sein, dessen Gedächtnis in Rußland lange fortleben werde. Es schwanke ihm manchmal sogar etwas von Denkmälern, die ihm würden errichtet werden. Man sieht daraus, daß Iwan Iljitsch hoch hinaus wollte, wiewohl er seine schrankenlosen Träumereien und Hoffnungen tief in seinem Innern verbarg, sogar mit einer gewissen Ängstlichkeit. Kurz gesagt, er war ein guter Mensch und hatte sogar etwas von einem Dichter an sich. In den letzten Jahren hatten diese schmerzlichen Augenblicke der Ernüchterung und Enttäuschung sich bei ihm häufiger eingestellt. Er war in hohem Grade reizbar und argwöhnisch und neigte dazu, jeden Widerspruch als Beleidigung aufzufassen. Aber die Neugestaltung Rußlands erweckte in seiner Seele auf einmal wieder große Hoffnungen. Der Generalsrang, der ihm verliehen wurde, wirkte nach derselben Richtung. Sein Gang wurde elastisch; er trug den Kopf gerade aufrecht. Er begann, mit kunstvoller Rhetorik zu sprechen und viel zu sprechen, und redete über die neuesten Ideen, die er sich zur Überraschung seiner Bekannten außerordentlich schnell angeeignet hatte und nun mit Fanatismus verfocht. Er suchte Gelegenheiten zum Reden, fuhr in der Stadt bei seinen Bekannten umher und galt bald an vielen Stellen für einen enragierten Fortschrittler, was ihm sehr schmeichelte. An diesem Abend nun wurde er, nachdem er vier Gläser Champagner getrunken hatte, ganz besonders lebhaft. Er wünschte brennend, Stepan Nikiforowitsch, den er vor diesem Zusammensein lange Zeit nicht gesehen hatte, zu all seinen neuen Ansichten zu bekehren; denn er bewahrte ihm noch immer seine Hochachtung und hatte vor seinen Ansichten Respekt. Er hielt ihn, ohne daß er dafür einen rechten Grund hätte angeben können, für einen Reaktionär und redete nun mit großer Wärme auf ihn ein. Stepan Nikiforowitsch erwiderte fast nichts, sondern hörte nur mit schlauer Miene zu, obgleich der Gegenstand ihn interessierte. Iwan Iljitsch wurde hitzig und nahm im Eifer des allerdings nur einseitig geführten Streites häufiger, als es gut war, einen Schluck aus seinem Glase. Dann ergriff Stepan Nikiforowitsch jedesmal sofort die Flasche und goß das Glas wieder voll, ein Verfahren, durch das Iwan Iljitsch sich auf einmal beleidigt fühlte (er wußte selbst nicht, warum). Und seine Stimmung wurde dadurch noch mehr verdorben, daß Semjon Iwanowitsch Schipulenko, den er sehr geringschätzte und dazu noch wegen seines schonungslosen, boshaften Witzes fürchtete, sich bei diesem Streite ganz abseits hielt, schwieg und öfter, als es passend war, lächelte.

»Sie halten mich, wie es scheint, für einen grünen Jungen,« ging es Iwan Iljitsch durch den Kopf.

»Nein, es ist Zeit; es hätte schon längst Wandel geschafft werden müssen,« fuhr er mit großer Heftigkeit fort. »Wir Russen haben uns schon gar zu sehr verspätet, und nach meiner Ansicht ist das Erste und Wichtigste Humanität, Humanität gegen die Untergebenen; man darf nicht vergessen, daß sie doch auch Menschen sind. Die Humanität wird uns aus allen Nöten heraushelfen und unsere Rettung werden …«

»Hihihihi!« erscholl von der Seite her Semjon Iwanowitschs Lachen.

»Aber warum schelten Sie uns denn eigentlich so?« erwiderte nun endlich Stepan Nikiforowitsch mit liebenswürdigem Lächeln. »Ich muß gestehen, Iwan Iljitsch, ich habe bis jetzt noch nicht daraus klug werden können, worauf Ihre Erörterungen eigentlich hinauslaufen. Sie betonen die Humanität. Damit ist wohl die Menschenliebe gemeint, nicht wahr?«

»Ja, meinetwegen, Sie können es auch Menschenliebe nennen. Ich …«

»Erlauben Sie! Soweit ich es beurteilen kann, ist das aber nicht der einzige Punkt, um den es sich handelt. Menschenliebe hat immer für etwas Gutes und Notwendiges gegolten. Die Reformer aber beschränken sich nicht darauf. Es sind da Fragen aufgeworfen worden, die die Stellung der Bauern betreffen und die Einrichtung der Gerichte und die wirtschaftlichen Verhältnisse und das System der Branntweinpacht und die moralischen Anschauungen, und … und … und unzählige andere Fragen; und wenn das so alles gleichzeitig, alles mit einem Male kommt, so können starke Erschütterungen unseres ganzen Staatswesens die Folge davon sein. Das ist es, was unsere Besorgnis erregt hat, und nicht die bloße Humanität …«

»Jawohl, das geht viel tiefer,« bemerkte Semjon Iwanowitsch.

»Das weiß ich sehr wohl, und gestatten Sie mir die Bemerkung, Semjon Iwanowitsch, daß ich, was eindringendes Verständnis für diese Dinge anlangt, Ihnen in keiner Weise nachstehe,« erwiderte Iwan Iljitsch in scharfem, spöttischem Tone; »aber ich nehme mir die Freiheit, auch Ihnen, Stepan Nikiforowitsch, zu bemerken, daß Sie mich ebenfalls nicht ganz verstanden haben …«

»Nein, das habe ich wirklich nicht.«

»Die Idee, an der ich festhalte, und für die ich überall eintrete, ist die, daß die Humanität, und speziell die Humanität gegen Niedrigerstehende, die Humanität des höheren Beamten gegen den Schreiber, des Schreibers gegen den gewöhnlichen Mann aus dem Volke, – daß die Humanität, sage ich, uns für die bevorstehenden Reformen und überhaupt für die Neugestaltung der Dinge sozusagen als Eckstein dienen kann. Warum? Das will ich Ihnen sagen. Nehmen Sie folgenden logischen Kettenschluß: wenn ich human bin, so wird die Folge sein, daß man mich liebt; wenn man mich liebt, so wird die Folge sein, daß man zu mir Vertrauen hat; wenn man zu mir Vertrauen hat, so wird die Folge sein, daß man mir glaubt; wenn man mir glaubt, so wird die Folge sein, daß man mich liebt, … das heißt, nein, ich wollte sagen: wenn man mir glaubt, so wird die Folge sein, daß man auch an die Reform glaubt, daß alle sozusagen den eigentlichen Kern der Sache begreifen, einander sozusagen geistig umarmen und die ganze Sache in aller Freundschaft aufs gründlichste durchführen. Weshalb lachen Sie, Semjon Iwanowitsch? Ist das so schwer zu verstehen?«

Stepan Nikiforowitsch zog schweigend die Augenbrauen in die Höhe, offenbar sehr verwundert über das, was er soeben gehört hatte.

»Mir scheint, ich habe ein bißchen zu viel getrunken,« bemerkte Semjon Iwanowitsch boshaft, »und das beeinträchtigt mein Auffassungsvermögen. Es ist mir so wirr im Kopfe.«

Iwan Iljitsch machte unwillkürlich eine krampfhafte Bewegung.

»Wir setzen es nicht durch,« sagte plötzlich nach kurzem Nachdenken Stepan Nikiforowitsch.

»Was meinen Sie damit, daß wir es nicht durchsetzen?« fragte Iwan Iljitsch, der über Stepan Nikiforowitschs plötzliche kurze Bemerkung sehr erstaunt war.

»Ganz einfach, wir setzen es nicht durch,« wiederholte Stepan Nikiforowitsch, der sich offenbar nicht weiter darüber auslassen wollte.

»Meinen Sie vielleicht, daß der neue Wein in neue Schläuche gefüllt werden muß?« erwiderte Iwan Iljitsch nicht ohne Ironie. »Aber nicht doch; für meine eigene Person möchte ich einstehen.«

In diesem Augenblicke schlug die Uhr halb zwölf.

»Wir haben lange genug gesessen; nun ist's Zeit zum Aufbruch,« sagte Semjon Iwanowitsch und machte Anstalten, sich von seinem Platze zu erheben. Aber Iwan Iljitsch war flinker als er, stand schnell vom Tische auf und nahm seine Zobelmütze vom Kaminsims. Er machte ein Gesicht, als ob er sich beleidigt fühlte.

»Nun also, Semjon Iwanowitsch, überlegen Sie sich die Sache!« sagte Stepan Nikiforowitsch, der seine Gäste hinausbegleitete.

»Sie meinen wegen der Wohnung? Gewiß, gewiß, ich will es mir überlegen.«

»Und, bitte, benachrichtigen Sie mich möglichst bald, wenn Sie zu einem Entschlusse gekommen sind.«

»Immer Wirtschaftliches?« bemerkte Herr Pralinski in liebenswürdigem, einschmeichelndem Tone, indem er mit seiner Mütze spielte. Er hatte die Empfindung, daß er bei diesem Gespräche vergessen sei.

Stepan Nikiforowitsch zog die Brauen in die Höhe und schwieg, zum Zeichen, daß er seine Gäste nicht länger aufhalten wolle. Semjon Iwanowitsch verbeugte sich eiligst.

»Na … dann nicht, … meinetwegen! … Wenn du dich nicht einmal auf die gewöhnliche Höflichkeit verstehst,« dachte Herr Pralinski im stillen und streckte dem Hausherrn mit beabsichtigter Ungeniertheit die Hand hin.

Im Vorzimmer wickelte sich Iwan Iljitsch in seinen leichten, teuren Pelz, bemühte sich, Semjon Iwanowitschs abgetragenen Schuppenpelz nicht zu bemerken, und beide stiegen die Treppe hinab.

»Unser alter Freund schien etwas übel genommen zu haben,« sagte Iwan Iljitsch zu Semjon Iwanowitsch, welcher sich schweigsam verhielt.

»Nicht doch; wieso?« antwortete dieser ruhig und kühl.

»Du Flegel!« dachte Iwan Iljitsch bei sich.

Sie traten vor die Haustür. Semjon Iwanowitschs Schlitten fuhr vor; er war mit einem unansehnlichen grauen Hengste bespannt.

»Zum Kuckuck! Wo ist denn Trifon mit meinem Wagen geblieben?« rief Iwan Iljitsch, da er seine Kutsche nicht erblickte.

Aber trotz alles Umschauens war die Kutsche nicht zu finden. Stepan Nikiforowitschs Diener, der mit an die Haustür gekommen war, wußte über ihren Verbleib keine Auskunft zu geben. Iwan Iljitsch wandte sich an Warlam, den Kutscher Semjon Iwanowitschs, und bekam die Antwort, Trifon habe hier die ganze Zeit über gewartet, und die Kutsche sei auch dagewesen, aber nun auf einmal seien sie beide weg.

»Eine dumme Geschichte!« sagte Herr Schipulenko; »darf ich Sie in meinem Schlitten nach Ihrer Wohnung bringen?«

»So eine nichtswürdige Bande!« rief Herr Pralinski wütend. »Die Kanaille von Kerl hatte mich gebeten, ob er nicht in der Zwischenzeit auf eine Hochzeit gehen dürfte, hier auf der Petersburger Seite; irgendeine Gevatterin von ihm verheiratet sich. Aber ich habe es ihm streng verboten, sich hier von der Haustür zu entfernen. Nun möchte ich darauf wetten, daß er doch hingefahren ist!«

»Ja,« bemerkte Warlam, »er ist wirklich da irgendwohin gefahren; er sagte, er würde in einem Augenblick wiederkommen, d. h. zur rechten Zeit wieder hier sein.«

»Na ja! Hatte ich es mir doch gedacht! Aber warte, ich will dich lehren!«

»Das beste ist, wenn Sie ihn ein paarmal auf der Polizei gehörig auspeitschen lassen; dann wird er künftig tun, was ihm befohlen ist,« sagte Semjon Iwanowitsch, während er sich bereits die Schlittendecke über die Beine zog.

»Bitte, beunruhigen Sie sich darüber nicht, Semjon Iwanowitsch!«

»Also Sie mögen sich von mir nicht nach Hause bringen lassen?«

» Merci! Gute Fahrt!«

Semjon Iwanowitsch fuhr weg; Iwan Iljitsch aber ging zu Fuß das hölzerne Trottoir entlang; er befand sich in ziemlich starker Erregung.


»Nein, so etwas! Aber ich will dich lehren, Schurke! Ich gehe absichtlich zu Fuß, damit du es empfindest, damit du einen Schreck bekommst! Wenn er nach Hause kommt, wird er hören, daß der Herr zu Fuß gegangen ist … der Halunke!«

Iwan Iljitsch hatte noch nie so arg geschimpft wie jetzt; aber er war auch zu sehr ergrimmt, und außerdem war ihm der Wein in den Kopf gestiegen. Er war nicht gewohnt zu trinken, und daher wirkten bei ihm schon fünf bis sechs Gläser. Aber die Nacht war entzückend. Es war kalt, aber außerordentlich ruhig und windstill. Der Himmel war klar und voller Sterne. Der Vollmond übergoß die Erde mit einem matten Silberschimmer. Es war so schön, daß Iwan Iljitsch, schon nachdem er etwa fünfzig Schritte gegangen war, sein Mißgeschick beinah vergessen hatte. Eine besonders heitere Stimmung überkam ihn. Die Menschen gehen ja unter der Einwirkung eines Rausches überhaupt leicht von einer Empfindung zur andern über. Selbst an den unansehnlichen Holzhäuschen der menschenleeren Straße begann er Gefallen zu finden.

»Es ist doch prächtig, daß ich zu Fuß gehe,« dachte er bei sich! »Für Trifon wird es eine gute Lehre sein, und mir macht es Vergnügen. Wirklich, ich sollte öfter zu Fuß gehen. Na, und auf dem Großen Prospekt finde ich sicher gleich eine Droschke. Eine prächtige Nacht! Wie nett hier diese Häuschen aussehen! Wahrscheinlich wohnt da lauter geringes Volk, Unterbeamte, kleine Kaufleute und dergleichen … Nein, dieser Stepan Nikiforowitsch! Was sind das doch alles für Reaktionäre, was für alte Schlafmützen! Ja, ganz richtig, Schlafmützen, c'est le mot. Übrigens ist er ein verständiger Mensch; er hat diesen bon sens, eine nüchterne, praktische Auffassung der Dinge. Aber alt, gar zu alt sind er und seinesgleichen! Es fehlt ihnen dieses … wie nennt man es doch gleich? … Na ja, es fehlt ihnen so ein gewisses Etwas … ›Wir setzen es nicht durch!‹ Was hat er damit sagen wollen? Er hatte vorher noch besonders nachgedacht, als er es sagte. Übrigens hatte er mich gar nicht ordentlich verstanden. Im Grunde: was ist denn daran zu verstehen? Es ist schwerer, es nicht zu verstehen, als es zu verstehen. Die Hauptsache ist, daß man überzeugt ist, innerlich überzeugt. Humanität … Menschenliebe! Man muß den Menschen ihm selbst wiedergeben … das Gefühl der eigenen Würde in ihm neu beleben, und dann … dann wollen wir uns mit dem fertigen Material ans Werk machen. Das ist doch klar, sollte man meinen! Ja! Erlauben Sie einmal, Exzellenz; nehmen Sie einmal folgenden Fall an: wir treffen zum Beispiel einen Unterbeamten, einen armen, schüchternen Unterbeamten. ›Nun … was bist du?‹ Antwort: ›Unterbeamter.‹ Gut, Unterbeamter; weiter: ›Was bist du für ein Unterbeamter?‹ Antwort: ›Von der und der Art,‹ sagt er. ›Willst du glücklich sein?‹ ›Ja.‹ ›Was brauchst du zu deinem Glücke?‹ ›Das und das.‹ ›Warum?‹ ›Weil …‹ Und siehe da, der Mann versteht mich ohne lange Auseinandersetzungen; der Mann ist mein; ich habe den Mann sozusagen in einem Netze gefangen und kann nun mit ihm alles machen, was ich will, d. h. natürlich zu seinem eigenen Besten. Ein widerwärtiger Mensch, dieser Semjon Iwanowitsch! Und was er für eine widerwärtige Visage hat … ›Lassen Sie ihn auf der Polizei auspeitschen!‹ – das sagte er zu mir mit besonderer Absicht. Nein, dummes Zeug, laß du selbst deine Leute auspeitschen; ich tue so etwas nicht. Ich werde Trifon mit Worten belehren, mit einem Vorwurf werde ich ihn bestrafen; das wird ihm empfindlich genug sein. Was die Prügelstrafe betrifft, hm! … das ist noch eine ungelöste Frage, hm! … Ob ich wohl zu meiner kleinen Freundin Emérence mit herangehe? … Pfui Teufel, dieses verdammte Holztrottoir!« rief er, da er plötzlich gestolpert war. »Und das ist nun eine Residenzstadt! So was nennt sich Zivilisation! Da kann man sich ja ein Bein brechen! Hm! … Ich hasse diesen Semjon Iwanowitsch; eine abscheuliche Visage hat er. Wozu kicherte er da vorhin über mich, als ich sagte: ›Sie umarmen sich geistig‹? Na, laß sie sich doch umarmen; was geht es dich an? Dich werde ich nicht umarmen; lieber einen gewöhnlichen Arbeiter … Wenn mir jetzt ein Arbeiter begegnet, will ich doch ein paar Worte mit ihm sprechen. Übrigens war ich betrunken und drückte mich vielleicht nicht richtig aus. Auch jetzt drücke ich mich vielleicht nicht richtig aus … Hm! Ich will nie wieder trinken. Am Abend schwatzt matt allerlei zusammen, und am andern Morgen bereut man's. Na, aber ich gehe doch noch ohne zu schwanken … Und Kanaillen sind sie doch alle!«

Solche fragmentarischen, zusammenhanglosen Gedanken bildeten sich in Iwan Iljitschs Kopfe, während er auf dem Trottoir hinging. Die frische Luft tat bei ihm ihre Wirkung und rüttelte ihn auf. Nach weiteren fünf Minuten würde er sich beruhigt haben und schläfrig geworden sein. Aber auf einmal (er war schon ganz nahe am Großen Prospekt) hörte er Musik. Er blickte um sich. Auf der anderen Seite der Straße, in einem sehr alten, einstöckigen, aber langen Holzhause quiekten Geigen, ein Kontrabaß brummte, eine Flöte winselte: es wurde eine muntere Quadrille gespielt. Vor den Fenstern stand ein zahlreiches Publikum, größtenteils Frauen in wattierten Pelerinen und mit Tüchern um den Kopf; sie machten die größten Anstrengungen, um durch die Ritzen der Fensterläden hindurchzusehen. Offenbar ging es drinnen sehr lustig zu. Der Lärm von dem Stampfen der Tänzer war bis auf die andere Seite der Straße zu hören. Iwan Iljitsch bemerkte in seiner Nähe einen Schutzmann und trat auf ihn zu.

»Wem gehört das Haus, lieber Freund?« fragte er und schlug dabei seinen kostbaren Pelz ein wenig auseinander, gerade ausreichend, damit der Schutzmann den hohen Orden am Halse wahrnehmen konnte.

»Dem Registrator Pseldonimow,« antwortete der Schutzmann strammstehend, da er bereits in der Geschwindigkeit die Dekoration erkannt hatte.

»Pseldonimow? Ei, sieh mal! Pseldonimow! … Was ist bei ihm los? Er macht wohl Hochzeit?«

»Jawohl, Euer Hochgeboren, mit der Tochter eines Titularrates. Titularrat Mlekopitajew; er ist beim Gericht angestellt gewesen. Dieses Haus bekommt die Braut mit.«

»Also gehört es jetzt schon Pseldonimow und nicht mehr Mlekopitajew?«

»Ganz recht, Euer Hochgeboren. Es gehörte bisher Mlekopitajew, und jetzt gehört es Pseldonimow.«

»Hm! Ich frage deswegen, lieber Freund, weil ich sein Vorgesetzter bin. Ich bin Präsident bei derselben Behörde, bei welcher Pseldonimow angestellt ist.«

»Sehr wohl, Exzellenz.«

Der Schutzmann reckte sich so gerade, wie es ihm nur irgend möglich war; Iwan Iljitsch aber schien nachdenklich zu werden. Er stand und überlegte …

Ja, dieser Pseldonimow war tatsächlich aus seinem Ressort, aus seiner eigenen Kanzlei; daran erinnerte er sich ganz gut. Es war ein Beamter niedrigen Ranges, mit zehn Rubeln Gehalt monatlich. Da Herr Pralinski seine Kanzlei erst vor kurzem übernommen hatte, so war es unmöglich, daß er alle seine Untergebenen genau im Gedächtnis gehabt hätte; aber auf Pseldonimow besann er sich allerdings, und zwar infolge seines Familiennamens. Dieser Name war ihm gleich beim erstenmal aufgefallen, so daß er sich schon damals den Träger dieses Namens aus Neugier mit besonderer Aufmerksamkeit angesehen hatte. Er erinnerte sich jetzt, daß es ein sehr junger Mensch war, mit langer, gekrümmter Nase, mit ganz hellblondem Haar, das stellenweise in Büscheln vom Kopfe abstand, schlecht genährt und kachektisch Kachexie: krankhafte, sehr starke Abmagerung, die ei verschiedenen chronischen Erkrankungen auftritt. – Anm.d.Hrsg., in einem ganz unmöglichen Uniformrock und mit ganz unmöglichen, ja geradezu unanständigen Beinkleidern. Er erinnerte sich, daß ihm damals der Gedanke durch den Kopf gegangen war, ob er dem armen Kerl nicht eine Gratifikation von zehn Rubeln für die Festtage zum Zwecke der Wiederherstellung seiner Gesundheit anweisen solle. Aber da das Gesicht dieses armen Burschen etwas gar zu Ödes und sein Blick etwas äußerst Unsympathisches, ja Abstoßendes hatte, so war jener gute Gedanke ganz von selbst wieder verschwunden, so daß Pseldonimow nichts bekommen hatte. Um so mehr hatte ihn vor nicht mehr als einer Woche dieser selbe Pseldonimow durch ein Gesuch um einen Heiratskonsens in Erstaunen versetzt. Iwan Iljitsch erinnerte sich, daß er damals aus irgendwelchem Grunde keine Zeit gehabt hatte, sich mit dieser Angelegenheit eingehender zu beschäftigen, so daß sie eilig kurzerhand erledigt werden mußte. Aber dennoch wußte er noch ganz genau, daß Pseldonimow mit seiner Braut als Mitgift ein hölzernes Haus und vierhundert Rubel bar mitbekommen sollte. Dieser Umstand war ihm damals gleich aufgefallen; er erinnerte sich, daß er sich sogar über das Zusammentreffen der wunderlichen Familiennamen Pseldonimow und Mlekopitajew ein bißchen amüsiert hatte. Auf all dies besann er sich ganz deutlich.

Bei diesen Erinnerungen versank er immer mehr in Nachdenken. Bekanntlich gehen uns manchmal ganze Reihen von Gedanken mit größter Geschwindigkeit durch den Kopf, und zwar in Gestalt von bloßen Empfindungen, ohne daß sie sich in menschlicher Rede oder gar in der Schriftsprache wiedergeben ließen. Aber wir wollen trotzdem versuchen, alle diese Empfindungen unseres Helden wiederzugeben und dem Leser wenigstens ihren Kern vorzuführen, d. h. das, was an ihnen noch am ehesten gegenständlich und greifbar war. Denn freilich, viele von unseren derartigen Empfindungen kommen bei der Wiedergabe durch die gewöhnliche Sprache ganz wunderlich heraus. Dies ist auch der Grund, weswegen sie kaum je ans Licht gelangen, obgleich ein jeder solche Empfindungen hat. Natürlich waren Iwan Iljitschs Empfindungen und Gedanken etwas unzusammenhängend. Aber der Leser weiß ja die Ursache.

»Na ja,« dachte er in dieser eigentümlich schnellen Weise, »da reden und reden wir nun alle; aber wenn es nun darauf ankommt zu handeln, da wird nichts Rechtes. Nehmen wir zum Beispiel gleich hier diesen Pseldonimow: er ist vorhin von der Trauung zurückgekommen, voller Aufregung, voller Hoffnung, in Erwartung der schönsten Freuden … Das ist einer der seligsten Tage seines Lebens … Jetzt nun hat er alle Hände voll mit seinen Gästen zu tun und bewirtet sie, in bescheidener, ärmlicher Weise, aber heiter und fröhlich und von Herzen … Also wenn der nun wüßte, daß gerade in diesem Augenblicke ich, sein Vorgesetzter, sein höchster Vorgesetzter, hier bei seinem Hause stehe und seine Musik mit anhöre! Wahrhaftig, wie würde ihm da zumute sein? Und wie würde ihm nun gar zumute sein, wenn ich jetzt so auf einmal hereinkäme? Hm! … Natürlich würde er zuerst einen großen Schreck bekommen, würde vor Verlegenheit kein Wort herausbringen können … Ich würde ihm sein Fest stören und vielleicht alles in Unordnung bringen … Ja, das würde der Fall sein, wenn irgendein anderer Vorgesetzter zu seinem Untergebenen käme; aber mit mir ist das ein anderes Ding … Das ist es ja eben, daß es bei jedem andern so sein würde, aber nicht bei mir …

Ja, Stepan Nikiforowitsch! Sie haben mich vorhin nicht verstanden; nun wohlan, da haben Sie gleich ein Beispiel aus dem wirklichen Leben!

Ja, ja. Wir alle machen so viel Geschrei von der Notwendigkeit der Humanität; aber eine große Tat, eine heroische Tat auszuführen sind wir nicht imstande.

Was für eine heroische Tat? Das will ich Ihnen sagen. Urteilen Sie selbst: gehe ich angesichts der jetzt zwischen all den verschiedenen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft bestehenden Verhältnisse nach Mitternacht auf die Hochzeit eines mir unterstellten Registrators mit zehn Rubeln Gehalt, so ist das ein Umsturz aller Ordnung, ein Auf-den-Kopf-stellen der herrschenden Anschauungen, der letzte Tag von Pompeji, ein reiner Unsinn! Niemand wird dafür Verständnis haben. Stepan Nikiforowitsch wird es sein Lebtag nicht begreifen. Er hat ja gesagt: ›Wir setzen es nicht durch.‹ Ja, ihr, ihr werdet es freilich nicht durchsetzen, ihr alten, gelähmten, trägen Menschen; aber ich, ich setze es durch! Ich verwandle den letzten Tag von Pompeji in den glücklichsten Tag für meinen Untergebenen und eine befremdliche Handlung in eine normale, patriarchalische, erhabne und edle. Wie ich das mache? Einfach so; hören Sie nur zu! …

Na … also nehmen wir einmal an, ich trete ein: sie werden sich wundern, den Tanz unterbrechen, mich scheu ansehen, vor mir zurückweichen. Gut; aber dann werde ich das Wort ergreifen: ich werde gerade auf den erschrockenen Pseldonimow zugehen und mit dem freundlichsten Lächeln und mit ganz schlichten Worten sagen: ›So und so, ich war bei Seiner Exzellenz Stepan Nikiforowitsch. Ich glaube, du kennst ihn; er wohnt hier in der Nachbarschaft …‹ Na, dann werde ich so leichthin, mit drolliger Miene den Vorfall mit Trifon erzählen. Von Trifon mache ich den Übergang dazu, daß ich zu Fuß gegangen bin … ›Nun, und da hörte ich Musik, erkundigte mich bei einem Schutzmann und erfuhr, daß du, mein Lieber, Hochzeit machst. Na, dachte ich, ich will doch mal zu meinem Untergebenen herangehen und zusehen, wie meine Beamten sich amüsieren und…Hochzeit machen. Ich hoffe, du wirst mich nicht hinauswerfen!‹ Hinauswerfen! Welch ein Gedanke! Ein Untergebener seinen Vorgesetzten! Undenkbar! Ich denke, er wird ganz aus dem Häuschen sein, mich mit dem größten Eifer auf einen Lehnstuhl nötigen, vor Entzücken nur so zittern und es zuerst gar nicht fassen können! …

Nun, kann es etwas Einfacheres, Herrlicheres geben als eine solche Handlung? Warum ich hineingegangen bin? Das ist eine andere Frage. Das ist sozusagen die moralische Seite der Sache. Ja, das ist die Pointe!

Hm … Woran dachte ich doch eben? Ja!

Na, also natürlich werden sie mir den Platz neben dem vornehmsten Gaste anweisen, irgendeinem Titularrat oder rotnasigen Hauptmann a. D., wenn sie so einen in der Verwandtschaft haben. Wie prächtig hat Gogol solche Originale geschildert! Na, selbstverständlich lasse ich mich auch mit der jungen Frau bekannt machen und mache ihr ein paar Komplimente. Dann mache ich den Gästen Mut; ich bitte sie, sich nicht zu genieren, sondern fidel zu sein und weiterzutanzen; ich mache Späße und lache; mit einem Worte, ich zeige mich sehr nett und liebenswürdig. Ich bin immer sehr nett und liebenswürdig, sobald ich mit mir selbst zufrieden bin … Hm! … Aber das ist es ja eben, daß ich immer noch, wie es scheint, ein bißchen … hm, d. h. ich bin nicht betrunken, aber doch so …

Selbstverständlich werde ich als Gentleman mich mit ihnen auf gleichen Fuß stellen und keinerlei besondere Rücksichten beanspruchen … Aber in geistiger Hinsicht, in geistiger Hinsicht, da liegt die Sache anders: sie werden für meinen Schritt Verständnis haben und ihn zu würdigen wissen … Meine Handlung wird in ihren Seelen edle Empfindungen wachrufen … Na, ich werde also eine halbe Stunde dasitzen … Es kann auch eine ganze Stunde werden. Natürlich werde ich vor dem eigentlichen Abendessen weggehen. Sie werden sich wohl besondere Umstände machen mit Backen und Braten und mich himmelhoch bitten dazubleiben; aber ich werde nur ein Glas Wein mit ihnen trinken und ihnen meinen Glückwunsch aussprechen, das Abendessen aber dankend ablehnen. Ich werde sagen, ich hätte noch dienstlich zu tun. Und sowie ich das Wort ›dienstlich‹ ausspreche, werden sie alle sofort respektvolle, ernste Gesichter machen. Dadurch werde ich in zarter Form daran erinnern, daß zwischen ihnen und mir doch ein Unterschied besteht. Wie zwischen Erde und Himmel. Nicht als ob ich ihnen das ausdrücklich bemerklich machen wollte; aber sie müssen sich dessen doch bewußt sein, … das ist nötig, sogar in moralischer Hinsicht; da kann man sagen, was man will. Übrigens werde ich sofort wieder lächeln, ja vielleicht sogar lachen, und dann werden alle wieder Mut fassen … Ich werde noch einmal einen Scherz mit der jungen Frau machen; hm! … etwa in der Art, daß ich andeute, ich würde pünktlich in neun Monaten wiederkommen, um Gevatter zu stehen, hehe! Zu der Zeit wird sie gewiß entbunden werden; diese Leute sind ja fruchtbar wie die Kaninchen. Na, alle werden lachen, die junge Frau wird erröten; ich werde ihr einen herzlichen Kuß auf die Stirn drücken, sie sogar segnen, … und morgen wird in der Kanzlei meine schöne Tat schon bekannt sein. Morgen werde ich wieder streng und peinlich, ja unerbittlich sein; aber nun werden alle bereits wissen, was ich für ein Mann bin. Sie werden meine Seele kennen, mein wahres Wesen. ›Er ist streng als Vorgesetzter,‹ werden sie sagen, ›aber als Mensch geradezu ein Engel!‹ So werde ich einen Sieg davongetragen haben; ich werde sie gewonnen haben durch eine einzige geringfügige Tat, die Ihnen überhaupt nicht in den Sinn kommt; von nun an werden sie mein sein: ich ihr Vater, sie meine Kinder … Wohlan, Exzellenz Stepan Nikiforowitsch, gehen Sie hin, und tun Sie desgleichen! …

… Und wissen Sie auch wohl, begreifen Sie auch wohl, daß Pseldonimow es seinen Kindern erzählen wird, daß der Präsident selbst auf seiner Hochzeit gewesen ist und mitgetrunken hat? Und diese Kinder werden es wie einen hochheiligen Vorgang ihren Kindern mitteilen und diese wieder den ihrigen, daß ein hoher Würdenträger, ein großer Staatsmann (denn das alles werde ich ja dann geworden sein) einstmals die Familie der Ehre gewürdigt hat usw. usw. Ich werde den Erniedrigten moralisch heben, ihn sozusagen sich selbst zurückgeben … Er bekommt ja nur zehn Rubel Gehalt monatlich! … Und wenn ich das nun so ein fünfmal oder zehnmal, oder wie oft es sein mag, wiederholt haben werde, dann werde ich mir eine allgemeine Popularität dadurch erworben haben … In aller Herzen wird mein Bild fest eingeprägt sein, und weiß der Teufel, was sich daraus später alles noch entwickeln kann, aus der Popularität! …«

So oder wenigstens so ähnlich überlegte Iwan Iljitsch. (Was redet ein Mensch nicht alles manchmal vor sich hin, und noch dazu in einem Augenblicke besonderer Erregung!) Alle diese Gedanken huschten ihm in Zeit von etwa einer halben Minute durch den Kopf, und vielleicht hätte er sich mit diesen Phantasien begnügt, den alten Stepan Nikiforowitsch nur in Gedanken beschämt, sich ganz ruhig nach Hause begeben und schlafen gelegt. Und wie gut hätte er daran getan! Aber das Unglück war, daß er sich eben gerade in besonderer Aufregung befand.

Wie mit Absicht stellte ihm seine überreizte Phantasie in diesem selben Augenblicke die selbstzufriedenen Gesichter Stepan Nikiforowitschs und Semjon Iwanowitschs vor Augen.

»Wir setzen es nicht durch!«« wiederholte Stepan Nikiforowitsch mit überlegenem Lächeln.

»Hihihi!« stimmte ihm Semjon Iwanowitsch mit seinem widerwärtigen Grinsen bei.

»Das wollen wir doch einmal sehen, ob wir es nicht durchsetzen!« sagte Iwan Iljitsch in entschlossenem Tone, und es stieg ihm dabei sogar eine Glut ins Gesicht.

Er verließ das Trottoir und begab sich festen Schrittes geradeswegs über die Straße hinüber zu dem Hause seines Untergebenen, des Registrators Pseldonimow.


Sein Schicksal riß ihn fort. Dreist trat er durch das offenstehende Pförtchen neben dem Torwege und stieß verächtlich mit dem Fuße einen kleinen, zottigen Köter beiseite, der mehr, um äußerlich seiner Pflicht zu genügen, als in ernster Absicht ihm mit heiserem Bellen an die Beine fuhr. Auf einem hölzernen Stege gelangte er zu der Haustür, die nach dem Hofe zu mit einem budenförmigen Vorbau versehen war, stieg drei alte Holzstufen hinan und befand sich nun in einem winzig kleinen Hausflur. Hier brannte zwar irgendwo in einer Ecke der Stummel eines Talglichtes oder eine Lampenfunzel; aber dadurch wurde nicht verhütet, daß Iwan Iljitsch, welcher Gummischuhe trug, mit dem linken Fuße in eine Schüssel mit Sülze trat, die zum Abkühlen dort hingestellt war. Iwan Iljitsch bückte sich hinunter, schaute neugierig am Boden umher und sah, daß dort noch zwei Schüsseln mit einem gallertartigen Inhalt und außerdem zwei Formen mit Blancmanger Mandelsulz, eine Süßspeise aus zerkleinerten Mandeln, Zucker und Gelatine. – Anm.d.Hrsg. standen. Über die zertretene Sülze geriet er einigermaßen in Verlegenheit,und einen kurzen Augenblick lang tauchte bei ihm der Gedanke auf: »Wäre es nicht das beste, wenn ich mich gleich wieder still davonmachte?« Aber ein solches Benehmen hielt er denn doch seiner nicht für würdig. Er überlegte, daß es ja niemand gesehen habe und man auf ihn als Täter gewiß nicht verfallen werde; so wischte er denn schnell den Gummischuh ab, um alle Spuren zu verbergen, tastete an der mit Filz beschlagenen Tür herum, öffnete sie und gelangte nun in ein ganz kleines Vorzimmer. Die eine Hälfte desselben war buchstäblich vollgestopft mit Mänteln, Überziehern, Pelerinen, Frauenmützen, Schals und Gummischuhen. In der andern Hälfte hatten die Musikanten ihre Plätze erhalten: zwei Geigen, eine Flöte und ein Kontrabaß, im ganzen vier Mann, die natürlich von der Straße weg engagiert waren. Sie saßen an einem ungestrichenen hölzernen Tischchen, bei einem einzigen Talglichte, und spielten gerade aus Leibeskräften den letzten Teil einer Quadrille. Durch die offenstehende Tür konnte man in der guten Stube mitten in Staub, Tabaksdampf und Ofenrauch die Tanzenden sehen. Es herrschte eine rasende Heiterkeit. Man hörte Gelächter, laute Rufe und das Aufkreischen der Damen. Die Herren stampften wie eine Schwadron von Pferden. Aber diesen ganzen Wirrwarr übertönte das Kommando des Tanzordners, eines anscheinend sehr ungezwungenen Herrn, der sich sogar die Weste aufgeknöpft hatte: » Les cavaliers en avant, chaîne des dames, balancez!« usw. usw. Iwan Iljitsch, der eine gewisse Aufregung nicht unterdrücken konnte, legte den Pelz und die Überschuhe ab und trat mit der Mütze in der Hand ins Zimmer. Überlegungen stellte er übrigens jetzt keine mehr an.

Im ersten Augenblicke wurde er von niemand bemerkt: alle waren zu eifrig mit dem Schlusse dieses Tanzes beschäftigt. Iwan Iljitsch stand wie betäubt und war nicht imstande, in diesem Tumult etwas genau zu erkennen. Vor seinen Augen huschten Damenkleider vorüber und Herren mit Zigaretten zwischen den Zähnen. Für einen Moment wurde ihm eine hellblaue, einer Dame gehörige Schärpe sichtbar, die ihn an der Nase streifte. Hinter der Dame jagte in rasender Verzückung ein Studiosus Medicinae mit wild flatterndem Haare her und versetzte ihm im Vorbeisausen einen starken Stoß. Ferner erblickte er flüchtig die vorüberfliegende Gestalt eines baumlangen Offiziers von irgendeinem Regiment. Einer, der wie die andern laut stampfend vorbeitanzte, rief mit wunderlich piepender Stimme: »Ach, mein lieber Pseldonimow!« Unter Iwan Iljitschs Füßen war etwas Klebriges: offenbar war der Fußboden frisch mit Wachs gebohnt worden. In dem Zimmer, das übrigens nicht gerade klein war, mochten etwa dreißig Gäste sein.

Aber eine Minute darauf war die Quadrille zu Ende, und es begab sich fast genau das, was sich Iwan Iljitsch im voraus ausgemalt hatte, als er noch auf dem Trottoir über die Sache nachdachte. Durch die Gruppen der Gäste, die noch nicht hatten vom Tanze zu Atem kommen und sich den Schweiß vom Gesichte wischen können, ging ein murmelndes Geräusch, ein seltsames Flüstern hin und her. Alle Augen, alle Gesichter wandten sich schnell dem eingetretenen Gaste zu. Darauf begannen alle sofort sich ein wenig von ihm zu entfernen und zurückzuweichen. Diejenigen, die ihn noch nicht bemerkt hatten, wurden von den andern an den Kleidern gezupft und auf ihn aufmerksam gemacht. Dann blickten sie um sich und wichen sofort ebenfalls mit den übrigen zurück. Iwan Iljitsch stand immer noch in der Tür, ohne einen Schritt vorwärts zu tun, und zwischen ihm und den Gästen vergrößerte sich immer mehr der freie Zwischenraum, auf dem der Fußboden mit zahllosen Bonbonpapieren und Zigarettenstümpfchen besät war. Auf einmal trat in diesen Zwischenraum schüchtern ein junger Mann heraus, in einer Beamtenuniform, mit büschelartig abstehendem, hellblondem Haare und stark gebogener Nase. Er bewegte sich in gebückter Haltung vorwärts, indem er den unerwarteten Gast mit genau demselben Blicke ansah wie ein Hund seinen Herrn, der ihn ruft, um ihm einen Fußtritt zu geben.

»Guten Abend, Pseldonimow! Erkennst du mich?« sagte Iwan Iljitsch und hatte im gleichen Augenblicke die Empfindung, daß er diese Worte furchtbar ungeschickt herausgebracht habe; und ferner ahnte ihm, daß er vielleicht in diesem Augenblick eine gräßliche Dummheit beging.

»Ex– … Ex–zellenz! …« murmelte Pseldonimow.

»Nun ja, ja. Ich bin ganz zufällig zu dir herangekommen, lieber Freund, wie du dir das wohl selbst vorstellen kannst …«

Aber Pseldonimow war augenscheinlich außerstande, sich irgend etwas vorzustellen. Er stand mit weit aufgerissenen Augen da, in entsetzlichster Verlegenheit.

»Ich denke mir, du wirst mich ja wohl nicht hinauswerfen. ›Dem Gaste zeig ein froh Gesicht, ob er zu paß kommt oder nicht!‹« fuhr Iwan Iljitsch fort und merkte, daß er in arge Verwirrung geriet und in ganz bedenklicher Weise alle Herrschaft über seine Geisteskräfte verlor, daß er lächeln wollte, es aber nicht mehr zustande brachte, und daß die in Aussicht genommene humoristische Erzählung über Stepan Nikiforowitsch und Trifon immer mehr und mehr für ihn ein Ding der Unmöglichkeit wurde. Pseldonimow aber verharrte, um das Unglück voll zu machen, in seinem Zustande der Starrheit und blickte seinen Vorgesetzten immer noch mit der allerdümmsten Miene an. Iwan Iljitsch zuckte krampfhaft zusammen; er sagte sich: »Noch eine solche Minute, und ich werde den reinen Unsinn reden.«

»Hoffentlich störe ich nicht … sonst gehe ich wieder!« sagte er mit Anstrengung, und ein kleiner Muskel in seinem rechten Mundwinkel begann zu zucken.

Aber nun hatte Pseldonimow einigermaßen die Fassung wiedergewonnen.

»Exzellenz, aber ich bitte Sie … die Ehre …« murmelte er unter fortgesetzten eiligen Verbeugungen. »Haben Sie die Gnade, Platz zu nehmen …« Und immer mehr zu sich kommend, wies er mit beiden Händen auf das Sofa, von dem des Tanzens wegen der Tisch weggerückt war.

Iwan Iljitsch atmete innerlich auf und ließ sich auf das Sofa nieder; sofort schob jemand den Tisch wieder davor. Er warf einen hastigen Blick um sich und bemerkte, daß er der einzige war, der saß; alle übrigen standen, auch die Damen. Das war ein übles Vorzeichen für den weiteren Verlauf der Sache. Aber den Leuten freundlich zuzureden und sie zu ermutigen, dazu war noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen. Die Gäste wichen immer noch zurück, und vor ihm stand immer noch allein in gekrümmter Haltung Pseldonimow, der noch immer nichts begriff und weit davon entfernt war, zu lächeln. Es war eine garstige Situation; kurz gesagt: in diesen Minuten hatte unser Held so viel unangenehme Empfindungen durchzumachen, daß dieser gnädige Besuch, den er um des Prinzips willen à la Harun al Raschid bei seinem Untergebenen machte, tatsächlich als eine Heldentat bewertet werden konnte. Aber auf einmal tauchte neben Pseldonimow noch eine andere Gestalt auf, welche Verbeugungen zu machen begann. Iwan Iljitsch fühlte sich unaussprechlich erleichtert, ja geradezu glückselig, als er sofort sah, daß es der Büreauvorsteher aus seiner Kanzlei, Akim Petrowitsch Subikow, war, dem er zwar natürlich noch nie nähergetreten war, den er aber als einen tüchtigen, schweigsamen Beamten kannte. Er stand unverzüglich auf und streckte ihm die Hand hin, die ganze Hand, nicht bloß zwei Finger. Dieser erfaßte sie in tiefster Ehrerbietung mit beiden Händen. Der Präsident triumphierte; die Situation war gerettet.

Und wirklich, nunmehr war Pseldonimow sozusagen nicht mehr die zweite, sondern erst die dritte Person. Iwan Iljitsch konnte sich nun mit seiner Erzählung direkt an den Bureauvorsteher wenden und ihn in dieser Notlage als Bekannten, ja als guten Bekannten behandeln, und Pseldonimow mochte unterdessen einfach schweigen und vor Ehrfurcht zittern. Mithin war der Anstand gewahrt. Aber die Erzählung war notwendig; das fühlte Iwan Iljitsch; er sah, daß alle Gäste etwas erwarteten, daß sogar die Dienstboten in beiden Türen zusammengedrängt standen und beinah einer auf den andern kletterten, um ihn zu sehen und zu hören. Ärgerlich war, daß der Bureauvorsteher in seiner Dummheit sich immer noch nicht setzte.

»Nehmen Sie doch Platz!« sagte Iwan Iljitsch und wies mit einer Handbewegung, die wenig geschickt herauskam, neben sich auf das Sofa.

»Aber ich bitte sehr … ich kann ja auch hier …« erwiderte Akim Petrowitsch und setzte sich hastig auf einen Stuhl, den ihm der immer noch hartnäckig stehen gebliebene Pseldonimow in größter Eile hinstellte.

»Können Sie sich so einen merkwürdigen Zufall vorstellen?« begann Iwan Iljitsch; er wandte sich dabei ausschließlich an Akim Petrowitsch; die Stimme zitterte ihm zwar immer noch etwas, funktionierte aber doch schon ohne Hinderung. Damit es ungenierter klänge, reckte und dehnte er sogar die Worte, legte den Ton auf bestimmte Silben, sprach den Vokal a ähnlich wie ä; kurz er benahm sich äußerst wunderlich und komisch. Dessen war er sich zwar selbst hinlänglich bewußt; aber seine Handlungen hingen nicht mehr von seinem Willen ab; eine äußere Gewalt regierte ihn. Dieses Bewußtsein bereitete ihm die größte Pein.

»Können Sie sich das vorstellen, ich komme soeben von Stepan Nikiforowitsch Nikiforow; Sie haben vielleicht von ihm gehört, er ist Geheimrat in der … in der Kommission für …«

Akim Petrowitsch beugte sich respektvoll mit dem ganzen Oberkörper nach vorn, um damit auszudrücken: »Gewiß, wie sollte ich nicht von ihm gehört haben!«

»Er ist jetzt dein Nachbar,« fuhr Iwan Iljitsch fort, indem er sich für einen Augenblick um des Anstandes willen, und um den Schein der Ungezwungenheit zu erregen, an Pseldonimow wandte; aber er blickte schnell wieder von ihm weg, da er an Pseldonimows Augen sofort merkte, daß diesem diese Nachbarschaft vollkommen gleichgültig war.

»Er ist schon bejahrt, wie Sie wissen, hat sich sein ganzes Leben lang mit der Absicht getragen, sich ein Haus zu kaufen … na, nun hat er sich denn wirklich eins gekauft. Und ein sehr hübsches Haus ist es. Ja … Und nun war heute auch noch gerade sein Geburtstag; den hat er ja freilich früher niemals festlich begangen, hat ihn sogar vor uns geheim gehalten und verleugnet, aus Sparsamkeit, hehe! Aber jetzt freute er sich so über sein neues Haus, daß er mich und Semjon Iwanowitsch zu sich einlud. Sie wissen wohl: Semjon Iwanowitsch Schipulenko.«

Akim Petrowitsch verbeugte sich wieder. Er tat das mit einer Art von dienstlichem Eifer. Iwan Iljitsch fühlte sich jetzt etwas leichter ums Herz. Aber da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß der Bureauvorsteher es vielleicht errate, eine wie unentbehrliche Stütze er in diesem Augenblicke für Seine Exzellenz war. Das wäre das Allerwiderwärtigste gewesen!

»Na also, wir saßen zu dreien zusammen; er hatte uns Champagner vorgesetzt, und wir redeten über allerlei amtliche Gegenstände … ja, über dieses und jenes … über wichtige Fragen … Wir stritten uns sogar ein bißchen … hehe!«

Akim Petrowitsch zog respektvoll die Augenbrauen in die Höhe.

»Aber das gehört nicht hierher. Also ich empfehle mich ihm endlich; er ist ein pünktlicher alter Herr, legt sich früh hin, Sie verstehen, eine Folge des Alters. Ich trete aus der Haustür … wer nicht da ist, ist mein Trifon! Ich werde unruhig und erkundige mich: ›Wo ist Trifon mit meinem Wagen geblieben?‹ Es stellt sich heraus, daß er, in der Meinung, ich würde noch eine ziemliche Weile drinnen bleiben, sich auf eine Hochzeit begeben hat, zu irgendeiner Gevatterin oder Schwester, was weiß ich. Hier irgendwo auf der Petersburger Seite. Und den Wagen hatte er auch gleich mitgenommen.«

Der Präsident richtete seinen Blick anstandshalber wieder nach Pseldonimow hin. Dieser krümmte sich sofort zusammen; aber ganz und gar nicht in der Weise, wie es dem Präsidenten erwünscht gewesen wäre. »Dieser Mensch hat kein Mitgefühl, kein Herz!« sagte er sich.

»Unerhört!« rief Akim Petrowitsch tief erschüttert.

Ein leises Gesumme des Erstaunens ging durch die ganze Menge der Anwesenden.

»Sie können sich meine Lage vorstellen …« Hier ließ Iwan Iljitsch seinen Blick über all seine Zuhörer hinschweifen. »Es war weiter nichts zu machen; ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich dachte, bis zum Großen Prospekt werde ich mich schon hinschleppen, und da finde ich dann gewiß eine Droschke … hehe!«

»Hihihi!« echote Akim Petrowitsch ehrerbietig zurück. Wieder erfolgte ein Gesumme unter der Menge, das aber diesmal bereits etwas heiterer klang. In diesem Augenblick sprang mit lautem Knack der Zylinder an einer Wandlampe. Eifrig stürzte jemand zu ihr hin, um die Sache in Ordnung zu bringen. Pseldonimow war zusammengefahren und hatte der Lampe einen strengen Blick zugeworfen; aber der Präsident beachtete den Vorfall gar nicht, und alle beruhigten sich schnell wieder.

»Also ich ging … und die Nacht war so wunderschön, so still. Auf einmal hörte ich Musik, das Geräusch von Füßen; da wurde getanzt. Ich erkundigte mich bei einem Schutzmann und bekam die Auskunft: Pseldonimow macht Hochzeit. Du gibst hier wohl so großartige Bälle, lieber Freund, daß man es durch die ganze Petersburger Seite hin hört? Haha!« Mit den letzten Worten wandte er sich auf einmal wieder an Pseldonimow.

»Hihihi! Ja, ja …« echote Akim Petrowitsch; durch die Gäste ging wieder eine leise Bewegung; aber recht dumm war es, daß Pseldonimow zwar wieder seine Verbeugungen machte, jedoch auch jetzt nicht lächelte, gerade wie wenn er von Holz gewesen wäre. »Nein, ist das ein Dummkopf!« dachte Iwan Iljitsch. »Hier hätte der Esel doch lächeln sollen; dann wäre alles Weitere wie geschmiert gegangen.« Er war innerlich wütend vor Ungeduld.

»Da dachte ich: Willst doch einmal zu deinem Untergebenen herangehn; er wird dich ja nicht hinauswerfen. ›Dem Gaste zeig ein froh Gesicht, ob er zu paß kommt oder nicht!‹ Also, bitte, nimm es nicht übel, lieber Freund! Wenn ich irgendwie störe, so gehe ich wieder weg … Ich bin ja doch nur herangekommen, um ein bißchen zuzusehen …«

Akim Petrowitsch machte eine süßliche Miene, welche bedeuten sollte: »Aber können Euer Exzellenz denn überhaupt stören?«

Aber allmählich begann eine allgemeine Bewegung sich bemerkbar zu machen; alle Gäste fingen wieder an, sich zu rühren, und ließen die ersten Anzeichen wiederkehrender Ungezwungenheit wahrnehmen. Die Damen saßen schon beinahe alle wieder. Das war ein gutes, unzweideutiges Zeichen. Die dreisteren von ihnen fächelten sich mit den Taschentüchern Luft zu. Eine Dame in einem abgetragenen Samtkleide sagte absichtlich etwas mit lauter Stimme. Der Offizier, an den sie sich gewandt hatte, fing an, ihr ebenfalls laut zu antworten; aber da sie die beiden einzigen laut Sprechenden waren, so retirierte er doch wieder zum Flüstertone. Die Herren, größtenteils Kanzleibeamte, dazu zwei oder drei Studenten, wechselten Blicke miteinander, wie wenn sie sich gegenseitig wieder zu ungeniertem Benehmen auffordern wollten, räusperten sich und begannen ein paar Schritte nach dieser oder jener Seite zu machen. Übrigens war niemand eigentlich verlegen; nur scheu waren alle, und die meisten warfen im stillen feindselige Blicke auf den Menschen, der sich in ihren Kreis eingedrängt hatte, um ihr Vergnügen zu stören. Der Offizier, der sich seiner Feigheit schämte, begann sich allmählich dem Tische zu nähern.

»Höre mal, lieber Freund, gestatte die Frage: wie heißt du eigentlich mit Vornamen und Vatersnamen?« fragte Iwan Iljitsch seinen Untergebenen Pseldonimow.

»Porfiri Petrowitsch, Exzellenz,« antwortete dieser mit weit aufgerissenen Augen, in derselben Art wie bei einer dienstlichen Revision.

»Also, Porfiri Petrowitsch, mache mich doch mit deiner jungen Frau bekannt! … Führe mich zu ihr! …Ich …«

Er wollte seine Absicht ausdrücken, aufzustehen. Aber Pseldonimow stürzte in größter Hast nach dem Wohnzimmer. Dort stand die junge Frau in der Tür, versteckte sich aber sofort, als sie hörte, daß von ihr die Rede war. Einen Augenblick darauf brachte Pseldonimow sie an der Hand herbei. Alle traten auseinander, um ihnen Platz zu machen. Iwan Iljitsch erhob sich feierlich und wandte sich mit dem liebenswürdigsten Lächeln zu ihr.

»Es ist mir eine große, große Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er mit einer höchst eleganten halben Verbeugung, »und noch dazu an einem solchen Tage …«

Er lächelte schelmisch. Die Damen gerieten in eine angenehme Erregung.

» Charmée,« sagte die Dame im Samtkleide beinah laut.

Die junge Frau paßte vorzüglich zu Pseldonimow. Sie war ein mageres Persönchen, erst siebzehn Jahre alt, bläßlich, mit sehr kleinem Gesicht und einem spitzen Näschen. Ihre kleinen Augen, die flink umherliefen, zeigten keine Spur von Verlegenheit, sondern blickten scharf und aufmerksam; ja, es lag in ihnen sogar eine Andeutung von Bosheit. Offenbar hatte Pseldonimow sie nicht um ihrer Schönheit willen genommen. Sie trug ein weißes Musselinkleid über einem rosa Unterkleide. Ihr Hals war hager; der Körper hatte Ähnlichkeit mit dem eines jungen Hühnchens; die Knochen standen überall heraus.

Auf die Begrüßung von seiten des Präsidenten wußte sie absolut nichts zu erwidern.

»Da hast du ja eine sehr hübsche kleine Frau bekommen,« fuhr er halblaut fort, als ob er sich nur an Pseldonimow wendete, aber absichtlich so laut, daß es auch die junge Frau hören mußte.

Aber Pseldonimow antwortete auch hierauf keine Silbe; ja er verbeugte sich diesmal nicht einmal. Iwan Iljitsch glaubte sogar zu bemerken, daß in den Augen desselben eine gewisse Kälte, etwas Verstecktes, sogar etwas Eigensinniges, Bösartiges läge. Und doch mußte er um jeden Preis bei seinem Untergebenen angenehme Empfindungen erwecken. Das war ja der Zweck, zu dem er hergekommen war.

»Na, das ist mal ein Pärchen!« dachte er im stillen. »Indessen …«

Er wandte sich von neuem zu der jungen Frau, die neben ihm auf dem Sofa Platz genommen hatte, erhielt aber auf einige Fragen, die er an sie richtete, nur ein Ja oder Nein zur Antwort und auch das nicht immer.

»Wenn sie nur wenigstens verlegen würde,« setzte er sein Selbstgespräch fort. »Dann könnte ich anfangen zu scherzen. So aber ist meine Situation hoffnungslos.«

Auch Akim Petrowitsch schwieg leider. Er tat es ja zwar aus Dummheit; aber dennoch war es unverzeihlich.

»Meine Herrschaften! Ich habe Sie doch nicht etwa in Ihrem Vergnügen gestört«?« wandte Iwan Iljitsch sich an alle insgemein.

Er fühlte, daß ihm sogar die Hände zu schwitzen begannen.

»Durchaus nicht … Seien Sie unbesorgt, Exzellenz! Wir fangen gleich wieder an; jetzt müssen wir uns aber erst ein bißchen abkühlen,« antwortete der Offizier.

Die junge Frau sah den Redenden mit sichtlichem Wohlgefallen an: der Offizier war noch nicht alt und sah in seiner Uniform nicht übel aus. Pseldonimow stand noch immer auf demselben Flecke, in vorgebeugter Haltung, und streckte, wie es schien, seine gekrümmte Nase noch mehr heraus als vorher. Seine Art zuzuhören und sein Gesichtsausdruck waren dieselben wie bei einem Lakaien, der mit dem Pelz in den Händen dasteht und darauf wartet, daß seine Herrschaften ihr Abschiedsgespräch beenden. Diese Ähnlichkeit fand Iwan Iljitsch selbst heraus; er verlor die Fassung; es wurde ihm unheimlich; er hatte eine Empfindung, als weiche ihm der Boden unter den Füßen weg, als habe er irgendwelche dunklen Räumlichkeiten betreten und könne nun aus ihnen nicht wieder den Ausgang finden.


Auf einmal traten alle zu einer Gasse auseinander, und es erschien eine kleine, stämmige, schon ältere Frau, in einfacher, aber festtäglicher Kleidung, um die Schultern ein großes Tuch, das am Halse zugesteckt war, auf dem Kopfe eine Haube, die ihr offenbar ungewohnt war. In den Händen hielt sie einen kleinen, runden Präsentierteller, auf dem eine noch nicht angeschenkte, aber bereits entkorkte Flasche Champagner stand, daneben zwei Gläser, nicht mehr und nicht weniger. Die Flasche war augenscheinlich nur für zwei Gäste bestimmt.

Die ältliche Frau näherte sich dem Präsidenten.

»Nehmen Sie fürlieb, Exzellenz!« sagte sie mit einer Verbeugung. »Da Sie uns doch nicht verachtet, sondern uns die Ehre erwiesen haben, auf die Hochzeit meines lieben Sohnes zu kommen, so bitten wir nun, Sie wollen die Gnade haben, auf das Wohl des jungen Paares zu trinken. Achten Sie uns nicht für zu gering, erweisen Sie uns die Ehre!«

Iwan Iljitsch griff nach ihr wie nach seiner Retterin. Sie war noch keineswegs sehr bejahrt, sondern nur etwa fünfundvierzig bis sechsundvierzig Jahre alt, nicht mehr. Aber sie hatte ein so gutes, frisches, offenes, rundliches russisches Gesicht, sie lächelte so gutherzig, verbeugte sich in so schlichter Weise, daß Iwan Iljitsch sich in seinen Nöten beinah getröstet fühlte und wieder Hoffnung schöpfte.

»Also Sie–ie–ie sind die Mutter Ihres Soh–nes?« sagte er, indem er sich vom Sofa erhob.

»Jawohl, meine Mutter, Exzellenz!« stotterte Pseldonimow, der wieder seinen langen Hals ausreckte und seine Nase von neuem vorschob.

»Ah, sehr erfreut, sehr er–freut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Dann bitten wir also, uns nicht zu verachten, Exzellenz.«

»Sogar mit dem größten Vergnügen.«

Sie stellte den Präsentierteller hin; Pseldonimow sprang hinzu und goß den Wein ein. Iwan Iljitsch ergriff, immer noch stehend, eines der beiden Gläser.

»Ich freue mich außerordentlich, außerordentlich über diesen Zufall, der mich in die Lage setzt, …« begann er, »der mich in die Lage setzt, … bei dieser Gelegenheit Zeugnis davon abzulegen … Mit einem Worte, als Vorgesetzter … wünsche ich Ihnen, meine Dame« (er wandte sich an die Neuvermählte) »und dir, mein Freund Porfiri, … ein volles, ungetrübtes und langdauerndes Eheglück.«

Nach diesen Worten trank er ordentlich mit Gefühl sein Glas aus, das siebente an diesem Abende. Pseldonimow machte ein ernstes, ja mürrisches Gesicht. Der Präsident begann einen grimmigen Haß gegen diesen Menschen zu empfinden.

»Und auch dieser lange Laban«, dachte er mit einem Blick auf den Offizier, »steht da und rührt sich nicht. Könnte er nicht wenigstens Hurra rufen? Das hätte sich doch gehört, ganz entschieden …«

»Und auch Sie, Akim Petrowitsch, bitten wir auf das Wohl des jungen Paares zu trinken,« fügte die Alte, sich zu dem Bureauvorsteher wendend, hinzu. »Sie sind der Vorgesetzte, und er ist Ihr Untergebener. Als Mutter bitte ich: haben Sie ein Auge auf meinen lieben Sohn! Und vergessen Sie uns auch in Zukunft nicht, Akim Petrowitsch, Sie unser Täubchen, Sie guter Mensch!«

»Was für prächtige Wesen doch diese alten russischen Frauen sind,« dachte Iwan Iljitsch. »Sie hat in die ganze Gesellschaft Leben hineingebracht. Ich habe den Volkscharakter immer gern leiden mögen …«

In diesem Augenblicke wurde ein zweites Präsentierbrett zum Tische gebracht. Dieses wurde von einem Dienstmädchen getragen, in einem knatternden, noch nicht gewaschenen Kattunkleide und einer Krinoline. Das Mädchen vermochte das Präsentierbrett kaum mit beiden Armen zu umfassen, so groß war dasselbe. Darauf stand eine zahllose Menge von Tellerchen mit Äpfeln, Konfekt, Obstgelee, Marmelade,Walnüssen usw. usw. Das Präsentierbrett hatte bisher in der Wohnstube gestanden, zur Bewirtung aller Gäste und besonders der Damen. Aber jetzt wurde es herübergebracht, um dem Präsidenten allein angeboten zu werden.

»Verschmähen Sie unsere Kost nicht, Exzellenz! Wir geben von Herzen und mit Freuden, was wir haben,« sagte wieder die alte Frau mit einer Verbeugung.

»Aber ich bitte Sie …« erwiderte Iwan Iljitsch und nahm mit wirklichem Vergnügen eine Walnuß, die er dann zwischen den Fingern zerdrückte. Er war nunmehr entschlossen, seine Popularitätsrolle bis zu Ende durchzuführen.

Da hörte er, wie die junge Frau auf einmal loskicherte.

»Nun, was gibt es denn?« fragte Iwan Iljitsch lächelnd; ein solches Lebenszeichen war ihm eine wahre Freude.

»Ach, der Herr hier, Iwan Kostenkinytsch, hat mich zum Lachen gebracht,« antwortete sie und schlug sogleich wieder die Augen nieder.

Der Präsident bemerkte nun in der Tat einen blonden, recht hübschen jungen Mann, der auf der andern Seite neben dem Sofa versteckt auf einem Stuhle saß und der jungen Frau Pseldonimowa etwas zugeflüstert hatte. Er schien sehr schüchtern und noch sehr jung zu sein.

»Ich habe ihr von dem Traumbuch gesagt, Exzellenz,« murmelte er, als ob er sich entschuldigen wollte.

»Von was für einem Traumbuch?« fragte Iwan Iljitsch leutselig.

»Es ist ein neues Traumbuch erschienen, ein ›Literarisches Traumbuch‹. Ich habe zu ihr gesagt, wenn man von Herrn Panajew Panajew (1792-1859) dichtete Idyllen. träumt, so bedeutet das, daß man sich das Chemisett Diminutiv von französisch chemise. In der Männermode bezeichnet es die gestärkte Hemdbrust an Frack- und Smokinghemden. Bei der Damenmode bezeichnet es einen weißen Einsatz (Kragen, Kragentuch) am vorderen Oberteil des Damenkleides oder -anzuges. – Anm.d.Hrsg. mit Kaffee begießen wird.«

»Gott, wie harmlos!« dachte Iwan Iljitsch, der sich darüber geradezu ärgerte.

Obgleich der junge Mann bei seinen Worten sehr rot geworden war, freute er sich doch über alle Maßen, daß er diesen schönen Scherz über Herrn Panajew hatte erzählen können.

»N–ja, ja, ich habe von dem Buche gehört …« versetzte Seine Exzellenz.

»Nein, da weiß ich noch eine bessere Geschichte,« sagte ein anderer dicht neben Iwan Iljitsch. »Es wird ein neues Literaturlexikon herausgegeben, und darin sind, wie man erzählt, im Buchstaben a Herrn Krajewski Krajewski (1810-1890), Journalist. die Artikel Alferaki Personenname. … und ablitschitelnaja literatura Ein orthographischer Fehler für oblitschitelnaja literatura »Polemische Literatur«. – Anm. des Übers. übertragen worden …«

Der junge Mann, der dies vorgebracht hatte, zeigte keinerlei Verlegenheit, sondern vielmehr ein ziemlich ungeniertes Benehmen. Er trug Handschuhe und eine weiße Weste und hielt seinen Hut in der Hand. Er beteiligte sich nicht am Tanze und machte ein recht hochmütiges Gesicht, da er Mitarbeiter an dem satirischen Journal »Der Feuerbrand« war. Er suchte überall den Ton anzugeben und war auf diese Hochzeit nur durch einen Zufall geraten, indem er als Ehrengast von Pseldonimow eingeladen worden war, mit dem er auf Du und Du stand, und mit dem er noch im vorigen Jahre bei einer deutschen Zimmervermieterin gemeinsam ein elendes, kleines Logis innegehabt hatte. Dem Branntwein war er jedoch nicht abhold und hatte sich bereits mehrmals zu diesem Zwecke nach einem abgelegenen, stillen Hinterzimmer absentiert, wohin alle Herren den Weg wußten. Dem Präsidenten mißfiel er im höchsten Grade.

»Das Lächerliche dabei ist dies,« unterbrach den Redenden plötzlich mit freudigem Eifer der blonde junge Mann, der vorher die Geschichte mit dem Chemisett erzählt hatte (der Mitarbeiter mit der weißen Weste warf ihm wegen dieser Unterbrechung einen haßerfüllten Blick zu), »das Lächerliche dabei ist dies, Exzellenz, daß der Herausgeber des Lexikons annimmt, Herr Krajewski wisse mit der Orthographie nicht Bescheid und glaube, daß oblitschitelnaja literatura vorn mit einem a geschrieben werde …«

Aber der arme junge Mann brachte seine Auseinandersetzung nicht ganz zu Ende. Er sah es dem Präsidenten an den Augen an, daß dieser den Witz schon längst kannte; denn auf dem Gesichte des Präsidenten spiegelte sich eine Art von Verlegenheit wider, die offenbar davon herkam, daß er das, was man ihm vortrug, selbst schon wußte. Der junge Mann schämte sich bodenlos. Er machte sich möglichst schnell davon in ein anderes Zimmer und war in der ganzen folgenden Zeit sehr traurig. An seiner Statt rückte der Mitarbeiter des »Feuerbrandes« noch näher heran und hatte, wie es schien, die Absicht, sich in der Nähe des Präsidenten hinzusetzen. Eine solche Ungeniertheit hielt aber Iwan Iljitsch für einigermaßen bedenklich.

»Ja, bitte, sage mal, Porfiri,« fing er an, um doch etwas zu sagen, »warum – ich habe dich immer schon persönlich danach fragen wollen – warum wirst du denn Pseldonimow genannt, und nicht Psewdonimow? Die ursprüngliche Form ist doch sicherlich Psewdonimow?«

»Ich kann darüber keine zuverlässige Auskunft geben, Exzellenz,« erwiderte Pseldonimow.

»Das stammt gewiß noch von seinem Vater her,« bemerkte Akim Petrowitsch. »Als der in den Dienst trat, wird der Name in den Akten verschrieben worden sein, und so hat denn die falsche Form Pseldonimow bis jetzt fortbestanden. Dergleichen kommt vor.«

»Un–zwei–fel–haft,« stimmte ihm der Präsident eifrig bei, »un–zwei–fel–haft! Denn, sagen Sie selbst: Psewdonimow, das kommt von dem Fremdwort psewdonim D. i. pseudonym. – Anm. des Übers. her; na, aber Pseldonimow, das bedeutet gar nichts.«

»Da ist eben die Dummheit schuld,« fügte Akim Petrowitsch hinzu.

»Wie meinen Sie das?«

»Das gemeine Volk bei uns in Rußland vertauscht manchmal aus Dummheit die Buchstaben und spricht die Worte manchmal auf seine besondere Art aus. Zum Beispiel sagen die gewöhnlichen Leute ›Nevalide‹, und sie müßten doch ›Invalide‹ sagen.«

»Ja, ja … ›Nevalide‹, hehehe …«

»Sie sagen auch ›Mummer‹, Exzellenz,« warf der lange Offizier dazwischen, der schon seit geraumer Zeit darauf brannte, sich bemerklich zu machen.

»Hm, was soll denn das heißen: ›Mummer‹?«

»›Mummer‹ ist so viel wie ›Nummer‹, Exzellenz.«

»Ach ja, ›Mummer‹ … so viel wie ›Nummer‹ … Ja, ja … hehehe! …« Iwan Iljitsch hielt es für nötig, auch dem Offizier durch Lachen seine Anerkennung auszudrücken.

Der Offizier rückte sich seine Halsbinde zurecht.

»Sie sagen auch nimo,« mischte sich der Mitarbeiter des »Feuerbrandes« in das Gespräch. Aber Seine Exzellenz bemühte sich, seine Bemerkung zu überhören. Er brauchte doch auch nicht für all und jeden zu lachen.

» Nimo für mimo mimo = »vorbei«, »vorüber«. – Anm. des Übers. wiederholte der Mitarbeiter beharrlich; es war ihm seine gereizte Stimmung deutlich anzumerken.

Iwan Iljitsch warf ihm einen strengen Blick zu.

»Sei doch nicht so aufdringlich,« flüsterte Pseldonimow dem Mitarbeiter zu.

»Ach was, ich beteilige mich an der Unterhaltung. Am Ende darf man nicht einmal mehr reden?« räsonierte dieser flüsternd, schwieg dann aber doch und verließ, innerlich wütend, das Zimmer.

Er begab sich geradeswegs nach jenem anziehenden Hinterzimmer, wo für die tanzenden Herren schon vom Beginn des Festes an auf einem kleinen Tischchen, das mit einem Jaroslawler Tischtuch bedeckt war, allerlei gute Dinge bereit standen: zwei Sorten Branntwein, Hering, Kaviarbrötchen und eine Flasche mit sehr starkem Sherry inländischen Ursprungs. Mit Grimm im Herzen war er gerade dabei, sich einen Schnaps einzugießen, als plötzlich der Studiosus Medicinae mit dem unordentlichen Haar hereingelaufen kam, der beste Tänzer auf Pseldonimows Ballfeste und im Cancan geradezu ein Meister. Mit gieriger Hast griff er nach der Flasche.

»Es geht gleich los!« sagte er eilig im Tone dringlicher Aufforderung. »Komm zum Zusehen: ich werde ein Solo tanzen mit den Beinen nach oben, und nach dem Abendessen riskiere ich den Fischtanz. Das paßt gerade zu einer Hochzeit. Es ist sozusagen eine freundschaftliche Aufmerksamkeit für Pseldonimow … Ein prächtiges Frauenzimmer ist diese Kleopatra Semjonowna; mit der kann man alles riskieren, was man nur will.«

»Er ist ein Reaktionär,« erwiderte der Mitarbeiter finster und trank sein Glas aus.

»Wer ist ein Reaktionär?«

»Na er! Der Mensch, vor den sie das Obstgelee hingestellt haben. Ein Reaktionär, sage ich dir.«

»Was du alles redest!« murmelte der Student und stürzte aus dem Zimmer, da er das Vorspiel der Quadrille hörte.

Allein zurückgeblieben, goß der Mitarbeiter sich noch ein Glas ein, um seinen Mut zu erhöhen und sich noch mehr dessen bewußt zu werden, daß er ein freier Mann sei, trank es aus und aß einen Bissen; noch niemals hatte der Wirkliche Staatsrat Iwan Iljitsch sich einen wütenderen Feind und rachsüchtigeren Gegner erworben, als es der von ihm so geringschätzig behandelte Mitarbeiter des »Feuerbrandes« war, und namentlich nach dem Genusse der beiden Gläser Branntwein. O weh! Iwan Iljitsch argwöhnte nichts Derartiges. Auch einen andern sehr wichtigen Umstand argwöhnte er nicht, einen Umstand, der den größten Einfluß auf die gesamten weiteren gegenseitigen Beziehungen zwischen den Gästen und Seiner Exzellenz haben sollte. Die Sache war die. Er hatte zwar seinerseits eine angemessene und sogar mit Details ausgeschmückte Erklärung für sein Erscheinen auf der Hochzeit seines Untergebenen gegeben; aber diese Erklärung hatte in Wirklichkeit niemanden befriedigt, und die Scheu der Gäste hatte fortgedauert. Aber auf einmal hatte sich das ganze Bild wie durch einen Zauberschlag geändert; alle hatten sich wieder beruhigt und Lust bekommen sich weiter zu amüsieren, zu lachen, zu kreischen und zu tanzen, ganz wie wenn der unerwartete Gast überhaupt nicht im Zimmer wäre. Die Ursache dieses Umschwunges war ein Gerücht, das sich (niemand wußte, woher) plötzlich verbreitet hatte: einer flüsterte dem andern zu, der hohe Gast scheine … hm … etwas angesäuselt zu sein. Allerdings machte diese Behauptung auf den ersten Blick den Eindruck der schändlichsten Verleumdung; aber allmählich ging man dazu über, sie doch gewissermaßen gerechtfertigt zu finden, und nun glaubte man auf einmal alles zu verstehen. Ja, das Benehmen wurde jetzt sogar ein außerordentlich freies und ungeniertes. Und gerade um diese Zeit begann eine Quadrille, die letzte vor dem Abendessen, die Quadrille, zu der der Studiosus Medicinae es so eilig gehabt hatte hinzukommen.

Eben wollte Iwan Iljitsch sich von neuem an die junge Frau wenden und diesmal den Versuch machen, ihr durch ein scherzhaftes Wortspiel beizukommen, als plötzlich der lange Offizier auf sie zustürzte und sich im Schwunge vor ihr auf ein Knie niederließ. Sie sprang sofort vom Sofa auf und flatterte mit ihm davon, um in die Quadrille einzutreten. Der Offizier hatte sich nicht einmal entschuldigt, und auch die junge Frau selbst hatte beim Fortgehen den Präsidenten gar nicht angesehen, war vielmehr anscheinend froh gewesen, von ihm loszukommen.

»Übrigens hat sie im Grunde genommen ein Recht dazu,« sagte sich Iwan Iljitsch; »aber von Anstand wissen die Leute hier nichts.« Dann wandte er sich an Pseldonimow: »Hm! … geniere dich nicht, Freund Pseldonimow! Vielleicht hast du da irgend etwas zu tun … mit Anordnungen … oder sonst etwas … Bitte, lege dir keinen Zwang auf!« Und in Gedanken fügte er hinzu: »Was steht der Mensch immer vor mir, als ob er mich bewachen wollte?«

Pseldonimow war ihm unerträglich geworden mit seinem langen Halse und den starr auf ihn gerichteten Augen. Kurz, alles war nicht so, wie es sein sollte, ganz und gar nicht; aber Iwan Iljitsch wollte sich das noch immer nicht eingestehen.


Die Quadrille hatte begonnen.

»Befehlen Exzellenz?« fragte Akim Petrowitsch, der respektvoll die Flasche in der Hand hielt und sich bereit machte, das Glas Seiner Exzellenz zu füllen.

»Ich … ich weiß wirklich nicht, ob …«

Aber Akim Petrowitsch goß bereits mit einem Gesichte, das vor Glückseligkeit strahlte, den Champagner ein.

Darauf füllte er gewissermaßen heimlich und verstohlen, sich krümmend und windend, auch sein eigenes Glas, aber mit dem Unterschiede, daß er bei diesem einen Finger breit fehlen ließ, was respektvoller war, als wenn er es vollgegossen hätte. Wie er so bei seinem höchsten Vorgesetzten saß und sich abquälte, einen Gesprächsstoff zu finden, hatte er Ähnlichkeit mit einem Weibe in Geburtswehen. In der Tat, worüber sollte er zu reden anfangen? Und doch mußte er Seine Exzellenz unterhalten; das war geradezu seine Pflicht, da er nun einmal die Ehre hatte, ihm Gesellschaft zu leisten. Da konnte nun der Champagner als Rettungsmittel dienen. Und tatsächlich war es auch Seiner Exzellenz ganz angenehm, daß der Bureauvorsteher eingoß, nicht des Champagners wegen, der warm war und abscheulich schmeckte, sondern aus einem andern Grunde, aus einem Grunde geistiger Art.

»Der Alte möchte selbst gern trinken,« dachte Iwan Iljitsch, »wagt es aber nicht, wenn ich es nicht auch tue. Na, ich will ihm nicht im Wege sein. Und es macht ja auch einen komischen Eindruck, wenn die Flasche vor uns steht und keiner trinkt.«

Er nahm einen Schluck; ein Genuß war es für ihn freilich nicht; aber es machte sich doch besser als das untätige Dasitzen.

»Ich bin eigentlich,« begann er (er sprach in Absätzen und betonte einzelne Silben in eigentümlicher Weise), »ich bin eigentlich sozusagen zufällig hierher gekommen, und allerdings werden vielleicht manche finden … daß es für mich … sozusagen … un–schick–lich ist, in solcher … Gesellschaft zu sein.«

Akim Petrowitsch schwieg und hörte mit der Miene schüchterner Neugier zu.

»Aber ich hoffe, Sie werden verstehen, warum ich hier bin. Gewiß nicht des Weines wegen; um den zu trinken, bin ich ja wohl nicht hergekommen … Hehe!«

Akim Petrowitsch setzte dazu an, als Echo für Seine Exzellenz gleichfalls zu lachen; aber (wie es nur kam?) er brachte das Lachen nicht zustande und antwortete auch diesmal wieder schlechterdings nichts Tröstliches.

»Ich bin hier … um sozusagen ermutigend und belebend zu wirken, um sozusagen auf ein ideales Ziel hinzuweisen, sozusagen,« fuhr Iwan Iljitsch fort; er ärgerte sich über Akim Petrowitschs stumpfsinniges Benehmen, verstummte aber selbst plötzlich. Er sah, daß der arme Akim Petrowitsch sogar die Augen niedergeschlagen hatte, als ob er sich irgendeiner Schuld bewußt wäre. Einigermaßen verlegen beeilte sich der Präsident, noch einmal einen Schluck aus seinem Glase zu nehmen; Akim Petrowitsch aber, wie wenn das die einzige Rettung wäre, ergriff die Flasche und goß von neuem nach.

»Von guten Einfällen scheinst du nicht gerade zu sprudeln,« dachte Iwan Iljitsch und warf dem armen Akim Petrowitsch einen strengen Blick zu. Dieser fühlte, daß der Präsident ihn streng ansah, und entschied sich nun dafür, vollständig zu schweigen und die Augen nicht mehr zu erheben. So saßen sie etwa zwei Minuten lang einander gegenüber, zwei qualvolle Minuten für Akim Petrowitsch.

Nun ein paar Worte über diesen Bureauvorsteher. Er war ein Mensch von so friedlichem Charakter wie ein Huhn, ein Beamter vom alten Schlage, in sklavischer Ergebenheit herangewachsen und alt geworden, dabei ein herzensguter und sogar ein anständig denkender Mensch. Er war ein Petersburger Russe, das heißt sein Vater und seines Vaters Vater waren in Petersburg geboren, waren dort aufgewachsen und hatten dort als Beamte im Dienst gestanden; keiner von ihnen war jemals aus Petersburg hinausgekommen. Das ist ein ganz eigentümlicher Typus unter den Russen. Von Rußland haben sie so gut wie gar keine Vorstellung, worüber sie sich übrigens in keiner Weise grämen. Ihr ganzes Interesse beschränkt sich auf Petersburg und vorzugsweise auf ihre Dienststelle. Alle ihre Sorgen sind auf ihre Préférencepartie (der Point eine Kopeke), auf die Kramläden, wo sie einkaufen, und auf ihr Monatsgehalt konzentriert. Sie kennen keinen einzigen russischen Brauch, kein einziges russisches Lied, außer dem »Leuchtspan«, und auch dieses nur deswegen, weil die Leierkasten es spielen. Übrigens gibt es zwei bedeutsame, feststehende Merkmale, an denen man sofort den wirklichen Russen von dem Petersburger Russen unterscheiden kann. Das erste Merkmal besteht darin, daß alle Petersburger Russen, und zwar alle ohne Ausnahme, niemals »Petersburger Nachrichten« sagen, sondern immer»Akademische Nachrichten«. Das zweite, gleichfalls bedeutsame Merkmal besteht darin, daß der Petersburger Russe niemals das russische Wort saftrak gebraucht, sondern sich immer dafür des deutschen Wortes fryschtik D. i. Frühstück. – Anm. des Übers. bedient, wobei er auf die Aussprache des Vokals y besonderen Wert legt. An diesen beiden Merkmalen kann man sie erkennen; kurz, es ist ein friedlicher Typus, der sich in den letzten fünfunddreißig Jahren immer entschiedener herausgebildet hat. Übrigens war Akim Petrowitsch keineswegs ein dummer Mensch. Hätte ihn der Präsident nach irgend etwas gefragt, was in seiner Sphäre lag, so würde er geantwortet und das Gespräch seinerseits im Gange gehalten haben; aber auf solche Reden, wie sie Iwan Iljitsch zuletzt geführt hatte, etwas zu erwidern, das paßte sich doch nicht für einen Untergebenen, wiewohl Akim Petrowitsch vor Neugier brannte, etwas Näheres über die wirklichen Absichten Seiner Exzellenz zu erfahren.

Iwan Iljitsch geriet immer mehr und mehr in einen mißlichen Zustand hinein: er vermochte keinen Entschluß zu fassen, und die Gedanken wirbelten in seinem Kopfe in wildem Kreislaufe durcheinander. In seiner Zerstreutheit trank er, ohne sich dessen bewußt zu werden, alle Augenblicke einen Schluck aus seinem Glase. Akim Petrowitsch goß es immer sofort mit größtem Diensteifer wieder voll. Beide schwiegen. Iwan Iljitsch fing an, dem Tanze zuzusehen, und dieser erregte bald bis zu einem gewissen Grade sein Interesse. Aber da fiel ihm auf einmal ein Umstand auf, der ihn geradezu in Erstaunen versetzte …

Beim Tanzen ging es in der Tat recht lustig zu. Hier tanzte man wirklich in aller Einfalt des Herzens, um sich zu amüsieren, ja um zu tollen. Unter den Tänzern befanden sich nur sehr wenige, die wirklich geschickt waren; aber die ungeschickten stampften so kräftig drauflos, daß man versucht sein konnte, auch sie für geschickt zu halten. In erster Linie tat sich der Offizier hervor: er liebte besonders solche Touren, in denen er allein tanzte und eine Art von Solotanz zum besten geben konnte. Hier zeigte er seine außerordentliche Geschmeidigkeit, nämlich in folgender Weise: nachdem er zuerst pfahlgerade gestanden hatte, bog er sich auf einmal seitwärts, so daß man glauben mußte, er würde hinfallen; aber beim folgenden Schritte bog er sich plötzlich nach der entgegengesetzten Seite, in demselben spitzen Winkel zum Fußboden. Dabei bewahrte er eine durchaus ernste Miene und tanzte offenbar in der festen Überzeugung, daß er von allen bewundert wurde. Ein anderer Herr war nach der zweiten Tour neben seiner Dame eingeschlafen, da er, um sich für die Quadrille zu stärken, vorher etwas zu viel getrunken hatte; so mußte denn seine Dame allein tanzen. Ein junger Registrator, dessen Tänzerin immer die Dame mit dem blauen Bande war, führte in allen Touren und in allen fünf Quadrillen, die an diesem Abend getanzt wurden, ein und dasselbe Kunststück aus: er trat ein wenig von seiner Dame zurück, ergriff das Ende ihres Bandes und drückte im Vorbeigehen mit fabelhafter Geschwindigkeit ein paar Dutzend Küsse darauf. Die Dame aber schwebte vor ihm dahin, als ob sie nichts bemerkte. Der Studiosus Medicinae tanzte wirklich sein Solo mit den Beinen nach oben und rief damit frenetischen Jubel, Beifallstrampeln und entzücktes Aufkreischen hervor. Kurz, die Ungezwungenheit war eine vollkommene. Iwan Iljitsch, bei dem auch der Wein zu wirken begann, bemühte sich zu lächeln; aber allmählich stahl sich ein quälender Zweifel in sein Herz: gewiß, er war ja selbst ein großer Freund von Ungeniertheit und Ungezwungenheit; er hatte diese Ungeniertheit von ganzer Seele herbeigewünscht damals, als alle vor ihm scheu zurückwichen; aber jetzt begann diese Ungeniertheit denn doch schon alle Grenzen zu überschreiten. Die eine Dame zum Beispiel, die in dem abgetragenen blauen Samtkleide, das gewiß schon drei Vorbesitzerinnen gehabt hatte, als sie es kaufte, steckte sich bei der sechsten Tour ihr Kleid mit Stecknadeln so zusammen, daß es aussah, als hätte sie Hosen an. Es war dies jene selbe Kleopatra Semjonowna, bei der man nach dem Ausdruck ihres Kavaliers, des Studiosus Medicinae, alles riskieren konnte. Und nun gar dieser Studiosus Medicinae selbst! Er war schon der reine Clown. Wie war das zugegangen? Zuerst waren sie vor dem fremden Gaste scheu zurückgewichen, und nun so bald darauf dieses überfreie Benehmen! Man konnte ja entschuldigend sagen, das sei nichts Schlimmes; aber dieser Umschwung war doch zu sonderbar und schien noch auf Weiteres vorauszudeuten. Ganz als ob sie vergessen hätten, daß Iwan Iljitsch auf der Welt sei. Selbstverständlich war er der erste, über diese Tollheiten zu lachen, und er ging sogar so weit, Beifall zu klatschen. Akim Petrowitsch ließ zu dem Lachen seines hohen Chefs unisono sein respektvolles Kichern vernehmen; übrigens tat er das mit sichtlichem Vergnügen und ohne zu ahnen, daß Seine Exzellenz bereits angefangen hatte, in seinem Herzen einen neuen Wurm zu nähren.

»Sie tanzen ja wundervoll, junger Mann!« fühlte sich Iwan Iljitsch veranlaßt zu dem Studiosus Medicinae zu sagen, der nach Beendigung der Quadrille gerade bei ihm vorbeiging.

Der Student drehte sich mit einer kurzen Wendung zu ihm hin, schnitt eine Grimasse, und indem er sein Gesicht so nahe an das Seiner Exzellenz heranbrachte, daß es geradezu eine Ungezogenheit war, krähte er aus vollem Halse wie ein Hahn. Das war denn doch zu viel. Iwan Iljitsch erhob sich vom Sofa und trat hinter dem Tische heraus. Trotzdem folgte eine gar nicht zu hemmende Lachsalve, da das Krähen wunderbar naturgetreu und die ganze Grimasse völlig unerwartet gewesen war. Iwan Iljitsch stand noch ganz verstört da, als plötzlich Pseldonimow selbst erschien und ihn unter vielen Verbeugungen zum Abendessen einlud. Gleich nach ihm erschien auch seine Mutter.

»Väterchen, Exzellenz,« sagte sie, sich gleichfalls verbeugend, »erweisen Sie uns die Ehre; verschmähen Sie unsere arme Bewirtung nicht! …«

»Ich … ich weiß wirklich nicht …« begann Iwan Iljitsch; »ich bin ja nicht mit der Absicht hergekommen … ich … wollte schon aufbrechen …«

In der Tat hatte er schon die Mütze in der Hand. Und noch mehr: eben jetzt, in diesem Augenblicke, hatte er sich fest vorgenommen, sofort, um jeden Preis, fortzugehen und unter keinen Umständen dazubleiben, und … und er blieb doch da. Eine Minute darauf eröffnete er den Zug zum Tische. Pseldonimow und seine Mutter gingen vor ihm her und bahnten ihm den Weg. Es wurde ihm am Tische der Ehrenplatz angewiesen, und wieder erschien vor seinem Gedeck eine unangeschenkte Flasche Champagner. Auf dem Tische standen als Vorgericht Hering und Branntwein bereit. Er streckte die Hand aus, goß sich selbst ein großes Glas Branntwein ein und trank es aus. Er hatte früher noch nie gewöhnlichen Branntwein getrunken. Er hatte ein Gefühl, als fahre er im Schlitten von einem Berge hinab, wie im Fluge, im Fluge, als müsse er sich an etwas halten, an etwas festklammern, finde aber dazu keine Möglichkeit.

Und in der Tat, seine Lage wurde immer seltsamer. Ja, es war geradezu eine Ironie des Schicksals. Welche Wandlung hatte er nicht innerhalb der letzten Stunde durchgemacht! Als er eintrat, hatte er sozusagen die Arme ausgebreitet, um die ganze Menschheit und alle seine Untergebenen an sein Herz zu drücken; und nun war noch nicht eine Stunde vergangen, und er merkte und fühlte zu seinem tiefsten Schmerze, daß er Pseldonimow haßte, daß er ihn und seine junge Frau und seine ganze Hochzeit verwünschte. Und daran nicht genug: er sah an Pseldonimows Gesichte, schon allein an dessen Augen, daß auch dieser seinerseits ihn selbst haßte, daß er aussah, als ob er sagen wollte: »Hol dich der Henker, verdammter Kerl! Warum hast du dich hier eingedrängt? …« Das hatte er schon lange in Pseldonimows Blicken gelesen.

Allerdings hätte Iwan Iljitsch auch jetzt, wo er am Tische saß, sich eher die Hand abhauen lassen, als daß er es sich selbst, geschweige denn laut, unumwunden eingestanden hätte, daß alles sich wirklich so verhielt. Dieser Augenblick war noch nicht ganz herangekommen; jetzt schwankte bei ihm sozusagen die Wage noch. Aber sein Herz, sein Herz … das wurde von einem dumpfen Schmerze durchwühlt! Sein Herz verlangte nach Freiheit, nach Luft, nach Ruhe. Iwan Iljitsch war schon ein herzensguter Mensch.

Er wußte ja, wußte sehr genau, daß er schon längst hätte weggehen sollen, sich hätte retten sollen. Daß die ganze Geschichte einen falschen Gang genommen, sich ganz und gar nicht so gestaltet hatte, wie er sich das vorhin auf dem Trottoir ausgemalt hatte.

»Wozu bin ich denn hergekommen? Bin ich etwa hergekommen, um hier zu essen und zu trinken?« fragte er sich, während er ein Stück Hering aß. Er verstieg sich sogar zu einer pessimistisch negierenden Auffassung der Dinge. In einzelnen Augenblicken urteilte er selbst über seine Großtat spöttisch und ironisch. Es war ihm schon fast unbegreiflich, warum er eigentlich hereingekommen war.

»Aber wie soll ich loskommen? So ohne weiteres wegzugehen, ohne die Sache zu einem angemessenen Ende gebracht zu haben, das geht denn doch nicht. Was würden die Leute dazu sagen? Sie würden sagen, ich triebe mich in unanständiger Gesellschaft umher. Und so wird es auch wirklich aussehen, wenn ich die Sache nicht zu einem richtigen Ende bringe. Was werden zum Beispiel gleich morgen (denn die Geschichte wird sich natürlich überall herumsprechen) Stepan Nikiforowitsch und Semjon Iwanowitsch in ihren Bureaus sagen und in den Familien, wo sie verkehren, bei Schembels und bei Schubins? Nein, ehe ich weggehe, muß ich dafür sorgen, daß alle verstehen, warum ich gekommen bin; ich muß mein ideales Ziel enthüllen …« Aber es wollte sich kein geeigneter Augenblick zur Ausführung dieses pathetischen Vorhabens darbieten. »Sie respektieren mich nicht einmal,« fuhr er in seinem stillen Selbstgespräche fort. »Worüber lachen sie? Sie gebärden sich so toll und ausgelassen, als besäßen sie gar kein Gefühl für das Gute und Edle … Ja, ich bin schon lange der Ansicht gewesen, daß es der ganzen jüngeren Generation an sittlichem Gefühl mangelt! Ich muß unter allen Umständen noch hierbleiben! … Vorhin tanzten sie; da ging es nicht; aber jetzt habe ich sie alle hier bei Tische zusammen … Ich will über die wichtigen Fragen der Gegenwart reden, über die in der Ausführung begriffenen Reformen, über die Größe Rußlands … es wird mir noch gelingen, sie zu begeistern! Ja! Vielleicht ist noch nichts verloren … Vielleicht geht es in Wirklichkeit immer so, durch Nacht zum Licht. Womit soll ich nur den Anfang machen, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln? Was ließe sich da für ein Kunstgriff erfinden? Ich bin so verwirrt, ganz verwirrt … Und was können sie gebrauchen, was verlangen sie? … Ich sehe, sie lachen da untereinander; wenn sie nur nicht über mich lachen, o Gott, o Gott! Was hält mich denn noch … wozu bin ich hier, warum gehe ich nicht weg, was will ich noch erreichen? …« So dachte er, und ein Gefühl der Scham, ein tiefes unerträgliches Gefühl der Scham ergriff ihn.


Aber das Verderben nahm seinen Gang; ein Unheil kam zum andern.

Genau zwei Minuten, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte, bemächtigte sich seiner ein furchtbarer Gedanke und erfüllte ihn vollständig: er merkte plötzlich, daß er schrecklich betrunken war, d. h. nicht in dem mäßigen Grade wie vorher, sondern völlig betrunken. Schuld daran war das Glas Branntwein, das er auf den Champagner getrunken hatte, und das nun unverzüglich wirkte. Er spürte und fühlte es an seinem ganzen Wesen, daß er unrettbar schwach wurde. Allerdings, sein Mut war sehr gewachsen; aber sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe und schrie ihm zu: »Das ist schlimm, sehr schlimm, und noch dazu ganz unanständig!« Seine unsicheren, trunkenen Gedanken vermochten nicht, einen einheitlichen Standpunkt festzuhalten; sein Geist war, sogar für ihn selbst wahrnehmbar, zweiteilig geworden. Auf der einen Seite war der Mut, der Wunsch zu siegen, alle Hindernisse zu überwinden, die hartnäckige Überzeugung, daß er seinen Zweck doch noch erreichen werde. Die andere Seite gab sich durch einen quälenden Schmerz tief im Innern der Seele, durch eine Art von Saugen am Herzen zu erkennen. »Was werden die Leute sagen? Wie wird das enden? Wie wird es mir morgen gehen, morgen, morgen? …«

Schon vor einem Weilchen hatte er eine unklare Empfindung gehabt, daß er unter den Gästen Feinde habe. »Sie verübeln es mir wohl, daß ich schon bei meiner Ankunft ein wenig angetrunken war,« hatte er damals, noch in peinlichem Zweifel befangen, bei sich gedacht. Wie groß war nun sein Schreck, als er jetzt tatsächlich an einwandfreien Zeichen erkannte, daß wirklich Leute, die seine Feinde waren, an diesem Tische saßen, und daß es unmöglich war, daran länger zu zweifeln.

»Und womit habe ich das verdient? Womit habe ich das verdient?« dachte er.

An diesem Tische saßen im ganzen etwa dreißig Gäste, von denen einige bereits so viel getrunken hatten, daß sie vollständig fertig waren. Die andern benahmen sich in der rücksichtslosesten, ungeniertesten Weise, schrien, redeten alle laut durcheinander, brachten voreilig Toaste aus, und Herren und Damen bombardierten sich wechselseitig mit Brotkügelchen. Einer der Gäste, ein unansehnlicher Mensch in einem Oberrock mit vielen Fettflecken, war gleich, als er sich an den Tisch setzte, vom Stuhle gefallen und blieb so bis zum Schlusse des Essens liegen. Ein anderer wollte durchaus auf den Tisch steigen und einen Toast ausbringen; indes gelang es noch dem Offizier, der ihn bei den Rockschößen zu fassen bekam, seiner übertriebenen Begeisterung Zügel anzulegen. Das Abendessen war durchaus bürgerlich, obwohl dazu ein Koch angenommen war, ein Leibeigener irgendeines hohen Herrn; es gab Sülze, Zunge mit Kartoffeln, Koteletts mit grünen Erbsen, Gänsebraten und zum Schluß Blancmanger. An Getränken waren Bier, Branntwein und Sherry vorhanden. Eine Flasche Champagner stand nur vor dem Präsidenten, und er sah sich daher genötigt, auch Akim Petrowitsch daraus einzuschenken, der hier beim Abendessen nichts mehr aus eigener Initiative zu unternehmen wagte. Bei den Toasten wurde den übrigen Gästen kaukasischer Wein gereicht, oder sie tranken dabei, was sie gerade im Glase hatten. Die Tafel war aus vielen Tischen gebildet, die zusammengestellt waren; darunter befand sich auch ein Lombertisch L'Hombre, auch Lomber (von hombre, span. Mann, gemeint ist der Spieler), ist ein früher weit verbreitetes Kartenspiel für drei Personen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden speziell für dieses Spiel kunstvoll gestaltete dreiseitige Lombertische hergestellt. – Anm.d.Hrsg.. Gedeckt war sie mit vielen Tischtüchern; eines derselben war ein buntfarbiges Jaroslawler In Jaroslaw befand sich die seinerzeit älteste Manufaktur der Stadt, die Textilien produzierte; das hieraus hervorgegangene Kombinat Krasny Perekop spielt auch heute noch eine wichtige Rolle. – Anm.d.Hrsg.. Die Gäste saßen in bunter Reihe, Herren und Damen abwechselnd. Pseldonimows Mutter hatte nicht am Tische sitzen wollen; sie war eifrig mit allerlei Anordnungen beschäftigt. Dafür war eine andere weibliche Gestalt aufgetaucht, die vorher nicht sichtbar gewesen war, mit einem bösartigen Gesichtsausdruck, in einem seidenen Kleide von rötlicher Farbe, mit einem Zahnschmerzentuch ums Gesicht und mit einer sehr hohen Haube. Es stellte sich heraus, daß dies die Brautmutter war, die sich endlich hatte bewegen lassen, ans einem Hinterzimmer zum Abendessen nach vorn zu kommen. Der Grund, weshalb sie sich bisher abseits gehalten hatte, war ihre unversöhnliche Feindschaft gegen Pseldonimows Mutter; aber davon werden wir später noch zu sprechen haben. Den Präsidenten blickte diese Dame grimmig und sogar etwas spöttisch an, und sie hatte offenbar kein Verlangen, sich ihm vorstellen zu lassen. Auf Iwan Iljitsch machte diese Person einen äußerst verdächtigen Eindruck. Aber außer ihr waren ihm auch noch einige andere Tischgenossen verdächtig und erweckten ihm unwillkürlich Besorgnis und Unruhe. Sie schienen sogar eine Art von Verschwörung unter sich zu haben, die sich speziell gegen Iwan Iljitsch richtete. Wenigstens hatte er selbst diesen Eindruck, und seine Überzeugung befestigte sich im Laufe des ganzen Abendessens immer mehr und mehr. Eine boshafte Physiognomie hatte zum Beispiel ein Herr mit einem kleinen Bärtchen, wohl ein Jünger einer der freien Künste; er sah sogar mehrmals nach Iwan Iljitsch hin, wandte sich dann zu seinem Nachbar und flüsterte ihm etwas zu. Ein andrer, noch Gymnasiast, war allerdings schon stark betrunken; aber nach einigen Anzeichen mußte er doch als verdächtig gelten. Nicht viel Gutes ließ auch der Studiosus Medicinae erwarten. Nicht einmal der Offizier erschien als völlig zuverlässig. Aber ein besonders grimmiger, offensichtlicher Haß sprach aus dem Benehmen des Mitarbeiters des »Feuerbrandes«: wie rekelte er sich auf seinem Stuhle; was machte er für ein stolzes, hochmütiges Gesicht; wie geräuschvoll stieß er im Gefühl seiner Würde als freier Mann die Luft aus Mund und Nase! Freilich beachteten die übrigen Gäste den Mitarbeiter gar nicht, der im »Feuerbrand« überhaupt erst vier Verschen geschrieben hatte und sich infolgedessen als Fortschrittsmann aufspielte, ja sie konnten ihn augenscheinlich nicht leiden; aber als auf einmal dicht neben Iwan Iljitsch ein Brotkügelchen hinfiel, das offenbar für ihn bestimmt gewesen war, da hätte er seinen Kopf verwettet, daß der Schleuderer dieses Kügelchens kein anderer war als der Mitarbeiter des »Feuerbrandes«.

Alles dies beunruhigte ihn natürlich, und zwar in bedauerlichem Maße.

Besonders unangenehm war auch noch eine andere Beobachtung: Iwan Iljitsch überzeugte sich zweifellos, daß er anfing, die Worte nur undeutlich und mühsam auszusprechen, daß er sehr vieles sagen wollte, die Zunge aber nicht gehorchte. Ferner, daß er auf einmal vergeßlich wurde und vor allem mir nichts dir nichts plötzlich losprustete und lachte, wo zum Lachen nicht der geringste Grund vorlag. Diese Stimmung ging aber schnell vorüber nach einem Glase Champagner, das Iwan Iljitsch sich zwar eingegossen hatte, aber nicht hatte trinken wollen und auf einmal ganz unwillkürlich doch ausgetrunken hatte. Nach diesem Glase bekam er plötzlich beinahe Lust zu weinen. Er fühlte, daß er in eine ganz abnorme Sentimentalität hineingeriet; er begann wieder zu lieben, liebte alle, sogar Pseldonimow, sogar den Mitarbeiter des »Feuerbrandes«. Er hätte sie am liebsten alle umarmt, wollte alles vergessen und sich mit allen versöhnen. Und nicht genug damit: er wollte ihnen auch alles offenherzig erzählen, alles, alles, d. h. was für ein guter, prächtiger Mensch er sei, und was für herrliche Fähigkeiten er besitze; wie nützlich er dem Vaterlande sein werde; wie gut er es verstehe, die Damen zum Lachen zu bringen, und namentlich wie fortschrittlich er gesinnt sei; in wie humaner Art er bereit sei, sich zu allen herabzulassen, selbst zu den Niedrigsten; und endlich zum Schluß wollte er ihnen offenherzig alle Motive darlegen, die ihn bewogen hätten, uneingeladen zu Pseldonimow zu kommen, bei ihm zwei Flaschen Champagner zu trinken und ihn durch seine Gegenwart zu beglücken.

»Vor allem Wahrheit, die heilige Wahrheit! Wahrheit und Aufrichtigkeit! Durch Aufrichtigkeit werde ich ihre Herzen gewinnen. Sie werden mir glauben, das sehe ich klar; jetzt sehen sie mich freilich feindselig an; aber wenn ich ihnen alles offen darlege, werde ich mit unwiderstehlicher Gewalt ihre Zuneigung erobern. Sie werden ihre Gläser füllen und mit frohem Lärm auf meine Gesundheit trinken. Der Offizier (davon bin ich überzeugt) wird sein Glas an seinem Sporn zerschlagen. Vielleicht bringt er auch ein Hurra auf mich aus. Selbst wenn sie auf den Einfall kämen, mich nach Husarenart auf den Armen zu schaukeln und in die Luft zu werfen, so würde ich auch dagegen nichts einwenden; im Gegenteil, es wäre sogar recht hübsch. Die Neuvermählte werde ich auf die Stirn küssen; sie ist ein liebenswürdiges Frauchen. Akim Petrowitsch ist ebenfalls ein guter Mensch. Pseldonimow wird sich gewiß in der Folgezeit bessern. Es fehlt ihm nur sozusagen der weltmännische Schliff … Allerdings, diese ganze neue Generation besitzt nicht das richtige Zartgefühl des Herzens; aber … aber ich will dennoch zu ihnen von der derzeitigen Bedeutung Rußlands unter den europäischen Mächten reden. Auch die Frage der Stellung des Bauernstandes will ich erwähnen, ja, und … und alle werden sie mich lieben, und ich werde mit Ruhm bedeckt von dieser Stätte scheiden! …«

Diese Pläne und Hoffnungen waren zwar sehr angenehm; aber unangenehm war, daß mitten in all diesen rosigen Hoffnungen Iwan Iljitsch an sich noch eine überraschende Fähigkeit entdeckte, nämlich die Fähigkeit – zu spucken. Wenigstens begann der Speichel plötzlich ganz gegen seinen Willen ihm aus dem Munde zu fliegen. Er bemerkte das an Akim Petrowitsch, dem er die Backe bespritzt hatte, und der still dasaß und aus Respekt nicht wagte, sich sogleich abzuwischen. Iwan Iljitsch nahm die Serviette und wischte ihn ohne Besinnen selbst ab. Aber dies erschien ihm selbst unmittelbar darauf so unpassend und ungeschickt, daß er aufhörte zu reden und sich über sich selbst wunderte. Akim Petrowitsch trank zwar ab und zu aus seinem Glase, saß aber im übrigen da wie ein Stock. Iwan Iljitsch wurde jetzt dessen inne, daß er schon fast eine Viertelstunde lang mit Akim Petrowitsch über ein sehr interessantes Thema gesprochen hatte, daß dieser aber beim Zuhören nicht nur eine gewisse Verlegenheit zeigte, sondern sogar irgend etwas zu fürchten schien. Pseldonimow, der einen Stuhl weiter saß, streckte ebenfalls seinen Hals nach ihm hin, neigte den Kopf zur Seite und hörte mit einem sehr unangenehmen Gesichtsausdruck zu. Es machte geradezu den Eindruck, als ob er wie ein Wächter auf ihn aufpaßte. Als Iwan Iljitsch seine Augen über die Gäste hinschweifen ließ, sah er, daß viele gerade nach ihm hinsahen und lachten. Aber das Sonderbarste war, daß er darüber gar nicht in Verlegenheit geriet; im Gegenteil, nachdem er noch einmal einen Schluck aus seinem Glase genommen hatte, begann er plötzlich so laut, daß es alle hören mußten, zu reden:

»Ich sagte schon,« fing er an, »ich sagte schon soeben zu Akim Petrowitsch, meine Herren, daß Rußland … ja, gerade Rußland … mit einem Worte, Sie verstehen, was ich sa–sagen will … Rußland durchlebt jetzt nach meiner tiefsten Überzeugung ein Zeitalter der Hu–Humanität …«

»Hu–Humanität!« wurde vom andern Ende des Tisches her gerufen.

»Hu–hu!«

»Tju–tju!«

Iwan Iljitsch hielt einen Augenblick inne. Pseldonimow stand vom Stuhle auf und sah sich um, wer da gerufen habe. Akim Petrowitsch wiegte verstohlen den Kopf hin und her, wie wenn er die Gäste ermahnen wollte. Iwan Iljitsch bemerkte beides sehr wohl, tat aber mit innerer Pein, als nähme er nichts davon wahr.

»Die Humanität,« fuhr er hartnäckig fort, »und vorhin …und gerade vorhin sagte ich zu Stepan Niki–ki–forowitsch … ja … daß die Neugestaltung der Dinge sozusagen …«

»Exzellenz!« rief jemand laut am andern Ende des Tisches.

»Was wünschen Sie?« antwortete Iwan Iljitsch auf diese Unterbrechung und versuchte zu erkennen, von wem der Zwischenruf ausgegangen war.

»Gar nichts weiter, Exzellenz! Ich konnte mich nur vor Begeisterung nicht halten! Fahren Sie nur wieder fort!« rief dieselbe Stimme.

Iwan Iljitsch zuckte krampfhaft zusammen.

»Sozusagen die Neugestaltung eben dieser Dinge …«

»Exzellenz!« erscholl die Stimme von neuem.

»Was ist Ihnen gefällig?«

»Guten Abend!«

Diesmal vermochte sich Iwan Iljitsch nicht mehr zu halten. Er unterbrach seine Rede und wandte sich zu dem Störenfried und Beleidiger hin. Dies war ein noch sehr junger Gymnasiast, der stark angetrunken war, und von dem man sich des schlimmsten versehen konnte. Er hatte schon immer geschrien und sogar ein Glas und zwei Teller zerbrochen, wobei er behauptet hatte, auf einer Hochzeit müsse es so zugehen. In dem gleichen Augenblicke, als Iwan Iljitsch sich zu jenem wandte, begann der Offizier den Schreier streng auszuschelten.

»Was willst du? Warum schreist du? Hinauswerfen müßte man dich, jawohl!«

»Ich habe nichts von Ihnen gesagt, Exzellenz, nichts von Ihnen gesagt! Fahren Sie nur fort!« rief der angeheiterte Schüler, indem er sich auf seinem Stuhle herumrekelte. »Fahren Sie nur fort! Ich höre zu und bin sehr zufrieden mit Ihnen, sehr zufrieden! Vor–züglich, vor–züglich!«

»Ein betrunkenes Bürschchen!« flüsterte Pseldonimow dem Präsidenten zu.

»Daß er betrunken ist, sehe ich; aber …«

»Ich habe da soeben eine komische Geschichte erzählt, Exzellenz,« bemerkte der Offizier, »von einem Leutnant unseres Regiments, der immer genau ebenso zu seinen Vorgesetzten redete; und das macht dieser junge Mensch hier nun nach. Zu jedem Worte eines Vorgesetzten sagte der Leutnant immer: ›Vor–züglich, vor–züglich!‹ Schon vor zehn Jahren wurde er deswegen vom Dienste entfernt.«

»Was … was war das für ein Leutnant?«

»Von unserm Regimente, Exzellenz! Er verlor zuletzt den Verstand über seinem ›Vorzüglich!‹ Zuerst versuchte man es bei ihm auf gütlichem Wege; dann schickte man ihn in Arrest … Der Chef ermahnte ihn in väterlicher Weise; aber der erwiderte ihm immer: ›Vor–züglich, vor–züglich!‹ Und sonderbar: er war ein mannhafter Offizier, neun Zoll über das Maß. Er sollte vor Gericht kommen; aber man merkte, daß er geisteskrank war.«

»Nun ja … es ist nur ein Schüler. Gegen die Schuljugend braucht man nicht so streng zu sein. Ich meinerseits bin bereit, ihm zu verzeihen …«

»Es wurde durch die medizinische Wissenschaft festgestellt, Exzellenz!«

»Wie denn? Wurde er se–ziert?«

»Aber ich bitte Sie, er war ja noch vollständig lebendig!«

Eine laute und fast allgemeine Lachsalve erscholl im Kreise der Gäste, auch von seiten derjenigen, die sich bisher anständig verhalten hatten. Iwan Iljitsch wurde zornig.

»Meine Herren, meine Herren!« rief er, und zwar am Anfang fast ohne zu stottern. »Ich bin sehr wohl imstande einzusehen, daß man einen lebenden Menschen nicht seziert. Ich setzte voraus, daß er im Irrsinn nicht mehr lebte … d. h. gestorben war … d. h. ich will sagen … daß Sie mich nicht lieben … Und dabei liebe ich Sie alle … ja, ich liebe Por … Porfiri … Ich erniedrige mich, indem ich so rede …«

In diesem Augenblicke flog ihm eine große Menge Speichel aus dem Munde und spritzte an einer sehr sichtbaren Stelle auf das Tischtuch. Pseldonimow beeilte sich, es mit seiner Serviette wegzuwischen. Dieses letzte Unglück schmetterte den Präsidenten vollends darnieder.

»Meine Herren, das ist zuviel!« rief er in heller Verzweiflung.

»Es war ja nur ein Betrunkener, Exzellenz«, versuchte Pseldonimow aufs neue leise zu ihm zu sagen.

»Porfiri! Ich sehe, daß ihr … alle … ja! Ich will sagen, ich hoffe … ja, ich fordere alle auf, zu sagen: wodurch habe ich mich erniedrigt?«

Iwan Iljitsch war dem Weinen nahe.

»Exzellenz! Aber ich bitte Sie! …«

»Porfiri, ich wende mich an dich … Sage, wenn ich hierher gekommen bin … ja … ja, zu deiner Hochzeit, so muß ich doch dabei eine Absicht gehabt haben. Ich wollte euch in geistigem Sinne herausheben … ich wollte, daß ihr empfändet … Ich wende mich an alle: habe ich mich in Ihren Augen sehr erniedrigt oder nicht?«

Grabesstille. Aber das war eben das Üble, daß Grabesstille eingetreten war, noch dazu nach einer so bestimmten Frage. »Wenn sie doch, wenn sie doch nur gleich losschrien!« dachte Seine Exzellenz. Aber die Gäste wechselten nur Blicke miteinander. Akim Petrowitsch saß mehr tot als lebendig da, und Pseldonimow, der vor Angst kein Wort herausbringen konnte, wiederholte innerlich immer dieselbe Frage, die ihn schon lange quälte:

»Wie werde ich das alles morgen zu büßen haben?«

Plötzlich wandte der Mitarbeiter des »Feuerbrandes«, der schon stark betrunken war, aber bisher in ingrimmigem Schweigen dagesessen hatte, sich geradezu an Iwan Iljitsch und antwortete ihm mit funkelnden Augen gleichsam im Namen der ganzen Gesellschaft.

»Ja,« schrie er mit lauter Stimme, »ja, Sie haben sich erniedrigt, ja, Sie sind ein Reaktionär … ein Re–ak–ti–o–när!«

»Junger Mann, überlegen Sie, was Sie da sagen! Mit wem reden Sie so, sozusagen!« schrie Iwan Iljitsch wütend und sprang wieder von seinem Platze auf.

»Mit Ihnen rede ich so. Und zweitens: ich bin für Sie nicht ein ›junger Mann‹ … Sie sind hergekommen, um wichtig zu tun und nach Popularität zu haschen.«

»Pseldonimow, was ist das!« rief Iwan Iljitsch.

Pseldonimow war aufgesprungen; aber sein Schreck war so groß, daß er nun wie ein Pfahl dastand und absolut nicht wußte, was er unternehmen sollte. Auch die Gäste waren in ähnlicher Verfassung: sie saßen stumm auf ihren Plätzen. Der Künstler und der Gymnasiast klatschten Beifall und riefen: »Bravo, bravo!«

Der Mitarbeiter schrie in unhemmbarer Wut weiter:

»Ja, Sie sind hergekommen, um sich mit Ihrer Humanität zu brüsten! Sie haben hier die allgemeine Heiterkeit gestört. Sie haben Champagner getrunken, ohne zu bedenken, daß der für einen Beamten mit zehn Rubeln Monatsgehalt einen zu hohen Preis hat, und ich vermute, daß Sie zu der Art von hohen Vorgesetzten gehören, die nach den jungen Frauen ihrer Untergebenen lüstern sind! Noch mehr, ich bin überzeugt, daß Sie das Institut der Branntweinpacht verteidigen … Ja, ja, ja!«

»Pseldonimow, Pseldonimow!« rief Iwan Iljitsch und streckte beide Hände nach diesem aus. Jedes neue Wort des Mitarbeiters war ein neuer Dolchstoß, der ihm ins Herz fuhr.

»Sofort, Exzellenz, bitte, beunruhigen Sie sich nicht!« rief Pseldonimow in energischem Tone, sprang auf den Mitarbeiter los, packte ihn am Rockkragen und zog ihn hinter dem Tische hervor. Man hätte von dem schwächlichen Pseldonimow so viel Körperkraft gar nicht erwarten sollen; aber der Mitarbeiter war stark betrunken und Pseldonimow völlig nüchtern. Darauf versetzte er ihm ein paar Knüffe in den Rücken und stieß ihn zur Tür hinaus.

»Ihr seid alle Schurken!« schrie der Mitarbeiter, »ich werde euch alle morgen im ›Feuerbrand‹ an den Pranger stellen! …«

Alle sprangen von ihren Plätzen auf.

»Exzellenz, Exzellenz!« riefen Pseldonimow, seine Mutter und einige Gäste, indem sie sich um den Präsidenten herumdrängten, »Exzellenz, beruhigen Sie sich!«

»Nein, nein!« schrie der Präsident. »Ich bin zugrunde gerichtet … ich bin hergekommen … ich wollte sozusagen euch meinen Segenswunsch aussprechen. Und das ist nun der Dank, das ist der Dank!«

Er sank wie bewußtlos auf den Stuhl zurück, legte beide Arme auf den Tisch und drückte seinen Kopf auf die Arme, gerade in den Teller mit Blancmanger hinein. Die allgemeine Aufregung war unbeschreiblich. Einen Augenblick darauf stand er auf, offenbar mit der Absicht wegzugehen; er schwankte, stolperte über ein Stuhlbein, fiel lang auf den Boden und röchelte …

Leuten, die nicht gewohnt sind zu trinken und sich nun doch einmal bei einer Gelegenheit betrinken, geht es nicht selten so. Bis zum letzten Schluck, bis zum letzten Augenblick behalten sie das Bewußtsein, und dann fallen sie auf einmal hin wie niedergemäht. Iwan Iljitsch lag auf dem Fußboden und hatte alles Bewußtsein verloren. Pseldonimow griff sich in die Haare und verharrte regungslos in dieser Stellung. Die Gäste begannen eilig aufzubrechen und besprachen, ein jeder in seiner Weise, eifrig den aufregenden Vorfall. Es war schon gegen drei Uhr morgens.


Die Hauptsache war die: Pseldonimow war sehr viel schlimmer daran, als man es sich nach dem bisher Gesagten vorstellen kann, ganz abgesehen von der Unerquicklichkeit der augenblicklichen Situation. Und während Iwan Iliitsch auf dem Fußboden liegt und Pseldonimow neben ihm steht und sich verzweifelt an den Haaren reißt, wollen wir den Gang unserer Erzählung unterbrechen und einige erklärende Worte speziell über Porfiri Petrowitsch Pseldonimow sagen.

Noch vor einem Monate war es in finanzieller Hinsicht mit ihm recht übel bestellt. Er stammte aus der Provinz, wo sein Vater irgendein Amt bekleidet hatte, aber in Anklagezustand versetzt und während der gerichtlichen Untersuchung gestorben war. Nachdem Pseldonimow in Petersburg ein ganzes Jahr lang aufs kümmerlichste gelebt hatte, erhielt er endlich (es war fünf Monate vor seiner Hochzeit) seine Stelle mit zehn Rubeln Gehalt und lebte dadurch zunächst an Leib und Seele wieder ein wenig auf; aber bald drückte die Macht der Verhältnisse ihn von neuem nieder. Er und seine Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes die Provinz verlassen hatte und nach Petersburg zu ihrem Sohne gezogen war, standen in der ganzen Welt allein und einsam da. Mutter und Sohn froren im Winter miteinander und fristeten ihr Leben mit Nahrungsmitteln von sehr zweifelhaftem Charakter. An manchem Tage ging Pseldonimow mit dem Kruge selbst nach der Fontanka Ein Newa-Arm. – Anm. des Übers., um Wasser zu holen und sich dort gleich sattzutrinken. Als er seine Stelle bekommen hatte, richtete er sich mit seiner Mutter irgendwo in einer jämmerlichen, kleinen Wohnung notdürftig ein. Sie wusch für andere Leute, und er lebte vier Monate lang auf das kärglichste, um sich ein Paar Stiefel und einen billigen Mantel anschaffen zu können. Und wieviel Kränkungen hatte er in seiner Kanzlei zu ertragen! Da trat ein Vorgesetzter zu ihm heran mit der Frage, wie lange es wohl her sei, daß er zuletzt ein Bad genommen habe. Es ging über ihn das Gerede, daß unter seinem Uniformkragen die Wanzen in ganzen Nestern hausten. Aber Pseldonimow hatte einen festen, zähen Charakter. Von Ansehen war er still und friedlich; Bildung besaß er nur sehr wenig; an Gesprächen beteiligte er sich fast nie. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er Gedanken hatte, Pläne und Systeme entwarf, von großen Dingen träumte. Wohl kaum; aber statt dessen bildete sich bei ihm der instinktive, kräftige, unbewußte Wille heraus, sich aus seiner mißlichen Lage auf einen besseren Lebensweg durchzukämpfen. Er besaß die Hartnäckigkeit der Ameise: zerstört man den Ameisen ihren Bau, so beginnen sie sofort, ihn von neuem auszuführen; zerstört man ihn zum zweiten Male, so fangen sie zum zweiten Male an, und so weiter, ohne müde zu werden. So war auch er ein Wesen mit einem starken Triebe zum Hausbauen und zum häuslichen Leben. Man konnte es ihm an der Stirn ansehen, daß er sich seinen Weg bahnen, sich ein eigenes Heim schaffen und vielleicht sogar etwas zurücklegen werde. Auf der ganzen Welt hatte er niemand, der ihn liebte, als seine Mutter; diese aber liebte ihn grenzenlos. Sie war eine energische, arbeitsame, unermüdliche Frau, und zugleich eine gute Frau. So hätten sie in ihrer elenden Wohnung vielleicht noch fünf oder sechs Jahre bis zu einer Besserung ihrer Verhältnisse gelebt, wenn sie nicht mit dem Titularrat a. D. Mlekopitajew zusammengetroffen wären, einem ehemaligen Kassenbeamten, der früher irgendwo in der Provinz angestellt gewesen war, neuerdings aber sich mit seiner Familie in Petersburg niedergelassen und häuslich eingerichtet hatte. Er kannte Pseldonimow und war dem Vater desselben von früherer Zeit her aus irgendwelchem Anlaß zu Dank verpflichtet gewesen. Er besaß Geld, allerdings nicht viel, aber doch etwas; wieviel es in Wirklichkeit war, das wußte niemand, weder seine Frau, noch seine ältere Tochter, noch seine übrigen Verwandten. Er hatte zwei Töchter, und da er ein sehr launenhafter Mensch, ein Trunkenbold, ein Haustyrann und obendrein dauernd krank war, so bekam er auf einmal den Einfall, seine eine Tochter dem jungen Pseldonimow zur Frau zu geben: »Ich kenne ihn,« sagte er; »sein Vater war ein guter Mensch, und der Sohn wird auch ein guter Mensch sein.« Was Mlekopitajew wollte, das pflegte er auch auszuführen: wie gesagt, so getan. Er war ein sehr sonderbarer Kauz. Den größten Teil des Tages verbrachte er auf seinem Lehnstuhl sitzend, da er infolge einer Krankheit des Gebrauches der Beine beraubt war, was ihn aber nicht hinderte, Branntwein zu trinken. Ganze Tage lang trank er und schimpfte er. Er hatte einen schlechten Charakter; er brauchte unbedingt jemanden, den er unaufhörlich quälen konnte. Zu diesem Zwecke ließ er einige weibliche Verwandte bei sich im Hause wohnen: nämlich seine kränkliche, zanksüchtige Schwester, zwei Schwestern seiner Frau, die gleichfalls eine häßliche Gemütsart und böse Zungen hatten; ferner seine alte Tante, die sich bei irgendeiner Gelegenheit einmal eine Rippe gebrochen hatte. Auch gab er einer Deutschen, die aber ganz zur Russin geworden war, das Gnadenbrot, und zwar für ihr Talent, ihm Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erzählen. Sein ganzes Vergnügen bestand darin, über alle diese unglücklichen Frauenspersonen, die sein Brot aßen, zu spotten und sie jeden Augenblick wie ein Fuhrknecht auszuschimpfen, obgleich diese, einschließlich seiner Frau, die mit Zahnschmerzen auf die Welt gekommen war, ihm gegenüber nicht zu mucksen wagten. Er stiftete Streit unter ihnen an, brachte Klatschereien und Zänkereien zwischen ihnen in Gang und hatte dann seine Freude und lachte aus vollem Halse, wenn er sah, wie sie sich alle beinah miteinander prügelten. Er freute sich sehr, als seine ältere Tochter, nachdem sie zehn Jahre lang mit einem Offizier verheiratet gewesen war und in sehr kümmerlichen Verhältnissen gelebt hatte, endlich Witwe wurde und mit ihren drei kleinen, kränklichen Kindern zu ihm zog. Die Kinder konnte er nicht leiden; aber da durch ihr Hinzukommen sich das Material für seine täglichen Experimente vergrößerte, so war der Alte ganz zufrieden. Diese ganze Schar böser Weiber und kranker Kinder nebst ihrem Peiniger wohnte eng zusammengedrängt in dem Holzhause auf der Petersburger Seite, konnte sich nicht satt essen, weil der Alte geizig war und das Geld nur kopekenweise herausrückte, obgleich er es für seinen Branntwein ohne Bedauern ausgab, und konnte sich nicht einmal ordentlich ausschlafen, weil der Alte an Schlaflosigkeit litt und verlangte, sie sollten ihn unterhalten. Kurz, alle seine Hausgenossen führten ein trauriges Dasein und verwünschten ihr Schicksal. In dieser Zeit bekam Mlekopitajew unsern Pseldonimow zu sehen. Dessen lange Nase und friedfertige Miene gefielen ihm. Seine schwächliche, unschöne jüngere Tochter war damals eben siebzehn Jahre alt geworden. Sie hatte zwar früher einmal eine deutsche Schule besucht, aber aus ihr kaum mehr Kenntnisse davongetragen als die Kenntnis des Abc. Dann war sie, ein skrofulöses, schlecht ernährtes Wesen, herangewachsen unter dem Krückstock des gelähmten, trunksüchtigen Vaters, in dem Sodom häuslicher Klatscherei, Spionage und Verleumdung. Freundinnen hatte sie niemals besessen und Verstand ebensowenig. Heiratslustig war sie schon lange. Wenn sie mit andern Leuten zusammen war, redete sie kaum ein Wort; aber ihrer Mutter und den Hausgenossinnen gegenüber war sie boshaft und zänkisch. Besonders liebte sie es, die Kinder ihrer Schwester zu kneifen und mit Kopfnüssen zu regalieren und sie wegen heimlich entwendeten Zuckers und Brotes zu denunzieren, weswegen dann zwischen ihr und der älteren Schwester Streit und Zank nie abrissen. Der Alte machte von selbst Pseldonimow den Vorschlag, er möchte sie heiraten. So kümmerlich es diesem auch ging, erbat er sich doch erst einige Bedenkzeit. Lange überlegte er die Sache mit seiner Mutter. Aber das Haus sollte auf den Namen der Braut umgeschrieben werden, und wenn es auch nur ein Holzhaus und einstöckig und ziemlich häßlich war, so repräsentierte es doch einen gewissen Wert. Überdies sollte die Braut eine Mitgift von vierhundert Rubeln erhalten; wann konnte Pseldonimow hoffen, eine solche Summe durch eigene Arbeit zusammenzubekommen? »Wozu nehme ich mir noch einen Menschen ins Haus?« hatte der trunksüchtige Sonderling geschrien. »Erstens deswegen, weil ihr alle Weibervolk seid, und immer bloß Weibervolk um mich zu haben ist mir langweilig geworden. Ich will, daß auch Pseldonimow nach meiner Pfeife tanzt; darum werde ich sein Wohltäter. Zweitens nehme ich ihn deswegen her, weil ihr alle es nicht wollt und euch darüber ärgert. Na, da tue ich es denn gerade euch zum Tort. Was ich gesagt habe, das tue ich auch! Du aber, lieber Porfiri, haue meine Tochter ordentlich, wenn sie deine Frau sein wird; in der stecken von ihrer Geburt an sieben Teufel. Treib sie ihr nur alle aus; einen tüchtigen Stock dazu will ich dir zurechtmachen.«

Pseldonimow hatte geschwiegen; aber sein Entschluß war bereits gefaßt gewesen. Er und seine Mutter waren noch vor der Hochzeit ins Haus genommen worden und hatten Geld zum Baden, zu Anzügen, zu Schuhzeug und zur Ausrichtung der Hochzeit erhalten. Der Alte hatte sie patronisiert, vielleicht gerade deshalb, weil die ganze Familie ihnen feindlich gesinnt war. Die alte Frau Pseldonimowa hatte ihm sogar ganz gut gefallen, so daß er sich beherrscht und über sie nicht gespottet hatte. Pseldonimow selbst aber hatte er noch eine Woche vor der Hochzeit gezwungen, ihm einen Kosakentanz vorzutanzen; »na, nun kannst du aufhören,« hatte er dann gesagt; »ich wollte nur sehen, ob du mir auch parierst.« Geld hatte er zur Hochzeit nur so viel gegeben, daß es ganz knapp ausreichte, und er hatte alle seine Verwandten und Bekannten dazu eingeladen. Von Pseldonimows Seite waren nur der Mitarbeiter des »Feuerbrandes« und Akim Petrowitsch dabei, letzterer als Ehrengast. Pseldonimow hatte sehr gut gewußt, daß seine Braut ihn nicht leiden konnte und statt seiner lieber den Offizier geheiratet hätte. Aber er hatte alles ertragen; daß er das tun wollte, hatte er sich infolge der Beratungen mit seiner Mutter vorgenommen gehabt. Am Hochzeitstage hatte der Alte während des ganzen Tages und während des ganzen Abends mit den unflätigsten Ausdrücken geschimpft und Branntwein getrunken. Die ganze Familie mußte anläßlich der Hochzeit in den Hinterzimmern hausen, dermaßen eng zusammengepfercht, daß die Luft greulich roch. Die Vorderzimmer waren für den Ball und das Abendessen bestimmt. Gegen elf Uhr abends war der Alte endlich, vollkommen betrunken, eingeschlafen, und die Brautmutter, die an diesem Tage auf Pseldonimows Mutter besonders wütend gewesen war, hatte sich entschlossen, ihren Zorn mit Freundlichkeit zu vertauschen und zum Balle und zum Abendessen zu kommen. Aber das Erscheinen Iwan Iljitschs hatte alles wieder verdorben. Frau Mlekopitajewa war ganz verblüfft gewesen, hatte sich beleidigt gefühlt und angefangen zu schimpfen, weil man ihr nicht vorher mitgeteilt habe, daß auch an den Präsidenten eine Einladung ergangen sei. Man hatte ihr beteuert, er sei ganz von selbst, uneingeladen, gekommen; aber sie war so dumm, daß sie das nicht hatte glauben wollen. Dann war Champagner erforderlich geworden. Pseldonimows Mutter hatte nur einen Rubel in ihrem Besitze gehabt, Pseldonimow selbst nicht eine Kopeke. Sie hatten sich demütig an die böse, alte Frau Mlekopitajewa wenden und sie um Geld erst für eine, dann für eine zweite Flasche bitten müssen. Sie hatten ihr vorgestellt, wie günstig sich in Zukunft die dienstlichen Beziehungen Pseldonimows zu seinem hohen Chef gestalten würden, was er für Karriere machen werde, und sie angefleht und beschworen. Sie hatte endlich von ihrem eigenen Gelde hergegeben, hatte aber Pseldonimow so viel Bitterkeiten schlucken lassen, daß er mehrmals in das Zimmerchen gelaufen war, wo das Brautbett bereitstand, sich schweigend in die Haare gegriffen und sich, am ganzen Leibe zitternd vor ohnmächtiger Wut, mit dem Kopfe auf das Bett geworfen hatte, das dazu bestimmt war, ihm die Freuden des Paradieses zu gewähren. Ja! Iwan Iljitsch hatte nicht gewußt, wie teuer die beiden Flaschen Jackson gewesen waren, die er an diesem Abende getrunken hatte! Wie groß war nun Pseldonimows Schrecken, Angst, ja Verzweiflung gewesen, als die Sache mit Iwan Iljitsch in so ganz unerwarteter Weise ihren Abschluß fand! Er hatte denken müssen, was er nun davon für neue Not und Mühe haben werde, wie seine unfreundliche junge Frau ihm vielleicht die ganze Nacht etwas vorjammern und vorweinen werde, welche Vorwürfe ihm ihre unvernünftigen Verwandten machen würden. Und er hatte sowieso schon Kopfschmerzen, und es war ihm ganz trüb und neblig vor den Augen. Jetzt nun bedurfte Iwan Iljitsch der Hilfe. Man mußte um drei Uhr nachts einen Arzt oder eine Equipage suchen, um ihn nach seiner Wohnung zu bringen; und eine Equipage mußte es jedenfalls sein; denn in einer Droschke eine so hohe Persönlichkeit in solcher Verfassung nach Hause zu befördern, das war doch unmöglich. Aber wo sollte er das Geld hernehmen, auch nur für den Wagen? Frau Mlekopitajewa, die wütend darüber war, daß der Präsident während des Abendessens nicht mit ihr gesprochen und sie nicht einmal angesehen hatte, erklärte, sie habe auch nicht eine Kopeke mehr. Vielleicht entsprach das sogar der Wahrheit. Wo sollte er nun Geld hernehmen? Was sollte er anfangen? Ja, es war wirklich zum Haarausraufen!


Unterdes hatte man Iwan Iljitsch vorläufig auf das kleine Ledersofa gelegt, das im Eßzimmer selbst stand. Während die Tafel abgeräumt und wieder in ihre Bestandteile zerlegt wurde, lief Pseldonimow in allen Zimmern und Kammern umher, um Geld zu leihen, und versuchte sogar, die Dienstboten anzuborgen; aber niemand hatte etwas. Er wagte es selbst, sich an Akim Petrowitsch zu wenden, der länger als die andern Gäste dageblieben war. Aber ein so guter Mensch dieser auch sonst war, so geriet er doch, als er von Geld hörte, in solche Verlegenheit, ja Bestürzung, daß er ganz sinnloses Zeug zu reden anfing:

»Ein andermal werde ich mit Vergnügen …« murmelte er, »aber jetzt … ich bitte wirklich, mich zu entschuldigen …«

Und damit griff er nach seiner Mütze und machte schleunigst, daß er aus dem Hause kam. Nur ein gutherziger junger Mensch, derselbe, der von dem Traumbuch erzählt hatte, war ihnen noch einigermaßen behilflich, wiewohl auch er im Geldpunkte nichts tun konnte. Er war ebenfalls länger geblieben als die anderen, da er für Pseldonimows Nöte eine herzliche Teilnahme hatte. Schließlich kamen Pseldonimow, seine Mutter und der junge Mann in gemeinsamer Beratung zu dem Entschluß, nicht nach einem Arzte zu schicken, sondern lieber einen Wagen kommen zu lassen und den Kranken nach Hause zu befördern, zunächst aber bis zur Ankunft des Wagens es bei ihm mit gewissen Hausmitteln zu versuchen, als da sind: Befeuchten der Schläfen und des Kopfes mit kaltem Wasser, Auflegen von Eis auf den Scheitel usw. Die Anwendung dieser Mittel nahm Pseldonimows Mutter sofort in Angriff. Der junge Mann lief weg, um einen Wagen zu suchen. Da auf der Petersburger Seite um diese Stunde auch nicht einmal eine Droschke aufzutreiben war, so mußte er weit weg nach einer Kutscherherberge gehen und die Kutscher aufwecken. Nun begann das Handeln um den Preis; die Kutscher sagten, um diese Stunde seien fünf Rubel eine geringe Bezahlung für eine Equipage. Indes einigte sich endlich einer mit dem jungen Manne auf drei Rubel. Aber als (es war inzwischen beinahe vier Uhr geworden) der junge Mann in dem gemieteten Wagen bei Pseldonimows Hause anlangte, waren die dort Zurückgebliebenen schon längst von dem ursprünglich gefaßten Beschluß wieder abgekommen. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß Iwan Iljitsch, der das Bewußtsein immer noch nicht wiedererlangt hatte, dermaßen krank war und dermaßen stöhnte und sich hin und her warf, daß ihn in diesem Zustande in einen Wagen zu tragen und nach Hause zu transportieren als sehr gewagt, ja als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. »Was wird aus alledem noch werden?« fragte sich Pseldonimow, der allen Mut verloren hatte. Was sollten sie tun? Denn nun entstand eine neue Frage: wenn sie schon den Kranken im Hause behalten mußten, in welches Zimmer sollten sie ihn dann bringen und worauf sollte er liegen? Im ganzen Hause waren nur zwei Betten vorhanden; ein gewaltig großes, zweischläfriges, in dem der alte Mlekopitajew und seine Gattin schliefen, und ein anderes, neu gekauftes, von imitiertem Nußbaumholz, gleichfalls zweischläfrig und für die Neuvermählten bestimmt. Alle übrigen Hausbewohner oder, richtiger gesagt, Hausbewohnerinnen schliefen auf dem Fußboden, in Reihen nebeneinander, die meisten auf Federbetten, deren Federn aber zum Teil schon verdorben und übelriechend waren, so daß es nicht anging, den Präsidenten darauf zu betten; und auch die Federbetten waren nur in notdürftig ausreichender Anzahl vorhanden, manche Schläferinnen hatten keines. Ein brauchbares Federbett hätte sich ja nun vielleicht doch noch gefunden; man konnte ein solches schlimmstenfalls einer der Frauen unter dem Leibe wegziehen; aber in welchem Raume und auf was für einem Untergestell sollte man das Bett herrichten? Als der gewiesene Raum dafür erschien ja die gute Stube, da dieses Zimmer von den Familienräumen am weitesten entfernt lag und einen besonderen Ausgang hatte. Aber worauf sollte das Bett hergerichtet werden? Etwa auf Stühlen? Auf Stühlen läßt man bekanntlich nur Gymnasiasten schlafen, wenn sie für die Zeit vom Sonnabend auf den Sonntag nach Hause kommen; aber bei einer Persönlichkeit wie Iwan Iljitsch wäre das höchst respektswidrig gewesen. Was hätte er am andern Tage gesagt, wenn er beim Erwachen sich auf Stühlen gesehen hätte? Von einer Lagerstätte auf Stühlen wollte Pseldonimow schlechterdings nichts hören. Es blieb nur ein Auskunftsmittel übrig: ihn in das Hochzeitsbett zu tragen. Dieses Hochzeitsbett war, wie wir bereits gesagt haben, in einem kleinen Stübchen gleich neben dem Eßzimmer aufgeschlagen. Auf dem Bettgestell lag eine zweischläfrige, neu gekaufte, noch unbenutzte Matratze, ein reines Laken, sowie vier Kopfkissen in rosa Kaliko mit Musselinbezügen, die mit Rüschen besetzt waren. Die Bettdecke war von rosa Atlas, mit gemusterten Figuren durchsteppt. Von einem goldenen, oberhalb des Bettes befindlichen Ringe senkten sich Musselinvorhänge hinab. Kurz, alles war, wie es sein muß, und die Gäste, die fast alle dem Schlafzimmer einen Besuch gemacht hatten, hatten sich über die ganze Einrichtung sehr lobend ausgesprochen. Die junge Frau war, obgleich sie ihren Mann nicht leiden konnte, dennoch im Laufe des Abends mehrmals, besonders wenn es niemand merkte, hierher gelaufen, um alles zu betrachten. Wie groß war nun ihr Unwille und ihr Ärger, als sie hörte, daß auf ihr Brautbett der Kranke gelegt werden sollte, der an einer Art von Cholerine Nicht mehr gebräuchliche Bezeichnung für leichten bzw. atypischen Verlauf der Cholera. – Anm.d.Hrsg. litt! Die Mama der jungen Frau trat auf ihre Seite, schimpfte und drohte sich morgen bei ihrem Manne zu beschweren; aber Pseldonimow zeigte sich energisch und bestand auf seinem Sinne: Iwan Iljitsch wurde auf das Brautbett herübergetragen, und für die Neuvermählten wurde in der guten Stube auf Stühlen ein Lager hergerichtet.

Die junge Frau schluchzte und hätte am liebsten auch gekratzt und gekniffen; aber sie wagte doch nicht sich zu widersetzen: ihr Papa hatte einen Krückstock, den sie nur zu gut kannte, und sie wußte, daß der Papa unfehlbar am nächsten Tage von ihr strenge Rechenschaft fordern werde. Um sie zu trösten, trug man wenigstens die rosa Bettdecke und die Kissen in den Musselinbezügen nach der guten Stube hinüber. In diesem Augenblicke traf der junge Mann mit dem Wagen ein; als er vernahm, daß der Wagen nicht mehr nötig sei, bekam er einen furchtbaren Schreck. Nun sollte er den Wagen selbst bezahlen, und er hatte doch noch niemals ein Zehnkopekenstück sein eigen genannt. Pseldonimow erklärte, daß er vollständig bankerott sei. Sie versuchten, den Kutscher zu vertrösten. Aber der begann Lärm zu machen und sogar an die Fensterläden zu schlagen. Wie die Sache endete, weiß ich nicht sicher. Es scheint, daß der junge Mann in dem Wagen als Gefangener nach den Peski Eine Vorstadt im Osten. – Anmerkung des Übersetzers. fuhr, nach der vierten Roschdestwenskaja-Straße, wo er einen dort bei Bekannten übernachtenden Studenten aufzuwecken hoffte und versuchen wollte, ob der vielleicht Geld habe. Es war schon bald fünf Uhr, als das junge Paar endlich in der guten Stube allein blieb und von außen eingeschlossen wurde. An dem Bette des Leidenden blieb die ganze Nacht über Pseldonimows Mutter. Sie kampierte auf dem Fußboden, auf einem kleinen Teppich, und deckte sich mit einem kurzen Pelze zu; aber zum Schlafen kam sie nicht, da sie genötigt war alle Augenblicke aufzustehen: bei Iwan Iljitsch hatte sich eine schreckliche Magenverstimmung eingestellt. Die wackere, gutherzige Frau entkleidete ihn eigenhändig vollständig, pflegte ihn wie ihren eigenen Sohn und trug die ganze Nacht hindurch ein notwendiges Geschirr aus dem Schlafzimmer über den Korridor und brachte es dann wieder herein.

Und doch hatten die Mißgeschicke dieser Nacht damit noch lange nicht ihr Ende gefunden.


Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, seit das junge Paar allein in der guten Stube eingeschlossen war, als plötzlich von dort ein ohrenzerreißendes Geschrei erscholl, kein Freudengeschrei, sondern eines von recht schlimmer Art. Unmittelbar nach dem Geschrei hörte man Lärm, ein Poltern wie von umfallenden Stühlen, und im nächsten Augenblicke stürzte in das noch dunkle Zimmer plötzlich ein ganzer Haufe schreiender, erschrockener Weiber in allen möglichen Arten mangelhafter Bekleidung hinein. Diese Frauen waren: die Mutter der jungen Frau, die ältere Schwester derselben, die unterdessen ihre kranken Kinder allein gelassen hatte, ihre drei Tanten; selbst die Großtante mit der zerbrochenen Rippe hatte sich herbeigeschleppt. Sogar die Köchin war zur Stelle; sogar die aus Gnaden ins Haus genommene Deutsche, die Märchenerzählerin, der man mit Gewalt für die Neuvermählten ihr eigenes Federbett unter dem Leibe weggezogen hatte, das beste im ganzen Hause und ihr einziges Besitztum, selbst die hatte sich mit den übrigen eingefunden. Alle diese ehrenwerten Frauen mußten wohl mit einer besonderen Sehergabe ausgestattet sein; denn sie hatten sich schon vor einer Viertelstunde aus der Küche über den Korridor auf den Zehen herangeschlichen und horchten, von einer unerklärlichen Neugierde verzehrt, im Vorzimmer. Nun zündete eine von ihnen eilig eine Kerze an, und es bot sich allen ein unerwartetes Schauspiel dar. Die Stühle, die das breite Federbett nur auf der rechten und linken Seite, aber nicht mehr in der Mitte gestützt hatten, waren unter der doppelten Last auseinandergewichen, und das Federbett war zwischen ihnen auf den Fußboden gefallen. Die junge Frau schluchzte vor Ärger; diesmal fühlte sie sich in tiefster Seele beleidigt. Pseldonimow stand ganz niedergeschmettert da, wie ein Verbrecher, der auf frischer Tat ergriffen ist. Er machte nicht einmal einen Versuch, sich zu verteidigen. Von allen Seiten erschollen Gekreisch und Ausrufe des Staunens und Bedauerns. Auch Pseldonimows Mutter kam auf den Lärm herbeigelaufen: aber die Mutter der jungen Frau behielt diesmal entschieden die Oberhand. Sie überschüttete zunächst Pseldonimow mit seltsamen und größtenteils ungerechten Vorwürfen dieses Inhalts: »Ein schöner Ehemann bist du, wenn du dich so benimmst! Solche Schande machst du uns; zu nichts bist du zu gebrauchen!« usw. Schließlich faßte sie ihre Tochter unter den Arm und führte sie von ihrem Manne weg in ihre eigene Stube, wobei sie es persönlich übernahm, dies morgen vor dem gestrengen Vater zu verantworten, wenn dieser Rechenschaft verlangen werde. Hinter ihr her entfernten sich auch die andern Frauen sämtlich, unter lauten Äußerungen der Verwunderung und starkem Kopfschütteln. Bei Pseldonimow blieb nur seine Mutter zurück und suchte ihn zu trösten. Aber er trieb sie schleunigst hinaus.

Er war nicht in der Verfassung, daß er für Tröstungen ein Ohr gehabt hätte. Er schleppte sich zu dem Sofa, setzte sich dort hin, wie er war, barfuß und nur in der notwendigsten Nachtkleidung, und versank in finsteres Brüten. Die Gedanken kreuzten sich und verwirrten sich in seinem Kopfe. Von Zeit zu Zeit blickte er mechanisch im Zimmer umher, wo noch vor kurzem die Tanzenden getobt hatten, und wo noch der Zigarettenrauch in der Luft hing. Auf dem beschmutzten und von vergossenen Getränken feuchten Fußboden lagen immer noch die Zigarettenstümpfchen und Bonbonpapiere umher. Das zusammengestürzte Hochzeitslager und die umgeschlagenen Stühle zeugten von der Vergänglichkeit der schönsten und sichersten irdischen Hoffnungen und Zukunftspläne. So saß er fast eine Stunde lang da. Lauter schwere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, zum Beispiel: was wartete seiner jetzt im Dienste? Er sagte sich mit bitterem Schmerze, daß er seine Dienststelle um jeden Preis werde wechseln müssen; auf der bisherigen zu verbleiben sei infolge all der Ereignisse dieser Nacht ganz unmöglich. Auch Mlekopitajew fiel ihm ein, der ihn vielleicht morgen wieder, um seine Fügsamkeit zu erproben, zwingen werde, den Kosakentanz zu tanzen. Er überlegte auch, daß Mlekopitajew zwar fünfzig Rubel für die Ausrichtung der Hochzeit hergegeben hatte, die bis auf die letzte Kopeke draufgegangen waren, sich aber noch nicht hatte entschließen können, die vierhundert Rubel Mitgift herauszurücken, ja überhaupt hiervon noch kein Wort wieder gesagt hatte. Auch das Haus war noch nicht in aller Form auf den Namen der jungen Frau umgeschrieben. Ferner machte er sich seine Gedanken über seine Frau, die ihn im kritischsten Augenblicke seines Lebens verlassen hatte, und über den langen Offizier, der vor seiner Frau aufs Knie gefallen war. Er hatte das vorhin recht wohl bemerkt und dachte nun an die sieben Teufel, die nach dem Zeugnis ihres eigenen Vaters in ihr saßen, und an den Stock, der zur Austreibung derselben bestimmt war … Gewiß, er war sich bewußt, daß er imstande war, viel zu ertragen; aber das Schicksal hatte ihm nun doch schon allmählich so schlimme Überraschungen gesandt, daß es nicht zu verwundern war, wenn er zu zweifeln begann, ob auch wohl seine Kraft dem auf die Dauer gewachsen sein werde.

So war Pseldonimow in seine traurigen Gedanken versunken. Unterdessen war die Kerze herabgebrannt und das Stümpfchen dem Erlöschen nahe. Sein schwaches Licht fiel gerade auf Pseldonimows Profil und zeichnete dieses in starker Vergrößerung an die Wand, mit dem ausgestreckten Halse, mit der gekrümmten Nase und mit den beiden Haarbüscheln, die an der Stirn und im Nacken aufragten. Endlich, als schon die Morgenkühle hereindrang, stand er auf, zitternd und seelisch ganz betäubt, schleppte sich zu dem Federbett, das zwischen den Stühlen lag, und ohne etwas in Ordnung zu bringen, ohne das Lichtstümpfchen auszulöschen, sogar ohne sich ein Kissen unter den Kopf zu legen, kroch er auf allen vieren auf das Bett und fiel in jenen bleiernen, todesähnlichen Schlaf, wie ihn die zur Hinrichtung am folgenden Tage Verurteilten schlafen sollen.


Was war andrerseits mit den Qualen dieser Nacht zu vergleichen, die Iwan Iljitsch Pralinski auf dem Hochzeitsbette des unglücklichen Pseldonimows zubrachte! Eine Zeitlang ließen Kopfschmerz, Erbrechen und die andern Begleiterscheinungen dieses Zustandes ihm auch nicht einen Augenblick Ruhe. Er litt Höllenpein. Das Bewußtsein flackerte nur schwach in seinem Kopfe, zeigte ihm aber solche Abgründe des Schreckens, so greuliche, widerwärtige Bilder, daß es das beste für ihn gewesen sein würde, wenn er gar nicht zum Bewußtsein gekommen wäre. Übrigens ging in seinem Kopfe alles noch bunt durcheinander. Er erkannte zum Beispiel Pseldonimows Mutter und verstand ihre sanften Ermahnungen folgender Art: »Halt aus, mein Täubchen; halt aus, Väterchen; mit Geduld überwindet man alles«; aber er vermochte sich keinerlei logische Rechenschaft darüber zu geben, wie es zuging, daß sie neben ihm war. Häßliche Visionen traten ihm vor die Seele: am häufigsten glaubte er Semjon Iwanowitsch zu sehen; aber wenn er genauer hinblickte, so bemerkte er, daß es gar nicht Semjon Iwanowitsch war, sondern Pseldonimows Nase. Auch der Jünger der freien Künste huschte vor seinem Auge vorüber, und der Offizier, und die alte Frau mit der verbundenen Backe. Am meisten beschäftigte ihn der goldene Ring, der über seinem Kopfe schwebte, und durch den die Vorhänge hindurchgezogen waren. Er unterschied ihn deutlich beim Lichte der trüb brennenden Kerze, die das Zimmer erleuchtete, und quälte sich fortwährend in Gedanken mit der Frage, wozu dieser Ring diene, warum er hier sei, und was er zu bedeuten habe. Er fragte ein paarmal die Alte danach; aber er brachte das, was er sagen wollte, offenbar nicht ordentlich heraus; denn sie verstand ihn augenscheinlich nicht, trotz all seiner Bemühungen deutlich zu reden. Endlich (es war schon gegen Morgen) hörten die Anfälle auf, und er schlief ein und schlief fest und traumlos. Er schlief etwa eine Stunde lang, und als er erwachte, war er schon beinah wieder bei vollem Bewußtsein; er fühlte einen unerträglichen Schmerz im Kopfe und hatte im Munde auf der Zunge, die sich in einen Tuchlappen verwandelt zu haben schien, einen abscheulichen Geschmack. Er richtete sich auf dem Bette auf, blickte um sich und suchte seine Gedanken zu sammeln. Das blasse Licht des anbrechenden Tages stahl sich in einem schmalen Streifen durch die Spalte der Fensterläden und zitterte an der Wand. Es war gegen sieben Uhr morgens. Aber als Iwan Iljitsch plötzlich sich all das vergegenwärtigte, was ihm seit dem Abende begegnet war; als er sich an all die Vorfälle beim Abendessen erinnerte, an seine verunglückte Großtat, an seine Rede bei Tisch; als ihm jetzt auf einmal mit erschreckender Deutlichkeit all die möglichen Folgen dieser Ereignisse vor Augen traten, was die Leute jetzt über ihn sagen und denken würden; als er schließlich um sich blickte und sah, in welchen traurigen, ekelhaften Zustand er das friedliche Hochzeitsbett seines Untergebenen versetzt hatte, – oh, da wurde sein Herz von einem solchen Gefühl der Scham ergriffen, von solcher Qual durchzuckt, daß er aufschrie, die Hände vor das Gesicht schlug und in heller Verzweiflung auf das Kissen zurücksank. Aber eine Minute darauf sprang er vom Bette auf, erblickte neben sich auf einem Stuhle seine Kleider, in guter Ordnung zusammengelegt und bereits gereinigt, ergriff sie und begann, sich scheu umsehend, als ob er vor irgend etwas schreckliche Furcht hätte, sich anzukleiden. In der Nähe lag auf einem andern Stuhle auch sein Pelz und seine Mütze und in der Mütze seine gelben Handschuhe. Er beabsichtigte sich leise fortzuschleichen. Aber plötzlich öffnete sich die Tür, und herein trat die alte Frau Pseldonimowa mit einem irdenen Kruge und einem Waschbecken. Über der Schulter hatte sie ein Handtuch hängen. Sie stellte das Waschgerät hin und erklärte ohne weitere Redensarten, er müsse sich unter allen Umständen waschen.

»Ja, ja, Väterchen, wasche dich nur; du kannst doch nicht ungewaschen …«

Und in diesem Augenblick wurde Iwan Iljitsch sich bewußt, daß, wenn es auf der ganzen Welt ein Wesen gab, vor dem er sich jetzt nicht zu schämen und nicht zu fürchten brauchte, dieses Wesen eben diese alte Frau war. Er wusch sich. Und in den schweren Tagen, die dieser Nacht folgten, erinnerte er sich neben vielem, was ihm Gewissensbisse verursachte, noch lange an alle Umstände dieses Erwachens, auch an den irdenen Wasserkrug und das fayencene Waschbecken mit kaltem Wasser, in dem noch kleine Eisstückchen schwammen, und an das ovale, in rosa Papier gewickelte Stück Seife mit einigen eingeprägten Buchstaben, das wohl fünfzehn Kopeken gekostet haben mochte und offenbar für die Neuvermählten gekauft worden war, nun aber von ihm zuerst benutzt wurde, und an die alte Frau mit dem damastenen Handtuche über der linken Schulter. Das kalte Wasser erfrischte ihn; er trocknete sich ab, und ohne ein Wort zu sagen, ohne auch nur seiner Barmherzigen Schwester zu danken, ergriff er seine Mütze, hängte sich den Pelz über die Schultern, den ihm Frau Pseldonimowa reichte, und lief über den Korridor und durch die Küche, wo schon die Katze miaute und die Köchin, sich auf ihrem Lager aufrichtend, ihn mit großer Neugier ansah, auf den Hof, auf die Straße und warf sich in eine vorüberfahrende Droschke. Es war ein kalter Morgen; ein frostiger, gelblicher Nebel bedeckte noch die Häuser und alle Gegenstände. Iwan Iljitsch schlug den Kragen des Pelzes in die Höhe. Er hatte die Vorstellung, alle Leute sähen nach ihm hin und kennten ihn und erkennten ihn.


Acht Tage lang ging er nicht aus dem Hause und erschien nicht zum Dienste. Er war krank, schwer krank, aber mehr seelisch als körperlich. In diesen acht Tagen durchlebte er alle Qualen der Hölle, und wahrscheinlich wird ihm diese Leidenszeit in jener Welt einmal in Anrechnung gebracht werden. Es kamen bei ihm Augenblicke vor, wo er daran dachte, Mönch zu werden. Wahrhaftig, solche Augenblicke kamen bei ihm vor. Seine Phantasie erging sich sogar besonders gern in solchen Vorstellungen. Er vergegenwärtigte sich den leisen Gesang in den unterirdischen Gewölben, den offenen Sarg, das Leben in der einsamen Zelle, die Wälder und Höhlen; aber sobald er wieder seine Gedanken sammelte, wurde er sich fast im gleichen Momente bewußt, daß all das schrecklicher Unsinn und arge Überspanntheit sei, und schämte sich, solchen Unsinn gedacht zu haben. Dann kamen Anfälle eines moralischen Ekels, der sich auf seine existence manquée bezog. Dann flammte die Scham von neuem in seiner Seele auf und füllte sie ganz an; oh, wie das brannte und ätzte! Er fuhr zusammen, wenn er sich die einzelnen Szenen jener Unglücksnacht vorstellte. Was werde seine Beamtenschaft sagen und denken, wenn er in seine Kanzlei komme, was für ein Geflüster werde ihn ein ganzes Jahr lang verfolgen, zehn Jahre lang, sein ganzes Leben lang! Diese Geschichte von ihm werde auf die Nachwelt kommen. Er verfiel sogar mitunter in solchen Kleinmut, daß er nahe daran war, auf der Stelle zu Semjon Iwanowitsch zu fahren und ihn um Verzeihung und um seine Freundschaft zu bitten. Das, was er getan hatte, irgendwie zu rechtfertigen oder zu entschuldigen versuchte er überhaupt nicht; er hatte über sich ein endgültiges Verdammungsurteil gefällt. Er fand keine Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe und schämte sich, danach zu suchen.

Er dachte auch daran, unverzüglich in den Ruhestand zu treten und dann im Privatleben all seine Kräfte der Beförderung des Glückes der Menschheit zu weihen. Aber jedenfalls müsse er unbedingt sich von seinem ganzen Bekanntenkreise losmachen, und zwar sogar in dem Grade, daß bei diesem jede Erinnerung an seine Person weggetilgt werde. Dann kam ihm wieder der Gedanke, daß auch dies Unsinn sei, und daß bei vermehrter Strenge gegen seine Untergebenen die ganze Sache noch in Ordnung kommen könne. Auf Grund dieses Gedankens begann er wieder zu hoffen und Mut zu fassen. Endlich, nach Verlauf ganzer acht Tage des Zweifels und der Qual, fühlte er, daß er diese Ungewißheit nicht länger ertragen könne, und entschloß sich eines schönen Morgens, in seine Kanzlei zu gehen.

Vorher, als er noch in seinem Gram zu Hause saß, hatte er sich tausendmal ausgemalt, wie es bei seinem Eintritt in die Kanzlei zugehen werde. Er hatte sich mit Schrecken gesagt, er werde jedenfalls hinter seinem Rücken ein zweideutiges Geflüster hören, werde zweideutige Mienen und boshaftes Lächeln zu sehen bekommen. Wie groß war nun sein Erstaunen, als sich tatsächlich nichts Derartiges begab. Man empfing ihn respektvoll; alle verbeugten sich vor ihm; alle waren ernst, alle eifrig bei der Arbeit. Ein Gefühl der Freude erfüllte sein Herz, als er in sein eigenes Arbeitszimmer gelangte.

Er machte sich sofort mit großem Ernste an die Arbeit, hörte einige Berichte und Mitteilungen an und traf Entscheidungen. Er hatte die Empfindung, daß er früher noch nie so verständig und richtig geurteilt und entschieden habe wie an diesem Morgen. Er sah, daß seine Beamten mit ihm zufrieden waren, daß sie ihn respektierten, daß sie sich hochachtungsvoll gegen ihn betragen. Die argwöhnischste Zweifelsucht hätte nichts Bedenkliches bemerken können. Die Sache ging ganz vorzüglich.

Endlich erschien auch Akim Petrowitsch mit einigen Aktenstücken. Bei seinem Erscheinen war es dem Präsidenten, als bekäme er einen Stich mitten ins Herz; aber diese Empfindung dauerte nur einen Augenblick. Er arbeitete mit Akim Petrowitsch, sprach ernst und würdevoll, instruierte ihn, wie er dies und das machen solle, und machte ihm alles klar. Es fiel ihm dabei nur auf, daß er selbst es vermied, Akim Petrowitsch zu lange anzusehen, oder, richtiger gesagt, daß Akim Petrowitsch sich scheute, ihn anzusehen. Aber nun war Akim Petrowitsch fertig und begann seine Aktenstücke zusammenzunehmen.

»Und da ist noch ein Gesuch,« sagte er noch zum Schluß in möglichst trockenem, geschäftsmäßigem Tone, »ein Gesuch des Unterbeamten Pseldonimow um seine Versetzung in das Departement der ***-verwaltung. Seine Exzellenz Semjon Iwanowitsch Schipulenko hat ihm eine Stelle versprochen. Er bittet um Ihre gütige Einwilligung, Exzellenz.«

»So, so! Also der will sich versetzen lassen,« erwiderte Iwan Iljitsch und fühlte, wie ihm eine schwere Last vom Herzen fiel. Er sah Akim Petrowitsch an, und in diesem Momente begegneten sich ihre Blicke.

»Nun, ich meinerseits … gebe meine Zustimmung,« erwiderte Iwan Iljitsch; »ich bin einverstanden.«

Akim Petrowitsch hatte offenbar den Wunsch, sich möglichst schnell davonzumachen. Aber in einem plötzlichen Impuls edelmütiger Gesinnung beschloß Iwan Iljitsch sich vollständig auszusprechen. Es kam offenbar wieder über ihn wie eine Eingebung.

»Sagen Sie ihm,« begann er und sah Akim Petrowitsch mit einem klaren, tief bedeutungsvollen Blicke an, »sagen Sie diesem Pseldonimow, daß ich ihm nichts nachtrage; nein, ich trage ihm wirklich nichts nach! … Daß ich im Gegenteil sogar bereit bin, alles Vorgefallene zu vergessen, alles zu vergessen, alles …«

Aber auf einmal hielt Iwan Iljitsch inne; denn er sah mit Erstaunen, wie sonderbar sich Akim Petrowitsch benahm. Dieser, sonst ein so vernünftiger Mensch, betrug sich aus rätselhaftem Grunde wie ein kompletter Narr. Statt zuzuhören, bis ans Ende zuzuhören, wurde er auf einmal dunkelrot, was äußerst dumm aussah, und begann sich eilig und sogar in unpassender Eile mit lauter kleinen Verbeugungen zu empfehlen und gleichzeitig nach der Tür zurückzuweichen. Sein ganzes Benehmen ließ den Wunsch erkennen, in die Erde zu versinken oder, richtiger gesagt, so schnell wie möglich wieder an seinen Arbeitstisch zu gelangen. Als Iwan Iljitsch allein war, erhob er sich verlegen von seinem Stuhle. Er sah in den Spiegel, bemerkte aber in Gedanken sein Gesicht gar nicht.

»Nein, Strenge, nur Strenge und wieder Strenge!« flüsterte er fast unbewußt vor sich hin, und eine helle Röte übergoß auf einmal sein Gesicht. Das Gefühl der Scham wurde bei ihm plötzlich so stark und so peinlich, wie es nicht einmal in den schlimmsten Augenblicken seiner achttägigen Krankheit der Fall gewesen war.

»Ich habe es nicht durchgesetzt!« sagte er vor sich hin und ließ sich kraftlos auf seinen Stuhl wieder niedersinken.


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