Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Aus dem »Tagebuche eines Schriftstellers«, April 1827. – Anmerkung des Übersetzers.
*
Eine phantastische Erzählung
Ich bin ein lächerlicher Mensch. Man nennt mich jetzt einen Verrückten. Das würde eine Rangerhöhung sein, wenn ich nicht für die Leute immer noch ebenso lächerlich bliebe wie vorher. Aber jetzt ärgere ich mich nicht mehr darüber; jetzt sind sie mir alle lieb, und sogar wenn sie über mich lachen – und dann sind sie mir eigentümlicherweise sogar besonders lieb. Ich würde selbst mit ihnen lachen, nicht sowohl über mich als aus Liebe zu ihnen, wenn mir nicht bei ihrem Anblick so traurig ums Herz würde. Traurig deswegen, weil sie die Wahrheit nicht kennen; ich aber kenne die Wahrheit. Ach, was für ein drückendes Gefühl ist es, der einzige zu sein, der die Wahrheit kennt! Aber sie haben dafür kein Verständnis. Nein, sie haben dafür kein Verständnis.
Früher grämte ich mich sehr darüber, daß ich ein lächerlicher Mensch zu sein schien. Oder vielmehr nicht schien, sondern war. Ich bin immer lächerlich gewesen und weiß das; vielleicht war ich es schon von meiner Geburt an. Vielleicht wußte ich schon als Siebenjähriger, daß ich lächerlich war. Dann besuchte ich die Schule, dann die Universität, und merkwürdig: je mehr ich lernte, um so mehr erkannte ich, daß ich lächerlich bin. So daß schließlich mein ganzes Universitätsstudium für mich gewissermaßen nur die Bedeutung hatte, mir in dem Maße, wie ich mich in dasselbe vertiefte, zu beweisen und klarzumachen, daß ich lächerlich bin. Ähnlich wie in der Wissenschaft ging es mir auch im Leben. Mit jedem Jahre wuchs und befestigte sich in mir eben dieses selbe Bewußtsein meiner lächerlichen Erscheinung in jeder Beziehung. Von allen und immer wurde über mich gelacht. Aber keiner von ihnen wußte oder ahnte, daß, wenn ein Mensch auf der Welt mehr als alle andern meine Lächerlichkeit erkannte, dieser Mensch ich selbst war, und eben dies war für mich das Kränkendste, daß sie das nicht wußten. Aber daran war ich selbst schuld: ich war immer so stolz, daß ich das nie und um keinen Preis jemandem gestehen wollte. Dieser Stolz wuchs in mir mit den Jahren, und wenn es sich so gefügt hätte, daß ich mir erlaubt hätte, irgendwem, mochte es sein wer es wollte, zu gestehen, daß ich lächerlich sei, so würde ich, wie ich glaube, sogleich, noch an demselben Abend mir aus meinem Revolver eine Kugel vor den Kopf geschossen haben. O, wie litt ich in meiner Knabenzeit unter der Furcht, ich könnte mich nicht beherrschen und würde es auf einmal meinen Kameraden selbst gestehen! Aber seit ich anfing, ein junger Mann zu werden, änderte sich das: obgleich ich mit jedem Jahre meine schreckliche Eigenschaft immer deutlicher erkannte, so wurde ich doch aus irgendwelchem Grunde etwas ruhiger. Ich sage: aus irgendwelchem Grunde, weil ich bis auf den heutigen Tag nicht imstande bin anzugeben, woher es eigentlich kam. Vielleicht daher, daß in meiner Seele ein furchtbarer Gram über einen Umstand heranwuchs, der unendlich viel höher war als mein ganzes Ich: es war das nämlich die Überzeugung, die sich bei mir herausgebildet hatte, daß auf der Welt überall alles ganz egal ist. Ich hatte dies schon vor sehr langer Zeit geahnt; aber die volle Überzeugung stellte sich im letzten Jahre ganz plötzlich ein. Ich fühlte auf einmal, daß es mir ganz egal sein würde, ob die Welt existierte oder es nirgends etwas gäbe. Ich begann mit meinem ganzen Wesen zu merken und zu fühlen, daß es um mich herum nichts gab. Anfangs schien es mir immer, daß es wenigstens vorher vieles gegeben habe; aber dann erriet ich, daß es vorher ebenfalls nichts gegeben habe, sondern mir das nur aus irgendwelchem Grunde so vorgekommen sei. Allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, daß es auch niemals etwas geben werde. Damals hörte ich auf einmal auf, mich über die Menschen zu ärgern, und begann, sie fast gar nicht mehr zu bemerken. Wirklich, das äußerte sich sogar in den geringsten Kleinigkeiten; es passierte zum Beispiel nicht selten, daß ich, wenn ich auf der Straße ging, mit den Leuten zusammenstieß. Und nicht etwa infolge tiefen Nachdenkens: worüber hätte ich denn auch nachdenken sollen? Ich hatte damals ganz aufgehört nachzudenken: mir war alles egal. Und wenn ich wenigstens schwierige Fragen zu lösen versucht hätte; aber ich gab mich mit keiner solchen ab, und doch: wie viele gab es ihrer? Aber mir war alles egal, und die schwierigen Fragen entfernten sich sämtlich aus meinem Gesichtskreise.
Und siehe da, nach diesen Vorgängen da erkannte ich die Wahrheit. Ich erkannte die Wahrheit im vorigen November, genau am dritten November, und seit der Zeit erinnere ich mich an jeden Augenblick meines Lebens. Es war an einem trüben, ganz trüben Abend; er war so trübe, wie er überhaupt nur sein kann. Ich kehrte damals zwischen zehn und elf Uhr abends nach Hause zurück, und wie ich mich erinnere, ging mir gerade der Gedanke durch den Kopf, daß es gar nicht trüber sein könne. Selbst in rein physischer Hinsicht. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, und das war ein ganz kalter, häßlicher Regen gewesen, sogar, wie ich mich erinnere, ein grimmiger Regen mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit gegen die Menschen; aber da hörte er nach zehn Uhr auf einmal auf, und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, feuchter und kälter als zur Zeit des Regens, und von allen Dingen ging eine Art Dampf aus, von jedem Steine auf der Straße und aus jeder Quergasse, wenn man von der Straße aus ganz tief, so weit wie nur möglich, in sie hineinblickte. Es kam mir auf einmal der Gedanke, daß, wenn überall das Gas ausginge, das angenehmer sein würde; mit der Gasbeleuchtung fühle sich das Herz nur noch trauriger, weil diese das alles sichtbar mache. Ich hatte an diesem Tage fast nichts zu Mittag gegessen und hatte vom Beginn des Abends an bei einem Ingenieur gesessen, und bei ihm waren auch noch zwei Freunde gewesen. Ich hatte immerzu geschwiegen und war ihnen wohl recht langweilig vorgekommen. Sie redeten über irgendeinen strittigen Gegenstand und wurden dabei auf einmal sogar hitzig. Aber eigentlich war ihnen die Sache ganz egal, das sah ich, und daß sie hitzig wurden, war nur so äußerlich. Ich sprach ihnen das denn auch ganz unvermittelt aus: »Meine Herren,« sagte ich, »die Sache ist Ihnen ja doch ganz egal.« Sie fühlten sich nicht beleidigt, sondern lachten alle über mich. Das kam daher, daß ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil es mir selbst ganz egal war. Sie sahen nun ein, daß es mir ganz egal war, und wurden ganz vergnügt.
Als ich auf der Straße an das Gas dachte, blickte ich zum Himmel hinauf. Der Himmel war furchtbar dunkel; aber man konnte deutlich zerrissene Wolken unterscheiden und zwischen ihnen abgrundtiefe schwarze Flecke. Auf einmal bemerkte ich in einem dieser Flecke ein Sternchen und begann aufmerksam nach ihm hinzusehen. Das tat ich deshalb, weil dieses Sternchen mir einen Gedanken eingab: ich beschloß, mir in dieser Nacht das Leben zu nehmen. Ich hatte das schon zwei Monate vorher fest beschlossen, mir trotz meiner Armut einen schönen Revolver gekauft und ihn gleich an jenem Tage geladen. Aber nun waren schon zwei Monate vergangen, und er lag immer noch im Kasten; aber alles war mir dermaßen egal, daß ich mir schließlich vornahm, einen Augenblick abzuwarten, wo mir nicht alles so egal sein würde – warum ich so verfuhr, das weiß ich nicht. Und auf diese Weise hatte ich diese zwei Monate hindurch jede Nacht, wenn ich nach Hause zurückkehrte, gedacht, daß ich mich erschießen würde. Ich wartete, immer auf den betreffenden Augenblick. Und da gab mir nun dieses Sternchen den Gedanken ein, und ich beschloß, daß es unbedingt in dieser Nacht geschehen solle. Aber warum das Sternchen mir den Gedanken eingab, das weiß ich nicht.
Und siehe da, als ich zum Himmel aufblickte, da faßte mich plötzlich dieses kleine Mädchen an den Ellbogen. Die Straße war schon leer und fast kein Mensch auf ihr zu sehen. In der Ferne schlief ein Droschkenkutscher auf seinem Gefährt. Das kleine Mädchen war etwa acht Jahre alt; sie hatte keinen Mantel, sondern nur ein dürftiges Kleidchen und ein kleines Tüchelchen und war ganz durchnäßt; namentlich aber bemerkte ich ihre nassen, zerrissenen Schuhe und erinnere mich ihrer auch jetzt. Sie fielen mir ganz besonders in die Augen. Sie begann auf einmal mich am Ellbogen zu zupfen und mich zu rufen. Sie weinte nicht, sondern stieß nur abgerissene Worte hervor, die sie nicht ordentlich aussprechen konnte, da sie am ganzen Leibe in leisem Fieberschauer zitterte. Sie war aus irgendwelchem Grunde in Angst und schrie verzweifelt: »Mein Mamachen! Mein Mamachen!« Ich wendete mich einen Augenblick nach ihr um, sagte jedoch kein Wort und setzte meinen Weg fort; sie aber lief mir nach und zupfte mich, und in ihrer Stimme lag jener Klang, der bei sehr geängsteten Kindern die höchste Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Klang. Obgleich sie die Worte nicht zu Ende sprach, verstand ich doch, daß ihre Mutter irgendwo im Sterben lag oder sich mit ihnen dort irgend etwas anderes Schreckliches zugetragen hatte und sie aus dem Hause gelaufen war, um jemanden zu rufen, irgendwelche Hilfe für ihre Mutter zu finden. Aber ich folgte ihr nicht; im Gegenteil kam mir auf einmal der Gedanke, sie wegzujagen. Zuerst sagte ich ihr, sie solle sich einen Schutzmann suchen. Aber sie faltete auf einmal bittend die Händchen, lief schluchzend und atemlos immer neben mir her und wich nicht von mir. Und da stampfte ich mit den Füßen und schrie sie an. Sie rief nur: »Ach, Herr, ach, Herr! …« aber plötzlich verließ sie mich und rannte, so schnell sie nur konnte, über die Straße hinüber; dort war ein anderer Passant sichtbar geworden, und sie lief offenbar von mir zu ihm hin.
Ich stieg nach meinem fünften Stock hinauf. Ich wohne bei Mietern, welche möblierte Zimmer vermieten. Ich habe ein ärmliches, kleines Zimmer mit einem halbrunden Dachfenster. Das Meublement: ein mit Wachstuch bezogenes Sofa, ein Tisch, auf dem meine Bücher liegen, zwei Stühle und ein bequemer Lehnstuhl, alt, sehr alt, aber so ein richtiger Großvaterstuhl. Ich setzte mich hin, zündete eine Kerze an und überließ mich meinen Gedanken. Nebenan, in dem Nachbarzimmer, das von dem meinigen nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt ist, dauerte das wüste Treiben noch fort. Es war schon seit mehr als zwei Tagen im Gange. Dort wohnte ein pensionierter Hauptmann, und bei ihm war Besuch, etwa sechs Menschen niedrigen Standes; sie tranken Branntwein und spielten mit alten Karten Stoß. Ein Hasardspiel. – Anmerkung des Übersetzers. In der vorhergehenden Nacht hatte es Prügelei gegeben, und ich weiß, daß zwei von ihnen sich längere Zeit bei den Haaren gehabt hatten. Die Wirtin wollte sich schon beklagen; aber sie fürchtet sich gewaltig vor dem Hauptmann. Von sonstigen Untermietern ist bei uns nur noch eine kleine, magere Dame von auswärts vorhanden, mit drei kleinen Kindern, die schon bei uns krank geworden sind. Sie und die Kinder fürchten sich vor dem Hauptmann bis zum Ohnmächtigwerden und zittern und bekreuzen sich die ganze Nacht über; ja, das kleinste Kind hat vor Angst sogar schon einen Krampfanfall bekommen. Dieser Hauptmann hält, wie ich genau weiß, manchmal die Passanten auf dem Newski-Prospekt an und bittet um Almosen. Zum Militärdienst wird er nicht wieder angenommen; aber merkwürdigerweise (und im Hinblick darauf erzähle ich dies eben) hat er in dem ganzen Monat, seit er bei uns wohnt, bei mir keinerlei Gefühl des Ärgers erregt. Einer näheren Bekanntschaft mit ihm bin ich allerdings gleich von vornherein ausgewichen, und auch ihm selbst wurde die Unterhaltung mit mir schon beim ersten Male langweilig; aber mochten sie auch hinter der Zwischenwand ein noch so großes Geschrei verüben, und mochten ihrer dort auch noch so viele anwesend sein – mir war das immer ganz egal. Ich sitze die ganze Nacht auf und höre diese Menschen wirklich nicht; bis zu dem Grade vergesse ich sie. Ich durchwache ja jede Nacht bis zum Morgengrauen und treibe das so schon ein Jahr lang. Ich sitze die ganze Nacht am Tische im Lehnstuhl und tue nichts. Bücher lese ich nur bei Tage. Ich sitze da und denke nicht einmal etwas; ich sitze eben bloß; allerlei Gedanken gehen mir durch den Kopf, und ich lasse sie nach ihrem Belieben gewähren. Die Kerze brennt in der Nacht vollständig herunter. Ich setzte mich still an den Tisch, nahm den Revolver heraus und legte ihn vor mich hin. Ich erinnere mich, daß, als ich ihn hinlegte, ich mich fragte: »Ja?« und mir mit aller Bestimmtheit antwortete: »Ja.« Das hieß also: ich werde mich erschießen. Ich wußte, daß ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde; aber wie lange ich bis dahin noch am Tische sitzen würde, das wußte ich nicht. Und ich hätte mich auch sicherlich erschossen, wäre nicht jenes kleine Mädchen gewesen.
Sehen Sie, wenn mir auch alles egal war, so fühlte ich doch zum Beispiel den Schmerz. Hätte mich jemand geschlagen, so würde ich Schmerz empfunden haben. Ebenso auch in geistiger Hinsicht: hätte sich etwas sehr Trauriges ereignet, so würde ich Mitleid empfunden haben, ebenso wie damals, als mir noch nicht im Leben alles egal war. Ich hatte auch soeben Mitleid empfunden: einem Kinde würde ich doch unbedingt geholfen haben. Warum hatte ich denn aber dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Infolge eines Gedankens, der damals in meinem Kopfe entstanden war: als sie mich zupfte und rief, da trat mir auf einmal eine Frage entgegen, und ich konnte sie nicht beantworten. Es war eine müßige Frage; aber ich ärgerte mich. Ich ärgerte mich infolge der Schlußfolgerung, daß, wenn mein Entschluß feststehe, meinem Leben in dieser Nacht ein Ende zu machen, mir eigentlich alles in der Welt jetzt in höherem Grade als sonst je egal sein müsse. Warum fühlte ich denn nun auf einmal, daß mir nicht alles egal war und ich das kleine Mädchen bemitleidete? Ich erinnere mich, daß ich großes Mitleid mit ihr hatte; ich empfand davon sogar einen seltsamen, zu meiner Lage ganz und gar nicht passenden Schmerz. Ich verstehe es allerdings nicht, diese meine damalige momentane Empfindung besser wiederzugeben; aber die Empfindung dauerte auch zu Hause fort, als ich mich schon an den Tisch gesetzt hatte, und ich war in einer so gereizten Stimmung wie seit lange nicht. Eine Überlegung knüpfte sich an die andere. Es war mir klar, daß, wenn ich ein Mensch und noch keine Null war und mich einstweilen noch nicht in eine Null verwandelt hatte, daß ich dann lebte und folglich imstande war, zu leiden, mich zu ärgern und über meine Handlungen Scham zu empfinden. Nun gut. Aber wenn ich mich zum Beispiel nach zwei Stunden tötete, was hatte ich dann mit diesem kleinen Mädchen zu tun, und was ging mich dann das Schamgefühl und überhaupt alles in der Welt an? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und mußte denn das Bewußtsein, daß ich alsbald völlig aufhören würde zu existieren und somit auch nichts anderes mehr existieren würde, mußte nicht dieses Bewußtsein die Wirkung haben, das Gefühl des Mitleides mit dem kleinen Mädchen und das Gefühl der Scham über die begangene Gemeinheit aufzuheben? Eben deshalb hatte ich ja mit den Füßen gestampft und das unglückliche Kind mit grimmiger Stimme angeschrien, weil ich gleichsam zu mir sagte: ich empfinde nicht nur kein Mitleid, sondern ich kann sogar jetzt eine unmenschliche Gemeinheit begehen, da in zwei Stunden alles erloschen sein wird. Können Sie es glauben, daß ich sie darum anschrie? Ich bin jetzt beinah überzeugt davon. Es war mir klar, daß das Leben und die Welt gleichsam von mir abhingen. Ich kann es auch so ausdrücken: die Welt war jetzt einzig und allein für mich gemacht; wenn ich mich erschoß, so hörte auch die Welt wenigstens für mich auf zu existieren. Um gar nicht einmal davon zu reden, daß es vielleicht wirklich nach meinem Tode für niemanden mehr etwas gab und die ganze Welt, sobald mein Bewußtsein erlosch, sogleich wie eine Vision, wie ein bloßes Attribut meines Bewußtseins mit erlosch und verschwand; denn vielleicht waren diese ganze Welt und alle diese Menschen lediglich ich selbst allein. Ich erinnere mich, daß, während ich so dasaß und nachdachte, ich alle diese neuen Fragen, die sich eine nach der andern herandrängten, nach einer andern Seite herumdrehte und etwas ganz Neues ersann. So zum Beispiel trat mir ein seltsamer Gedanke entgegen: wenn ich früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt und dort die schmählichste, ehrloseste Tat begangen hätte, die man sich nur vorstellen kann, und dort für diese Tat in einer Weise beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es höchstens manchmal in einem ängstlichen Traume zu empfinden und sich vorzustellen vermag, und wenn ich dann, auf die Erde versetzt, die Erinnerung an das auf dem andern Himmelskörper Getane bewahrte und außerdem wüßte, daß ich dorthin niemals und unter keinen Umständen zurückkehren werde: würde mir dann, wenn ich von der Erde aus nach dem Monde hinblickte, alles ganz egal sein oder nicht? Würde ich über meine Tat Scham empfinden oder nicht? Die Fragen waren müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir lag und ich mit meinem ganzen Wesen wußte, daß »es« bestimmt geschehen werde; aber sie machten mir den Kopf warm, und ich wurde ganz wütend. Ich hatte die seltsame Vorstellung, ich könne jetzt nicht eher sterben, ehe ich nicht über dies und das ins klare gekommen sei. Kurz, dieses kleine Mädchen rettete mich; denn infolge dieser Fragen verschob ich das Erschießen. Bei dem Hauptmann war unterdessen auch alles ruhig geworden: sie hatten mit dem Kartenspiel aufgehört, schickten sich an, sich schlafen zu legen, brummten aber einstweilen noch und schimpften einander in müder, lässiger Weise. Und da schlief ich plötzlich ein, was mir vorher noch nie begegnet war; ich schlief am Tische, im Lehnstuhl ein. Ich schlief vollständig ohne es zu merken ein. Die Träume sind bekanntlich sehr seltsame Dinge: manches tritt einem mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen, mit kunstvoll feiner Ausarbeitung der Einzelheiten, während man über anderes hinwegspringt, als wenn man es gar nicht bemerkte, zum Beispiel über Raum und Zeit. Die Träume lenkt, glaube ich, nicht der Verstand, sondern der Wille, nicht der Kopf, sondern das Herz; aber doch, was für verschmitzte Dinge hat manchmal mein Verstand im Traume angegeben! Es gehen mitunter mit ihm im Traume ganz unbegreifliche Dinge vor. Mein Bruder ist zum Beispiel vor fünf Jahren gestorben. Ich sehe ihn mitunter im Traume: er nimmt an meinen Angelegenheiten lebhaften Anteil, wir führen darüber eifrige Gespräche; aber dabei weiß ich und erinnere ich mich während der ganzen Dauer des Traumes vollkommen, daß mein Bruder gestorben und begraben ist. Wie geht es nun zu, daß ich mich nicht darüber wundere, daß er, obwohl er tot ist, sich doch neben mir befindet und eifrig mit mir redet? Warum erhebt mein Verstand dagegen keinerlei Einspruch? Aber genug davon! Ich komme jetzt zu meinem Traume. Ja, mir träumte damals dieser Traum, am dritten November! Die Leute necken mich jetzt damit, daß es ja nur ein Traum gewesen sei. Aber ist es denn nicht ganz egal, ob es ein Traum war oder nicht, wenn dieser Traum mir die Wahrheit verkündet hat? Denn wenn man einmal die Wahrheit erkannt und gesehen hat, so weiß man ja, daß sie die Wahrheit ist, und daß es keine andere gibt und keine andere geben kann, ob man nun schläft oder wacht. Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein, meinetwegen; aber dieses Leben, das Sie so lobpreisen, wollte ich durch Selbstmord auslöschen, und mein Traum, mein Traum, – o, er hat mir ein neues, großes, erneuertes, starkes Leben offenbart!
Hören Sie nun!
Ich habe gesagt, daß ich einschlief, ohne es zu merken, und ich hatte sogar die Empfindung, als führe ich fort, über dieselben Gegenstände nachzudenken. Auf einmal träumte mir, daß ich den Revolver nahm und ihn im Sitzen gerade auf mein Herz richtete, – auf das Herz, nicht auf den Kopf; und doch hatte ich mir vorher vorgenommen gehabt, mich unbedingt in den Kopf zu schießen, und zwar speziell in die rechte Schläfe. Nachdem ich die Waffe gegen meine Brust gerichtet hatte, wartete ich eine oder zwei Sekunden, und meine Kerze, der Tisch und die Wand begannen auf einmal vor meinen Augen sich zu bewegen und zu schwanken. Ich gab so schnell wie möglich den Schuß ab.
Im Traume fällt man manchmal von einer Höhe hinab, oder man wird ermordet oder geschlagen; aber man fühlt niemals einen Schmerz, es müßte denn sein, daß man sich selbst tatsächlich irgendwie am Bette stößt; dann fühlt man einen Schmerz und erwacht fast immer infolgedessen. So war es auch in meinem Traume: einen Schmerz fühlte ich nicht; aber ich hatte die Empfindung, als ob mit meinem Schusse alles in mir erschüttert und alles auf einmal erloschen und es rings um mich herum furchtbar dunkel geworden sei. Ich war anscheinend blind und stumm geworden, und so lag ich nun auf etwas Festem, ausgestreckt, auf dem Rücken, sah nichts und konnte nicht die geringste Bewegung machen. Um mich herum wurde gegangen und geschrien; der Hauptmann sprach in tiefem Baß, die Wirtin in ihrem Diskant, – und auf einmal wieder eine Unterbrechung, und da trug man mich schon im geschlossenen Sarge. Und ich fühlte, wie der Sarg schaukelte, und dachte darüber nach, und plötzlich überraschte mich zum ersten Male der Gedanke, daß ich ja gestorben war, vollständig gestorben, daß ich das wußte und nicht bezweifelte, daß ich nicht sah und mich nicht bewegte, aber dabei doch fühlte und dachte. Indessen söhnte ich mich bald damit aus, nahm, wie im Traume gewöhnlich, die Wirklichkeit ohne Widerspruch hin.
Und siehe, da ließ man mich in eine Gruft hinab und schüttete Erde darauf. Alle gingen weg; ich war allein, ganz allein. Ich bewegte mich nicht. Wenn ich mir früher im Wachen vorgestellt hatte, wie ich begraben werden würde, so hatte ich mit dem Begriffe des Grabes immer nur die Empfindung der Feuchtigkeit und Kälte verbunden. So auch jetzt: ich fühlte, daß mir sehr kalt war, namentlich an den Zehenspitzen; aber weiter fühlte ich nichts.
Ich lag, und merkwürdig: ich erwartete nichts, sondern nahm es ohne Widerspruch hin, daß ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, – eine Stunde oder einige Tage oder viele Tage. Aber da fiel plötzlich auf mein linkes geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel hindurchgesickerter Wassertropfen; ihm folgte nach einer Minute ein anderer, darauf nach einer Minute ein dritter, und so weiter und so weiter, immer in Abständen von einer Minute. Ein starker Unwille entbrannte plötzlich in meinem Herzen, und auf einmal fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz: »Das ist meine Wunde,« dachte ich; »das ist von dem Schusse; da sitzt die Kugel …« Die Tropfen aber fielen immer noch jede Minute, und gerade auf mein geschlossenes Auge. Und ich rief auf einmal, nicht mit der Stimme (denn ich konnte mich nicht bewegen), sondern mit meinem ganzen Wesen zu dem, nach dessen Herrscherwillen das alles mit mir vorging:
»Wer du auch sein magst, aber wenn du bist, und wenn etwas Vernünftigeres existiert als das, was sich jetzt vollzieht, so laß dieses Vernünftigere auch hier stattfinden. Wenn du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord durch die Garstigkeit und Sinnlosigkeit eines weiteren Daseins strafst, so wisse, daß keine Qual, die mir zuteil werden mag, jemals der Geringschätzung wird gleichkommen können, die ich schweigend empfinden werde, und wenn die Qual Millionen Jahre dauern sollte! …«
So rief ich und verstummte dann. Fast eine ganze Minute lang dauerte das tiefe Schweigen, und es fiel sogar noch ein Tropfen herunter; aber ich wußte, ich wußte und glaubte mit unerschütterlicher Festigkeit, daß sich jetzt sofort alles sicherlich ändern werde. Und siehe da, auf einmal tat sich mein Grab auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es durch Aufgraben geöffnet wurde; aber ich wurde von einem dunklen, mir unbekannten Wesen ergriffen, und wir befanden uns plötzlich im Weltenraume. Ich wurde auf einmal wieder sehend: es war tiefe Nacht, und noch niemals, noch niemals hatte es eine solche Dunkelheit gegeben! Wir flogen im Weltenraume schon fern von der Erde dahin. Ich fragte den, der mich trug, nach nichts; ich wartete und war stolz. Ich gab mir selbst die Versicherung, daß ich mich nicht fürchtete, und wollte bei dem Gedanken, daß ich mich nicht fürchtete, beinahe vergehen vor Entzücken. Ich erinnere mich nicht, wie lange wir so flogen, und habe keine Vorstellung davon: es geschah alles so wie immer im Traume, wenn man sich über Raum und Zeit und über die Gesetze des Daseins und der Vernunft hinwegsetzt und nur bei denjenigen Punkten verweilt, von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich, daß ich auf einmal in der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte. »Ist das der Sirius?« fragte ich; ich konnte mich nicht beherrschen, obgleich ich eigentlich nach nichts fragen wollte. »Nein, das ist jener selbe Stern, den du zwischen den Wolken sahst, als du nach Hause zurückkehrtest«, antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich wußte, daß es eine Art von Menschenantlitz hatte. Seltsamerweise liebte ich dieses Wesen nicht; ja, ich empfand sogar eine tiefe Abneigung gegen dasselbe. Ich hatte ein vollständiges Nichtsein erwartet und mich in dieser Voraussetzung ins Herz geschossen. Und nun befand ich mich in den Händen eines Wesens, das allerdings kein menschliches Wesen war, aber doch war, existierte. »Also gibt es auch jenseits des Grabes ein Leben!« dachte ich mit der seltsamen Leichtfertigkeit des Traumes; aber das eigentliche Wesen meines Herzens blieb im tiefsten Grunde unverändert. »Und wenn ich denn«, dachte ich, »von neuem sein und wieder nach jemandes unwiderstehlichem Willen leben muß, so will ich mich nicht besiegen und erniedrigen lassen!« – »Du weißt, daß ich mich vor dir fürchte, und verachtest mich wohl deswegen?« sagte ich auf einmal zu meinem Gefährten; ich vermochte diese erniedrigende Frage, die ein Bekenntnis einschloß, nicht zurückzuhalten und fühlte im Herzen meine Erniedrigung wie einen Nadelstich. Er antwortete nicht auf meine Frage; aber ich fühlte plötzlich, daß ich nicht verachtet, nicht verlacht und nicht einmal bemitleidet wurde, und daß unser Weg ein unbekanntes, geheimnisvolles Ziel hatte, das zu mir allein in Beziehung stand. Die Angst wuchs in meinem Herzen. Stumm, aber unter Qualen teilte sich mir etwas von meinem schweigsamen Gefährten mit und durchdrang mich gewissermaßen. Wir flogen in dunklen, unbekannten Räumen. Schon längst sah ich die dem Auge bekannten Gestirne nicht mehr. Ich wußte, daß es in den himmlischen Räumen Sterne gibt, von denen die Strahlen erst in Tausenden, ja Millionen von Jahren zur Erde gelangen. Vielleicht durchflogen wir schon diese Räume. Ich erwartete etwas mit einer furchtbaren Unruhe, die mein Herz marterte. Und auf einmal erschütterte mich ein bekanntes und im höchsten Grade angenehmes Gefühl; ich erblickte auf einmal unsere Sonne! Ich wußte, daß das nicht unsere Sonne sein konnte, von der unsere Erde geboren ist, und daß wir uns von unserer Sonne in einer unendlichen Entfernung befanden; aber ich erkannte auf irgendwelche Weise mit meinem ganzen Wesen, daß dies eine vollständig ebensolche Sonne war wie die unsrige, ihre Wiederholung, ihre Doppelgängerin. Ein angenehmes, wonniges Gefühl des Entzückens erfüllte meine Seele: die verwandte Kraft des Lichtes, eben jenes Lichtes, welches mich geboren hatte, fand ihren Widerhall in meinem Herzen und erweckte es zu neuem Leben, und ich empfand zum erstenmal seit meinem Begräbnis in mir wieder Leben, das frühere Leben.
»Aber wenn das die Sonne ist, wenn das eine ganz ebensolche Sonne ist wie die unsrige,« rief ich, »wo ist denn dann die Erde?« Und mein Gefährte wies auf einen kleinen Stern hin, der in der Dunkelheit mit smaragdenem Glanze schimmerte. Wir flogen gerade auf ihn zu.
»Sind solche Wiederholungen im Universum wirklich möglich, ist das wirklich ein Naturgesetz? Und wenn das dort die Erde ist, ist es dann wirklich eine ebensolche Erde wie die unsrige … eine ganz ebensolche unglückliche, arme, aber doch teure und ewig geliebte Erde, die eine ebensolche qualvolle Liebe zu sich sogar bei ihren undankbarsten Kindern erweckt wie die unsrige?« rief ich, zitternd vor unbezwinglicher, enthusiastischer Liebe zu jener heimischen früheren Erde, die ich verlassen hatte. Das Bild der armen Kleinen, gegen die ich mich so häßlich benommen hatte, schimmerte vor meinem geistigen Blicke auf.
»Du wirst alles sehen«, antwortete mein Gefährte, und eine Art von Traurigkeit war aus dem Klange seiner Stimme herauszuhören. Aber wir näherten uns schnell dem Planeten. Er wuchs vor meinen Augen; ich unterschied schon den Ozean, die Umrisse Europas, und auf einmal flammte das seltsame Gefühl einer großen, heiligen Eifersucht in meinem Herzen auf: »Wie kann es nur eine derartige Wiederholung geben, und wozu? Ich liebe nur jene Erde, die ich verlassen habe, und auf der Spritzflecken meines Blutes zurückgeblieben sind, als ich Undankbarer durch einen Schuß in mein Herz mein Leben auslöschte; und ich kann nur sie lieben. Niemals, niemals habe ich aufgehört, sie zu lieben, und sogar in jener Nacht, als ich mich von ihr trennte, habe ich sie vielleicht mit größerer Qual geliebt als je. Gibt es auch auf dieser neuen Erde Qualen? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen und nur durch Qualen lieben! Wir verstehen nicht anders zu lieben und kennen keine andere Liebe. Mich verlangt nach Qual, um zu lieben. Es verlangt mich, ich dürste in diesem Augenblicke danach, nur jene Erde, die ich verlassen habe, unter Tränenströmen zu küssen; ich will kein Leben auf einer andern Erde; ich lehne ein solches ab! …«
Aber mein Gefährte hatte mich schon verlassen. Ich befand mich plötzlich, ohne daß ich selbst bemerkt hätte wie, auf dieser andern Erde im hellen Lichte eines paradiesisch schönen, sonnigen Tages. Ich glaube, ich stand auf einer jener Inseln, die auf unserer Erde den griechischen Archipel bilden, oder irgendwo am Gestade des Festlandes, das an diesem Archipel liegt. O, alles war ganz so wie bei uns; aber alles schien zu strahlen wie an einem Festtage, wie wenn endlich ein großer, heiliger Triumph erreicht wäre. Das freundliche, smaragdgrüne Meer plätscherte leise an den Ufern und küßte sie mit offensichtlicher, beinah bewußter Liebe. Hohe, schöne Bäume standen da im vollen Schmucke ihrer Blüte, und ihre zahllosen Blättchen bewillkommneten mich (davon bin ich überzeugt) mit ihrem leisen, freundlichen Rauschen und schienen Worte der Liebe zu sprechen. Der Rasen leuchtete von bunten, duftenden Blumen. Kleine Vögel flogen scharenweise in der Luft umher, setzten sich mir ohne Furcht auf die Schultern und auf die Hände und schlugen mich fröhlich mit ihren allerliebsten, flatternden Flügelchen. Und endlich erblickte und erkannte ich die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten mich und küßten mich. Diese Kinder der Sonne, diese Kinder ihrer Sonne, o wie schön waren sie! Niemals hatte ich auf unserer Erde eine solche Schönheit beim Menschen gesehen. Höchstens bei unseren Kindern in ihren ersten Lebensjahren könnte man einen entfernten, wiewohl nur schwachen Schimmer dieser Schönheit finden. Die Augen dieser glücklichen Menschen leuchteten in klarem Glanze. Ihre Gesichter strahlten von Verstand und einer schon zur völligen Beruhigung gelangten Erkenntnis; aber diese Gesichter waren heiter; aus den Stimmen und den Worten dieser Menschen klang eine kindliche Freude heraus. O, sofort, beim ersten Blicke auf ihre Gesichter, verstand ich alles, alles! Das war die nicht durch den Sündenfall entweihte Erde; auf ihr lebten sündlose Menschen; sie lebten in einem ebensolchen Paradiese wie das, in welchem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit auch unsere sündigen Ureltern ursprünglich gelebt hatten, nur mit dem Unterschiede, daß die ganze Erde hier überall ein und dasselbe Paradies war. Diese Menschen umdrängten mich mit fröhlichem Lachen und liebkosten mich; sie führten mich in ihre Wohnungen, und jeder von ihnen wollte mich beruhigen. O, sie befragten mich nach nichts, sondern wußten, wie mir schien, schon alles und wünschten so schnell wie möglich den Ausdruck des Leidens von meinem Gesichte zu verscheuchen.
Ich sage noch einmal: Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen Menschen ist mir für alle Zeit verblieben, und ich fühle, daß ihre Liebe sich auch jetzt von dort auf mich ergießt. Ich selbst habe diese Menschen gesehen, sie kennen gelernt, mich von ihrem Wesen überzeugt, sie liebgewonnen und nachher um sie gelitten. O, ich begriff sofort, sogar damals schon, daß ich sie in vieler Hinsicht überhaupt nicht verstehen würde; mir als modernem russischem Fortschrittler und garstigem Petersburger schien es zum Beispiel unerklärlich, daß sie, die doch so viel wußten, unsere Wissenschaft nicht besaßen. Aber ich begriff bald, daß ihr Wissen durch andere Einsichten genährt und zur Vollkommenheit gebracht wurde als bei uns auf der Erde, und daß ihre Bestrebungen ebenfalls ganz andere waren. Sie wünschten nichts und waren in ihren Seelen ruhig; sie strebten nicht nach Erkenntnis des Lebens in der Weise, wie wir es zu erkennen streben; denn ihr Leben hatte bereits einen vollen Inhalt. Aber ihr Wissen war tiefer und höher als bei unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft sucht zu erklären, was das Leben eigentlich ist; sie strebt selbst danach, es zu erkennen, um andere zu lehren, wie sie leben sollen; jene aber wußten auch ohne Wissenschaft, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich; aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume hin, und ich vermochte den Grad von Liebe, mit dem sie sie betrachteten, nicht zu begreifen: sie redeten von ihnen gerade so, als ob es ihnen ähnliche Wesen wären. Und wissen Sie, vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich sage, daß sie mit ihnen sprachen! Ja, sie kannten die Sprache der Bäume, und ich bin überzeugt, daß auch diese die Sprache der Menschen verstanden. Von der gleichen Art war auch ihr Verhältnis zu der ganzen übrigen Natur, zu den Tieren, welche friedlich mit ihnen zusammen lebten, sie nicht anfielen und sie liebten, da sie durch die Liebe derselben überwunden waren. Sie wiesen auf die Sterne hin und sagten zu mir etwas von diesen, was ich nicht begreifen konnte; aber ich bin überzeugt, daß sie auf irgendeine Weise mit den himmlischen Sternen in Verbindung standen, nicht nur durch ihre Gedanken, sondern auf irgendwelchem lebendigen Wege. O, diese Menschen trachteten nicht danach, daß ich sie verstehen möchte; sie liebten mich auch ohne das; aber andrerseits wußte ich, daß auch sie mich niemals verstehen würden, und darum redete ich mit ihnen fast gar nicht von unserer Erde. Ich küßte nur vor ihren Augen jene Erde, die sie bewohnten, und bezeigte ihnen selbst ohne Worte meine hohe Verehrung, und sie sahen das und ließen es geschehen, daß ich es tat, und schämten sich nicht darüber, daß ich sie deswegen verehrte, weil sie selbst mich so sehr liebten. Sie grämten sich nicht um meinetwillen, wenn ich ihnen manchmal unter Tränen die Füße küßte, mir freudig im Herzen bewußt, mit wie starker Liebe sie die meinige erwiderten. Mitunter fragte ich mich erstaunt, wie es zuging, daß sie während der ganzen Zeit einen solchen Menschen, wie ich, nicht kränkten und kein einziges Mal in einem solchen Menschen, wie ich, ein Gefühl der Eifersucht und des Neides erweckten. Oftmals fragte ich mich, wie es zuging, daß ich, so ein Prahler und Lügner, zu ihnen nicht von meinen Kenntnissen sprach, von denen sie sicherlich keinen Begriff hatten, und nicht den Wunsch hegte, sie in Erstaunen zu versetzen, sei es auch nur aus Liebe zu ihnen. – Sie waren ausgelassen und fröhlich wie Kinder. Sie schweiften in ihren schönen Hainen und Wäldern umher; sie sangen ihre schönen Lieder; sie nährten sich von leichter Kost, von den Früchten ihrer Bäume, dem Honig ihrer Wälder und der Milch der sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und für ihre Kleidung wendeten sie nur wenig und nur leichte Arbeit auf. Es gab bei ihnen Liebe, und es wurden Kinder geboren; aber niemals bemerkte ich bei ihnen Ausbrüche jener grausamen Wollust, die fast allen Menschen auf unserer Erde eigen ist, allen und jedem, und die die einzige Quelle fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten sich über die Kinder, die sich bei ihnen einstellten, wie über neue Teilnehmer an ihrer Glückseligkeit. Es gab unter ihnen keine Streitigkeiten und keine Eifersucht, und sie begriffen nicht einmal, was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, da alle eine einzige Familie bildeten. Es gab bei ihnen fast gar keine Krankheiten, obgleich es den Tod bei ihnen gab; sondern ihre Greise verschieden so sanft, als ob sie einschliefen, von Menschen, die ihnen Lebewohl sagten, umgeben, sie segnend, ihnen zulächelnd und selbst von deren heiterem Lächeln geleitet. Trauer und Tränen habe ich dabei nicht gesehen; es zeigte sich dabei nur eine bis zum Entzücken gesteigerte Liebe; aber dieses Entzücken war ein ruhiges, vollbefriedigtes, kontemplatives. – Man konnte denken, daß sie mit ihren Verstorbenen sogar noch nach deren Tode in Verbindung standen, und daß die Gemeinschaft, in der sie mit ihnen während des Erdenlebens gestanden hatten, durch den Tod nicht aufgehoben wurde. Sie verstanden mich kaum, als ich sie nach dem ewigen Leben fragte, waren aber von diesem offenbar so fest überzeugt, daß das für sie keine Streitfrage bildete. Sie hatten keine Tempel, standen aber in einer Art von steter, lebendiger, ununterbrochener Gemeinschaft mit dem Universum; sie hatten keinen Glauben, aber dafür das feste Wissen, daß, sobald ihre irdische Freude zu den Grenzen der irdischen Natur gelangt sei, für sie eine noch größere Steigerung der Beziehungen zum Universum eintrete. Sie erwarteten diesen Augenblick mit Freude, aber ohne Ungeduld, ohne sich mit Schmerz nach ihm zu sehnen, sondern sie schienen ihn schon in ihren Herzen zu ahnen und machten einander von diesen Ahnungen Mitteilung. Wenn sie abends hingingen, um sich schlafen zu legen, sangen sie gern harmonische, wohlklingende Chorlieder. In diesen Liedern gaben sie alle ihre Gefühle wieder, die der scheidende Tag in ihnen erregt hatte, priesen ihn und nahmen von ihm Abschied. Sie priesen die Natur, die Erde, das Meer, die Wälder. Sie verfaßten gern Lieder aufeinander und lobten einander wie Kinder; das waren ganz einfache Lieder; aber sie kamen aus dem Herzen und fanden den Weg zum Herzen. Und nicht nur in den Liedern priesen sie einander, sondern auch ihr ganzes Leben füllten sie, wie es schien, damit aus, daß sie einander liebten und bewunderten. Es war eine Art von wechselseitiger, allgemeiner, gemeinschaftlicher Verliebtheit. Manche ihrer triumphierenden, begeisterten Lieder blieben mir überhaupt fast unverständlich. Obwohl ich die Worte verstand, konnte ich doch nie in ihren ganzen Sinn eindringen. Der Sinn blieb für meinen Verstand unfaßbar; dafür drang er mir tief ins Herz, und zwar immer mehr und mehr. Ich sagte ihnen oft, ich hätte das alles früher schon längst geahnt; diese ganze Freude und Herrlichkeit habe sich mir schon auf unserer Erde durch eine süße Sehnsucht kundgetan, die sich zeitweilig bis zu unerträglichem Leide gesteigert habe; ich hätte sie alle und ihre Herrlichkeit in den Träumen meines Herzens und in den Phantasien meines Verstandes geahnt; ich hätte auf unserer Erde oft nicht ohne Tränen in die untergehende Sonne blicken können. Mit meinem Hasse gegen die Menschen unserer Erde sei immer ein Gefühl des Grames verbunden gewesen: ich hätte mich gefragt, warum ich sie nicht hassen könne, ohne sie zu lieben; warum ich nicht umhin könne ihnen zu verzeihen, aber bei meiner Liebe zu ihnen doch Gram empfände; warum ich sie nicht hassend lieben könne? Sie hörten mich an, und ich sah, daß sie sich das, was ich sagte, nicht vorstellen konnten; aber ich bedauerte nicht, es ihnen gesagt zu haben: ich wußte, daß sie meinen Gram um diejenigen, die ich verlassen hatte, in seiner ganzen Größe begriffen. Ja, wenn sie mich mit ihrem freundlichen, von Liebe erfüllten Blicke ansahen, wenn ich fühlte, daß im Verkehr mit ihnen auch mein Herz ebenso unschuldig und rechtschaffen wurde wie die ihrigen, dann bedauerte ich es nicht, daß ich sie nicht verstand. Ich konnte kaum atmen vor der Empfindung der Fülle des Lebens, und ich betete schweigend für sie.
O, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, solche Einzelheiten, wie ich sie jetzt wiedergäbe, könne man nicht einmal träumen; ich hätte in meinem Traume nur eine einzige Empfindung gehabt, die durch mein eigenes Herz in seinem irren Phantasieren hervorgerufen worden sei; die Einzelheiten aber hätte ich selbst erst nach dem Erwachen erdacht. Und als ich ihnen gestand, daß es vielleicht wirklich so zugegangen sei, – o Gott, was schlugen sie da für ein Gelächter auf, und zu welcher Heiterkeit verhalf ich ihnen! O ja, allerdings hatte mich nur die eine Empfindung jenes Traumes überwältigt, und nur sie allein hatte sich in meinem wunden, blutenden Herzen erhalten; die wirklichen Bilder und Formen meines Traumes aber, daß heißt diejenigen, die ich tatsächlich gerade während des Träumens sah, waren von einer so vollkommenen Harmonie, von einer so bezaubernden Schönheit und Wahrheit, daß ich nach dem Erwachen nicht imstande war, sie durch unsere schwachen Worte zu verkörpern; sie vergingen und verschwanden daher notwendigerweise in meinem Geiste, und ich war infolgedessen wirklich vielleicht selbst unbewußterweise gezwungen, die Einzelheiten nachher dichterisch zu rekonstruieren, wobei ich sie allerdings entstellte, namentlich da ich leidenschaftlich wünschte, sie so schnell wie möglich und wenigstens einigermaßen wiederzugeben. Aber andrerseits, wie kann man sich weigern mir zu glauben, daß alles sich so verhielt? Vielleicht war es noch tausendmal besser, schöner, freudevoller, als ich es schildere? Mag es ein Traum gewesen sein; aber es war doch nicht möglich, daß das alles nicht gewesen sein sollte. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: vielleicht war das alles überhaupt kein Traum? Denn dort begab sich etwas Derartiges, etwas so erschreckend Wahrhaftiges, daß man es gar nicht hätte bloß träumen können. Mag auch mein Herz den Traum erzeugt haben; aber war denn mein Herz allein imstande, jenen schrecklichen wahren Vorgang zu erzeugen, der sich dann mit mir zutrug? Wie hätte ich allein diesen ausdenken oder mit dem Herzen träumen können? Konnten etwa mein kleinliches Herz und mein launenhafter, wertloser Verstand sich zu einer solchen Offenbarung der Wahrheit emporschwingen? O, urteilen Sie selbst: ich habe es bisher verschwiegen; aber jetzt will ich auch diese Wahrheit aussprechen. Die Sache ist die, daß ich … sie alle verdarb!
Ja, ja, es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie sich das vollziehen konnte, das weiß ich nicht; aber an die Sache selbst erinnere ich mich deutlich. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ bei mir nur eine Gesamtempfindung. Ich weiß nur, daß die Ursache des Sündenfalles ich war. Wie eine garstige Trichine, wie ein Pestatom das ganze Reiche infiziert, so infizierte auch ich mit mir diese ganze vor meiner Ankunft so glückliche, sündlose Erde. Sie lernten lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. O, das begann vielleicht ganz harmlos, mit Scherz, mit Koketterie, mit verliebtem Spiel, wirklich vielleicht mit einem Atom; aber dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen ein und gefiel ihnen. Darauf entstand schnell Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit erzeugte Eifersucht, die Eifersucht Grausamkeit … O, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht; aber bald, sehr bald floß das erste Blut: sie staunten und erschraken und begannen sich voneinander zu trennen und abzusondern. Es bildeten sich Vereinigungen; aber diese richteten nun schon ihre Spitze gegeneinander. Es fingen Vorwürfe und Beschuldigungen an. Sie lernten die Scham kennen und erhoben die Scham zu einer Tugend. Es bildete sich der Begriff der Ehre heraus und erhob in jeder Vereinigung seine Fahne. Sie begannen die Tiere zu quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen in die Wälder und wurden ihre Feinde. Es begann der Streit um die Trennung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um das Mein und Dein. Sie fingen an in verschiedenen Sprachen zu reden. Sie lernten das Leid kennen und gewannen das Leid lieb; sie dürsteten nach Qual und sagten, die Wahrheit lasse sich nur durch Qual erreichen. Damals erschien bei ihnen auch die Wissenschaft. Als sie schlecht geworden waren, fingen sie an von Brüderlichkeit und Humanität zu reden und verstanden diese Ideen. Als sie Verbrecher geworden waren, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich ganze Gesetzbücher, um die Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten, und stellten, um die Gesetzbücher zu sichern, die Guillotine auf. Sie erinnerten sich kaum noch an das, was sie verloren hatten, und wollten nicht einmal daran glauben, daß sie jemals unschuldig und glücklich gewesen seien. Sie spotteten sogar über die Vorstellung von diesem ihrem früheren Glücke und nannten sie ein Hirngespinst. Sie konnten sich nicht einmal von der Art und Weise dieses Glückes ein Bild machen; aber es begab sich etwas Seltsames und Wunderliches: obwohl sie jeden Glauben an das frühere Glück verloren hatten und dieses ein Märchen nannten, begehrten sie doch dermaßen von neuem unschuldig und glücklich zu sein, daß sie sich vor dem Wunsche ihres Herzens wie Kinder hinwarfen, diesen Wunsch vergötterten, ihm Tempel erbauten und anfingen zu ihrer eigenen Idee, zu ihrem eigenen »Wunsche« zu beten; und während sie von der Unmöglichkeit der Erfüllung und Verwirklichung dieses Wunsches vollkommen überzeugt waren, vergötterten sie ihn doch gleichzeitig unter Tränen und beugten die Knie vor ihm. Und doch, wenn es sich hätte begeben können, daß sie zu dem verlorenen Zustande der Unschuld und des Glückes zurückgekehrt wären, und wenn jemand ihn ihnen von neuem gezeigt und sie gefragt hätte, ob sie zu ihm zurückkehren wollten, – so hätten sie diese Frage bestimmt verneint. Sie antworteten mir: »Mögen wir auch Lügner, Bösewichte und Ungerechte sein, wir wissen das und weinen darüber und quälen uns deswegen selbst, und wir martern und bestrafen uns vielleicht sogar mehr, als es jener barmherzige Richter tun wird, der uns richten wird, und dessen Namen wir nicht kennen. Aber wir haben die Wissenschaft, und durch sie werden wir die Wahrheit von neuem finden; aber dann werden wir sie mit Bewußtsein aufnehmen. Das Wissen steht höher als das Gefühl, die Erkenntnis des Lebens höher als das Leben. Die Wissenschaft wird uns Weisheit geben; die Weisheit wird die Gesetze aufdecken; die Kenntnis der Gesetze des Glückes aber steht höher als das Glück.« So redeten sie zu mir, und nach solchen Worten liebte jeder sich selbst mehr als alle andern, und sie konnten überhaupt nicht anders handeln. Jeder war mit solcher Eifersucht auf die Wahrung seiner Persönlichkeit bedacht, daß er sich mit aller Kraft bemühte, die Persönlichkeit der anderen zu erniedrigen und klein zu machen; und darein setzte er seine Lebensaufgabe. Es kam die Sklaverei auf; es kam sogar eine freiwillige Sklaverei auf: die Schwachen ordneten sich willig den Stärksten unter und bedangen sich dabei nur aus, daß diese ihnen helfen sollten, noch Schwächere, als sie selbst waren, zu unterdrücken. Es traten Gerechte auf, die zu diesen Menschen kamen und mit Tränen zu ihnen von ihrem Stolze, von dem Verluste des rechten Maßes und der Harmonie und von dem Verluste der Scham redeten. Man spottete über sie oder steinigte sie. Heiliges Blut floß auf den Schwellen der Tempel. Dafür aber erschienen Leute, die sich eine Art und Weise auszudenken versuchten, wie alle sich wieder so vereinigen könnten, daß ein jeder, ohne daß er aufzuhören brauchte sich selbst mehr als alle andern zu lieben, gleichzeitig keinen andern störe und auf diese Art alle wie in einer einträchtigen Gesellschaft zusammen lebten. Ganze Kriege entstanden infolge dieser Idee. Alle Kriegführenden glaubten zu gleicher Zeit fest, daß die Wissenschaft, die Weisheit und der Trieb der Selbsterhaltung die Menschen endlich dazu zwingen würden, sich zu einer einträchtigen, vernünftigen Gesellschaft zu vereinigen; und darum bemühten sich einstweilen zur Beschleunigung der Sache die »Weisen«, möglichst schnell alle »Unweisen«, die ihre Idee nicht begriffen, auszurotten, damit sie dem Triumphe der Idee nicht hinderlich wären. Aber der Trieb der Selbsterhaltung wurde bald schwächer; es traten stolze, sinnliche Männer auf, die geradezu alles oder nichts forderten. Um alles zu erlangen, griffen sie zur Übeltat, und wenn es ihnen nicht glückte, zum Selbstmord. Es entstanden Religionen mit dem Kultus des Nichtseins und der Selbstvernichtung zum Zwecke der ewigen Ruhe im Nichts. Endlich wurden diese Menschen bei ihrer sinnlosen Bemühung müde, und auf ihren Gesichtern erschien der Ausdruck des Leidens, und diese Leute verkündeten, das Leiden sei Schönheit; denn nur im Leiden liege Sinn. Sie besangen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging händeringend unter ihnen umher und weinte über sie; aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als früher, wo auf ihren Gesichtern noch kein Ausdruck des Leidens lag und sie so unschuldig und so schön waren. Ich liebte ihre von ihnen entweihte Erde noch mehr als zu der Zeit, wo sie ein Paradies war, und nur weil auf ihr das Leid erschienen war. Ach, ich hatte immer Leid und Gram geliebt, aber nur für mich, für mich; aber über sie weinte ich, da ich sie bemitleidete. Die Arme nach ihnen ausstreckend, beschuldigte, verfluchte und verachtete ich in meiner Verzweiflung mich selbst. Ich sagte ihnen, ich sei es, der dies alles angerichtet habe, ich allein; ich hätte ihnen Sittenverderbnis, Ansteckung und Lüge gebracht! Ich flehte sie an, mich ans Kreuz zu schlagen; ich unterwies sie, wie man ein Kreuz macht. Ich vermochte nicht, ich hatte nicht die Kraft, mich selbst zu töten; aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen; ich dürstete nach Qualen; ich dürstete danach, in diesen Qualen mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen. Aber sie lachten nur über mich und hielten mich schließlich für einen Halbverrückten. Sie verteidigten mich, indem sie sagten, sie hätten nur das empfangen, was sie sich selbst gewünscht hätten, und alles, was jetzt bestände, habe sich mit innerer Notwendigkeit so gestaltet. Zuletzt erklärten sie mir, ich würde ihnen gefährlich, und sie würden mich ins Irrenhaus setzen, wenn ich nicht schwiege. Da drang der Gram mit solcher Gewalt in meine Seele, daß mein Herz sich zusammenzog und ich sterben zu müssen glaubte … nun, und da erwachte ich.
Es war schon Morgen; das heißt, hell geworden war es noch nicht; aber es war zwischen fünf und sechs Uhr. Ich kam zum Bewußtsein in jenem selben Lehnstuhl; meine Kerze war ganz heruntergebrannt; beim Hauptmann schliefen alle, und ringsum herrschte eine Stille, wie sie in unserer Wohnung nur selten vorkam. Das erste, was ich tat, war, daß ich im höchsten Erstaunen aufsprang; noch nie war mir etwas Ähnliches begegnet, nicht einmal, was unbedeutende Einzelheiten betraf: zum Beispiel war ich noch nie so in meinem Lehnstuhl eingeschlafen. Dann, während ich dastand und meine Gedanken sammelte, sah ich plötzlich vor mir meinen geladenen, schußfertigen Revolver schimmern; aber im nächsten Augenblick stieß ich ihn von mir! O, jetzt hatte ich das Leben nötig, das Leben! Ich hob die Arme in die Höhe und rief die ewige Wahrheit an; aber Tränen erstickten meine Stimme; Begeisterung, unermeßliche Begeisterung erhob mein ganzes Wesen. Ja, leben und – verkündigen! O, ein Verkündiger zu werden, beschloß ich gleich in jenem Augenblicke, und zwar natürlich fürs ganze Leben! Ich werde hingehen, um zu verkündigen; ich will verkündigen, – was? Die Wahrheit; denn ich habe sie gesehen; ich habe sie mit meinen Augen gesehen; ich habe ihre ganze Herrlichkeit gesehen!
Und seitdem verkündige ich nun! Ich füge hinzu: ich liebe alle, die über mich lachen, mehr als alle übrigen. Warum ich das tue, das weiß ich nicht und kann ich nicht erklären; aber mag es meinetwegen so sein! Sie sagen, ich ginge auch jetzt schon fehl, und wenn ich jetzt schon so fehlginge, was werde dann erst in Zukunft geschehen? Um die reine Wahrheit zu sagen: ich gehe fehl, und vielleicht wird es in Zukunft noch schlimmer werden. Sicherlich werde ich noch mehrmals fehlgehen, bis ich gefunden haben werde, wie man verkündigen muß, das heißt mit welchen Worten und mit welchen Taten; denn das richtig auszuführen, ist sehr schwer. Ich sehe ja auch jetzt das alles sonnenklar; aber hören Sie: wer geht denn nicht fehl? Und dabei gehen doch alle nach ein und demselben Ziele; wenigstens streben alle nach ein und demselben Ziele, von dem Weisen bis zu dem gemeinsten Räuber, nur auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit; aber neu ist dabei dies: ich kann gar nicht so sehr fehlgehen. Denn ich habe die Wahrheit gesehen; ich habe sie gesehen und weiß, daß die Menschen schön und glücklich sein können, ohne daß sie darum die Fähigkeit, auf der Erde zu leben, verloren zu haben brauchen. Ich will und kann nicht glauben, daß das Böse der normale Zustand der Menschen sei. Alle lachen jedoch nur über diesen meinen Glauben. Aber wie kann sich jemand weigern, mir zu glauben: ich habe ja die Wahrheit gesehen, – nicht daß ich sie mit dem Verstande erfunden hätte, sondern ich habe sie gesehen, wirklich gesehen, und ihre lebende Gestalt hat meine Seele auf ewig erfüllt. Ich habe sie in so vollendeter Totalität gesehen, daß ich nicht glauben kann, sie wäre bei den Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Und wie soll ich denn eigentlich fehlgehen? Ich werde ein wenig seitwärts geraten, gewiß, sogar öfters, und werde vielleicht sogar mit ungeeigneten Worten reden, aber nicht auf lange: die lebende Gestalt dessen, was ich gesehen habe, wird mich immer begleiten und mich immer wieder auf den richtigen Weg bringen und meine Schritte lenken. O, ich bin mutig, ich bin frisch; ich werde hingehen, ich werde hingehen, und wäre es auch auf tausend Jahre. Wissen Sie, ich wollte es sogar anfangs verheimlichen, daß ich sie alle verdorben habe; aber das wäre ein Fehler gewesen, – gleich der erste Fehler! Aber die Wahrheit flüsterte mir zu, daß ich im Begriff sei zu lügen, und bewahrte mich und hielt mich auf rechter Bahn. Aber wie das Paradies herzustellen sei, das weiß ich nicht, weil ich nicht verstehe, es mit Worten darzustellen. Nach meinem Traume sind mir die richtigen Worte abhanden gekommen. Wenigstens die wichtigsten Worte, die notwendigsten. Aber mag das auch sein, ich werde hingehen und werde immer reden, unermüdlich; denn ich habe es doch mit meinen Augen gesehen, wenn ich auch nicht verstehe, das Gesehene mit Worten wiederzugeben. Aber gerade das können die Spötter nicht begreifen: »Er hat geträumt,« sagen sie, »hat phantasiert, eine Halluzination gehabt.« Ach so ein Gerede! Ist denn das weise? Und sie sind so stolz! Ein Traum? Was ist denn ein Traum? Ist nicht unser Leben ein Traum? Ja, ich will noch mehr sagen: angenommen auch, daß sich das nie verwirklichen wird und das Paradies unmöglich ist (das sehe ich ja auch schon selbst ein!) – nun, so werde ich meine Lehre dennoch verkündigen. Aber dabei wäre es doch so einfach: an einem einzigen Tage, in einer einzigen Stunde könnte alles mit einemmal in Ordnung kommen! Die Hauptsache ist: liebe die andern wie dich selbst; das ist die Hauptsache, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: dann wirst du sofort wissen, was du zu tun hast. Und dabei ist das ja nur eine alte Wahrheit, die billionenmal wiederholt und gelesen, aber doch den Menschen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist! »Die Erkenntnis des Lebens steht höher als das Leben, die Kenntnis der Gesetze des Glückes höher als das Glück«, das ist die Anschauung, die bekämpft werden muß! Und ich werde sie bekämpfen.Wenn nur alle wollen, dann wird alles sogleich in Ordnung kommen.
Aber jenes kleine Mädchen habe ich ausfindig gemacht … Und ich werde hingehen! Ich werde hingehen!