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Am Morgen erzählte mir Nelly von dem gestrigen Besuch ziemlich seltsame Dinge. Übrigens war schon sonderbar, daß Masslobojew auf den Gedanken gekommen war, gerade an diesem Abend bei mir vorzusprechen; er hatte doch sicherlich gewußt, daß ich nicht zu Hause sein würde; ich hatte ihm das, wie ich mich sehr genau erinnerte, bei unserm letzten Zusammensein selbst mitgeteilt. Nelly erzählte, sie habe ihm anfänglich nicht öffnen wollen, weil sie sich gefürchtet habe; es sei schon acht Uhr abends gewesen. Aber er habe sie durch die verschlossene Tür inständig gebeten und versichert, wenn er mir jetzt nicht einen Zettel daließe, so würde ich morgen infolgedessen Unannehmlichkeiten haben. Als sie ihn eingelassen habe, habe er sogleich den Zettel geschrieben, sei dann zu ihr getreten und habe sich neben sie auf das Sofa gesetzt. »Ich stand auf und wollte nicht mit ihm reden«, erzählte Nelly; »ich fürchtete mich sehr vor ihm; er fing an, von der Bubnowa zu sprechen, daß sie jetzt sehr ärgerlich sei, daß sie aber nicht mehr wagen werde, mich zurückzuholen; und dann lobte er Sie und sagte, sie seien sehr gute Freunde und hätten einander schon als Knaben gekannt. Da fing ich an mit ihm zu reden. Er zog Konfekt heraus und bat mich, es zu nehmen; ich wollte nicht; da versicherte er mir, er sei ein guter Mensch und könne Lieder singen und tanzen; er sprang auf und fing an zu tanzen. Da mußte ich lachen. Darauf sagte er, er wolle noch ein Weilchen sitzen bleiben; ›ich will auf Wanja warten‹, sagte er; ›vielleicht kommt er bald nach Hause.‹ Und er bat mich sehr, ich möchte mich nicht fürchten und mich neben ihn setzen. Ich setzte mich neben ihn, wollte aber nicht mit ihm reden. Da sagte er zu mir, er habe meine Mama und meinen Großvater gekannt, und . . . da fing ich an zu reden. Und er saß lange da . . .«
»Wovon habt ihr denn miteinander geredet?«
»Von Mama . . . von der Bubnowa . . . vom Großvater. Er hat wohl zwei Stunden lang hier gesessen.«
Nelly schien mir nicht erzählen zu wollen, wovon sie gesprochen hatten. Ich fragte sie nicht weiter, da ich alles von Masslobojew zu erfahren hoffte. Es schien mir nur, daß Masslobojew absichtlich in meiner Abwesenheit gekommen war, um Nelly allein zu treffen. ›Was mag er dabei für einen Zweck gehabt haben?‹ dachte ich.
Sie zeigte mir die drei Stückchen Konfekt, die er ihr gegeben hatte. Es waren Bonbons in grünem und rotem Papier, gräßliches Zeug, das er wahrscheinlich in einem Kramladen gekauft hatte. Nelly lachte, als sie sie mir zeigte.
»Warum hast du sie nicht gegessen?« fragte ich.
»Ich will nicht«, antwortete sie ernst, mit zusammengezogenen Brauen. »Ich habe sie auch nicht von ihm angenommen; er hat sie selbst aufs Sofa gelegt und liegenlassen.«
An diesem Tag hatte ich viele Gänge vor. Ich begann, mich von Nelly zu verabschieden.
»Langweilst du dich, wenn du allein bist?« fragte ich sie, im Begriff fortzugehen.
»Ja und nein. Ich langweile mich, weil Sie so lange nicht da sind.«
Und bei diesen Worten sah sie mich mit solcher Liebe an! Diesen ganzen Morgen über hatte sie mich mit demselben zärtlichen Blick angesehen und hatte den Eindruck der Fröhlichkeit und Freundlichkeit gemacht; gleichzeitig aber lag in ihrem Benehmen etwas Verschämtes, sogar Ängstliches, als fürchte sie, mich durch etwas zu ärgern, mein Wohlwollen zu verlieren und . . . und zuviel zu sagen, gerade als ob sie sich dessen schäme.
»Und inwiefern langweilst du dich nicht? Du hast ja auf meine Frage, ob du dich langweilst, geantwortet: ›Ja und nein‹«, fragte ich; unwillkürlich lächelte ich ihr zu, so lieb und wert war sie mir geworden.
»Das möchte ich nicht sagen«, erwiderte sie lächelnd und wieder mit dem Ausdruck der Verschämtheit.
Wir sprachen auf der Schwelle, an der geöffneten Tür. Nelly stand vor mir mit niedergeschlagenen Augen; mit der einen Hand hielt sie mich an der Schulter gefaßt, mit der andern zupfte sie am Ärmel meines Rockes.
»Nun? Ist es ein Geheimnis?« fragte ich.
»Nein . . . das nicht gerade . . . ich . . . ich habe, während Sie fort waren, angefangen, Ihr Buch zu lesen«, sagte sie halblaut; sie hob die Augen in die Höhe, richtete einen zärtlichen, fragenden Blick auf mich und errötete über das ganze Gesicht.
»Ah, sieh mal an! Nun, gefällt es dir?«
Ich empfand die Verlegenheit eines Autors, der ins Gesicht gelobt wird; aber ich hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn ich sie in diesem Augenblick hätte küssen können. Aber das war eben nicht möglich. Nelly schwieg einen Augenblick.
»Warum, warum ist er gestorben?« fragte sie mit tieftraurigem Gesicht, indem sie mir einen hastigen Blick zuwarf und schnell wieder die Augen niederschlug.
»Wer denn?«
»Nun er, der junge Mann, an der Schwindsucht . . . in dem Buch?«
»Was war zu machen? Es war notwendig, Nelly.«
»Nein, es war durchaus nicht notwendig«, antwortete sie leise, fast flüsternd; aber sie stieß die Worte schroff, beinahe ärgerlich heraus, warf die Lippen auf und richtete die Augen noch hartnäckiger auf den Fußboden.
So verging noch eine Minute.
»Aber die beiden andern . . . das Mädchen und der alte Mann«, flüsterte sie, während sie immer stärker an meinem Ärmel herumzupfte, »werden die nun zusammenleben? Und werden sie nicht so arm bleiben?«
»Nein, Nelly; sie zieht weit fort und heiratet einen Gutsbesitzer; er aber bleibt allein zurück«, antwortete ich mit größtem Bedauern; es tat mir wirklich leid, daß ich ihr nichts Tröstlicheres sagen konnte.
»Ach, Herrgott . . . das ist ja schrecklich! Ach, wie Sie aber auch sind! . . . Nun will ich gar nicht weiterlesen!«
Ärgerlich stieß sie meinen Arm von sich, wandte sich schnell von mir ab, ging zum Tisch und blieb dort stehen, mit dem Gesicht nach der Zimmerecke zu, die Augen auf den Boden geheftet. Sie war dunkelrot geworden und atmete ungleichmäßig, wie wenn jemand sie furchtbar gekränkt hätte.
»Laß gut sein, Nelly; du bist ja ganz böse geworden!« begann ich, zu ihr tretend. »Das ist ja alles nicht wahr, was da geschrieben steht . . . nur ausgesonnen; na, was gibt es da böse zu sein! Was bist du für ein empfindsames Mädchen!«
»Ich bin nicht böse«, sagte sie schüchtern und sah mit einem hellen, liebevollen Blick zu mir auf; dann ergriff sie plötzlich meine Hand, drückte ihr Gesicht an meine Brust und fing an zu weinen.
Aber im selben Augenblick lachte sie auch auf: sie weinte und lachte, alles zugleich. Ich verspürte ebenfalls sowohl Lachlust als auch . . . ein Art von süßem Gefühl. Aber sie wollte um keinen Preis ihren Kopf zu mir in die Höhe heben, und als ich mich anschickte, ihr Gesichtchen von meiner Schulter loszulösen, schmiegte sie sich immer fester und fester daran an und lachte immer stärker.
Endlich endete diese empfindsame Szene. Wir nahmen voneinander Abschied; ich eilte davon. Nelly, deren Gesicht ganz von roter Glut übergossen war und immer noch den Ausdruck der Verschämtheit trug und deren Augen wie Sterne leuchteten, lief mir bis auf die Treppe nach und bat mich, recht bald wieder nach Hause zu kommen. Ich versprach, jedenfalls zum Mittagessen zurück zu sein und, wenn es ginge, noch früher.
Zuerst ging ich zu den beiden alten Leuten. Sie waren beide unpäßlich. Anna Andrejewna war geradezu krank; Nikolai Sergejewitsch befand sich in seinem Zimmer. Er hatte gehört, daß ich gekommen war; aber ich wußte, daß er nach seiner Gewohnheit, um uns Zeit zur Aussprache zu lassen, erst nach einer Viertelstunde zu uns hereinkommen werde. Ich wollte Anna Andrejewna nicht zu sehr aufregen und schwächte darum meinen Bericht über den gestrigen Abend nach Möglichkeit ab, sagte aber doch die Wahrheit; zu meiner Verwunderung nahm aber die alte Frau, wenn sie auch betrübt wurde, doch die Nachricht von einem möglichen Bruch ohne Erstaunen auf.
»Na, lieber Freund, das hatte ich mir schon gedacht«, sagte sie. »Als du damals weggegangen warst, habe ich lange über die Sache nachgedacht und kam zu dem Resultat, daß nichts daraus werden kann. Wir haben es nicht verdient, daß uns Gott eine solche Wohltat erweist; und dann ist das auch ein so gemeiner Mensch; kann man etwa von dem etwas Gutes erwarten? Es ist kein Spaß, daß er uns zehntausend Rubel wegnimmt, die ihm nicht zukommen; er weiß, daß sie ihm nicht zukommen, und nimmt sie uns dennoch weg. Unser letztes Stück Brot raubt er uns; Ichmenewka wird verkauft. Natascha handelt nur gerecht und klug, daß sie ihm nicht getraut hat. Und noch eins, lieber Freund«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, »mein Mann, mein Mann! Er ist durchaus gegen diese Heirat. Er ließ so ein Wort fallen: ›Ich will es nicht‹, sagte er. Ich dachte anfangs, das wäre nur so eine Kaprice von ihm; aber nein, es ist ihm ganz Ernst damit. Was würde dann aus meinem Töchterchen werden? Er würde sie ja ganz und gar verfluchen. Na, und er, dieser Aljoscha, wie stellt er sich dazu?«
Noch lange fragte sie mich aus und stöhnte und wehklagte nach ihrer Gewohnheit bei jeder meiner Antworten. Überhaupt hatte ich bemerkt, daß sie in der letzten Zeit ganz haltlos geworden war. Jede Nachricht erschütterte sie. Der Kummer um Natascha nagte ihr am Herzen und untergrub ihre Gesundheit.
Der Alte kam herein, in Schlafrock und Pantoffeln; er klagte über Fieber, sah aber seine Frau zärtlich an, sorgte die ganze Zeit über, während ich bei ihnen war, wie eine Wärterin für sie, blickte ihr in die Augen und wurde sogar vor ihr verlegen. Eine große Zärtlichkeit lag in seinen Blicken. Er war in Angst über ihre Krankheit; er fühlte, daß er alles im Leben verlieren würde, wenn er sie verlöre.
Ich saß bei ihnen ungefähr eine Stunde lang. Beim Abschied kam er mir bis ins Vorzimmer nach und begann von Nelly zu reden. Er dachte ernstlich daran, sie als Tochter zu sich ins Haus zu nehmen. Er wollte mich um Rat fragen, wie man Anna Andrejewna diesem Plan geneigt machen könne. Mit besonderem Interesse befragte er mich über Nelly, und ob ich über sie noch nichts Neues gehört hätte. Ich erzählte ihm in Kürze das Geschehene. Meine Erzählung machte auf ihn einen großen Eindruck.
»Wir reden noch darüber«, sagte er in resolutem Ton; »inzwischen aber . . . übrigens werde ich selbst zu dir kommen, sobald sich nur meine Gesundheit ein bißchen gebessert haben wird. Dann wollen wir unsere Entscheidung treffen.«
Punkt zwölf war ich bei Masslobojew. Die erste Person, die ich erblickte, als ich bei ihm eintrat, war zu meinem größten Erstaunen der Fürst. Er zog sich im Vorzimmer den Mantel an; Masslobojew half ihm geschäftig dabei und reichte ihm seinen Stock hin. Er hatte mir gegenüber schon seiner Bekanntschaft mit dem Fürsten Erwähnung getan; aber doch überraschte mich diese Begegnung außerordentlich.
Der Fürst schien verlegen zu werden, als er mich erblickte.
»Ah, Sie sind es!« rief er mit übertriebener Herzlichkeit. »Nun sehen Sie, was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Übrigens hatte ich soeben schon von Herrn Masslobojew erfahren, daß Sie mit ihm bekannt sind. Ich freue mich, freue mich außerordentlich, Sie getroffen zu haben; ich habe den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen, und gedenke, so bald wie möglich einmal zu Ihnen zu kommen; Sie erlauben es mir doch? Ich habe eine Bitte an Sie: helfen Sie mir; erklären Sie mir unsere jetzige Situation! Sie verstehen gewiß, daß ich von den gestrigen Vorgängen rede. Sie sind dort befreundet; Sie haben den ganzen Gang dieser Angelegenheit verfolgt; Sie haben Einfluß . . . Ich bedaure außerordentlich, daß ich mich nicht gleich jetzt mit Ihnen unterreden kann . . . Geschäfte! Aber in einigen Tagen, und vielleicht sogar schon früher, werde ich mir das Vergnügen machen, Sie zu besuchen. Jetzt aber . . .«
Er drückte mir gar zu innig die Hand, wechselte mit Masslobojew einen Blick und ging hinaus.
»Sage mir um Gottes willen . . .« begann ich, indem ich ins Zimmer trat.
»Nichts, gar nichts werde ich dir sagen«, unterbrach mich Masslobojew, der eilig nach seiner Mütze griff und sich nach dem Vorzimmer zu wandte. »Bin geschäftlich verhindert! Ich muß selbst laufen, lieber Freund; ich habe mich schon verspätet! . . .«
»Aber du hast mir doch selbst geschrieben, ich sollte um zwölf Uhr . . .«
»Was folgt daraus, daß ich das geschrieben habe? Gestern habe ich dir das geschrieben, und heute haben andre Leute mir etwas geschrieben, wovon mir der Kopf brummt; so viel habe ich zu tun! Man wartet schon auf mich. Verzeih, Wanja! Alles, was ich dir als Genugtuung anbieten kann, ist die Erlaubnis, mich dafür durchzuprügeln, daß ich dich vergeblich herbemüht habe. Wenn du diese Genugtuung haben willst, so prügle mich, aber um Gottes willen recht schnell! Halte mich nicht auf; ich habe Geschäfte; man wartet auf mich . . .«
»Wozu soll ich dich denn durchprügeln? Wenn dich deine Geschäfte rufen, so eile hin; eine unvorhergesehene Abhaltung kann jedem Menschen vorkommen. Nur . . .«
»Nein, von diesem ›nur‹ werde ich schon noch mit dir reden«, unterbrach er mich, indem er ins Vorzimmer lief und sich den Mantel anzog (ich folgte ihm und zog mich ebenfalls wieder an). »Ich habe auch eine Angelegenheit, die dich angeht; eine sehr wichtige Angelegenheit; um ihretwillen hatte ich dich auch herbestellt; sie betrifft ganz direkt dich und deine Interessen. Aber da ich es dir jetzt in einem Augenblick nicht auseinandersetzen kann, so gib mir, bitte, dein Wort darauf, daß du heute Punkt sieben zu mir kommen wirst, nicht früher und nicht später. Ich werde zu Hause sein.«
»Heute«, erwiderte ich unentschlossen, »weißt du, lieber Freund, heute abend wollte ich eigentlich woanders hingehen . . .«
»Dann geh jetzt gleich dahin, mein Bester, wo du am Abend hingehen wolltest, und komm am Abend zu mir! Denn du kannst dir gar nicht vorstellen, Wanja, was für Dinge ich dir mitzuteilen habe.«
»Nun, meinetwegen, meinetwegen; was kann das nur sein? Ich muß gestehen, du hast mich neugierig gemacht.«
Unterdessen traten wir aus dem Tor des Hauses und blieben auf dem Trottoir stehen.
»Also, wirst du kommen?« fragte er im Ton dringlicher Bitte.
»Ich habe ja schon gesagt, daß ich kommen werde.«
»Nein, gib mir dein Ehrenwort!«
»Nanu! Was bist du für ein wunderlicher Mensch! Nun also, Ehrenwort!«
»Sehr nett und edel von dir! Nach welcher Seite gehst du?«
»Dorthin«, antwortete ich, nach rechts zeigend.
»Na, und ich muß hierhin«, erwiderte er, nach links zeigend. »Adieu, Wanja. Vergiß nicht: um sieben Uhr!«
›Sonderbar!‹ dachte ich, während ich ihm nachsah.
Am Abend hatte ich bei Natascha sein wollen. Aber da ich jetzt Masslobojew mein Wort gegeben hatte, so beschloß ich, mich jetzt gleich zu ihr zu begeben. Ich war überzeugt, daß ich Aljoscha bei ihr finden würde. Er war tatsächlich da und freute sich sehr, als ich eintrat.
Er war gegen Natascha sehr liebenswürdig und außerordentlich zärtlich und wurde infolge meiner Ankunft ganz vergnügt. Natascha suchte zwar heiter zu scheinen, aber es war deutlich, daß sie sich Zwang antat. Ihr Gesicht sah kränklich und blaß aus; sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Aljoscha gegenüber zeigte sie eine erzwungene Freundlichkeit.
Aljoscha redete und erzählte zwar viel, anscheinend in der Absicht, sie aufzuheitern und ihren unwillkürlich ernst zusammengedrückten Lippen ein Lächeln abzugewinnen, aber er vermied es sichtlich, im Gespräch Katja und seinen Vater zu erwähnen. Wahrscheinlich war ihm sein gestriger Versöhnungsversuch mißlungen.
»Weißt du was?« flüsterte mir Natascha eilig zu, als er für einen Augenblick hinausgegangen war, um Mawra etwas zu sagen. »Er möchte sehr gern von mir weggehen; aber er fürchtet sich. Und ich selbst fürchte mich, ihm zu sagen, daß er fortgehen möchte, weil er dann womöglich absichtlich nicht fortgeht; und am allermeisten fürchte ich, daß er sich unbehaglich fühlt und infolgedessen seine Liebe zu mir ganz erkaltet! Was soll ich nur tun?«
»Mein Gott, in was für eine Lage bringt ihr euch selbst! Und wie argwöhnisch seid ihr; wie paßt ihr einer auf den andern auf! Sprecht euch doch einfach aus, und damit fertig! Diese Situation wird vielleicht zur Folge haben, daß er sich tatsächlich unbehaglich fühlt.«
»Was soll ich nur tun?« rief sie ängstlich.
»Warte, ich werde euch die Sache in Ordnung bringen . . .«
Ich ging in die Küche unter dem Vorwand, Mawra zu bitten, sie möchte mir den einen meiner Überschuhe, der sehr schmutzig geworden war, abwischen.
»Nur recht vorsichtig, Wanja!« rief Natascha mir nach.
Kaum war ich zu Mawra in die Küche gekommen, als Aljoscha, wie wenn er auf mich gewartet hätte, auf mich zustürzte.
»Bester Iwan Petrowitsch, was soll ich nur anfangen? Raten Sie mir: ich habe schon gestern mein Wort gegeben, heute zu Katja zu kommen, gerade zu dieser Tageszeit. Ich kann doch nicht ausbleiben! Ich liebe Natascha unsäglich und bin bereit, für sie durchs Feuer zu gehen; aber sagen Sie selbst, den Verkehr dort ganz aufzugeben, das ist doch unmöglich . . .«
»Nun, dann fahren Sie doch hin!«
»Aber was wird Natascha dazu sagen? Es wird sie sehr kränken. Iwan Petrowitsch, helfen Sie mir irgendwie aus der Verlegenheit! . . .«
»Meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie hinfahren. Sie wissen, wie sehr Natascha Sie liebt: sie wird die Empfindung haben, daß Sie sich bei ihr unbehaglich fühlen und nur wider Ihren Willen bei ihr bleiben. Das beste ist, man benimmt sich ganz natürlich. Aber kommen Sie; ich werde Ihnen behilflich sein.«
»Liebster Iwan Petrowitsch! Wie gut Sie sind!«
Wir gingen hinein; einen Augenblick darauf sagte ich zu ihm:
»Ich habe soeben Ihren Vater gesehen.«
»Wo?« rief er erschrocken.
»Auf der Straße, zufällig. Er hielt mich für einen Augenblick an und bat mich nochmals, mit ihm näher bekannt zu werden. Er fragte nach Ihnen: ob ich nicht wüßte, wo Sie jetzt wären; er wünsche sehr, Sie zu sehen, um Ihnen etwas zu sagen.«
»Ach, Aljoscha, fahre doch hin und geh zu ihm!« fiel Natascha ein, die begriff, worauf ich hinauswollte.
»Aber . . . wo werde ich ihn denn jetzt finden? Ist er zu Hause?«
»Nein, ich besinne mich, daß er sagte, er werde die Gräfin besuchen.«
»Nun, wie kann ich dann also . . .«, sagte Aljoscha naiv, indem er Natascha traurig ansah.
»Ach, Aljoscha, was ist denn dabei!« erwiderte sie. »Willst du denn wirklich diese Bekanntschaft ganz abbrechen, um mich zu beruhigen? Das wäre ja kindisch. Erstens ist das unmöglich, und zweitens wäre es von dir geradezu undankbar gegen Katja. Ihr seid Freunde; solche Bande darf man nicht mit rauher Hand zerreißen. Und schließlich beleidigst du mich einfach, wenn du meinst, ich wäre so eifersüchtig. Fahre hin, fahre gleich hin; ich bitte dich darum! Auch deinen Vater wirst du dadurch beruhigen.«
»Natascha, du bist ein Engel, und ich bin nicht deinen kleinen Finger wert!« rief Aljoscha voller Entzücken und voller Reue aus. »Du bist so gut, und ich . . . ich . . . nun höre nur: ich hatte soeben dort in der Küche Iwan Petrowitsch gebeten, er möchte mir dazu verhelfen, daß ich von dir wegfahren könnte. Und da hat er dies ausgesonnen. Aber verurteile mich nicht, gute, liebe Natascha! Meine Schuld ist nicht so überaus schwer; denn ich liebe dich tausendmal mehr als alles auf der Welt. Und da ist mir ein neuer Gedanke gekommen: ich will alles Katja entdecken und ihr unverzüglich alles, was gestern geschehen ist, und unsere ganze jetzige Situation auseinandersetzen. Sie wird schon etwas zu unserer Rettung ersinnen; sie ist uns von ganzer Seele ergeben . . .«
»Nun, dann geh!« antwortete Natascha lächelnd. »Und noch eins, lieber Aljoscha: ich möchte gern selbst Katjas Bekanntschaft machen. Wie läßt sich das wohl einrichten?«
Aljoschas Entzücken kannte keine Grenzen. Er erging sich sofort in Vorschlägen, wie die Bekanntschaft zu ermöglichen sei. Schließlich machte er sich die Sache sehr leicht: Katja werde einen Weg ausfindig machen. Er setzte diesen seinen Gedanken mit Wärme und Eifer auseinander. Er versprach, heute noch Antwort zu bringen, in zwei Stunden, und dann den ganzen Abend bei Natascha zu bleiben.
»Wirst du wirklich kommen?« fragte Natascha beim Abschied.
»Kannst du daran zweifeln? Leb wohl, Natascha, leb wohl, meine Geliebte, du, die ich mein ganzes Leben lang lieben werde! Leb wohl, Wanja! Ach, mein Gott, ich habe Sie aus Versehen mit dem bloßen Vornamen angeredet; hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich habe Sie sehr gern – warum duzen wir uns nicht? Wir wollen uns duzen!«
»Schön, duzen wir uns!«
»Gott sei Dank! Das ist mir nämlich schon hundertmal durch den Kopf gegangen; aber ich wagte immer nicht, es Ihnen zu sagen. Sehen Sie, ich sage auch jetzt ›Sie‹. Es ist ja auch sehr schwer, zu jemandem ›du‹ zu sagen. Das wird, glaube ich, irgendwo bei Tolstoi sehr schön dargestellt: zwei sind übereingekommen, zueinander ›du‹ zu sagen, können es aber gar nicht fertigbringen und vermeiden immer solche Ausdrücke, in denen das Fürwort vorkommt! Ach, Natascha, wir wollen einmal ›Kindheit und Knabenalter‹ lesen; das ist wunderschön!«
»Na, nun geh nur, geh nur!« jagte ihn Natascha lachend fort. »Du bist vor Freude ganz ins Plaudern hineingekommen . . .«
»Lebe wohl! In zwei Stunden bin ich wieder bei dir!«
Er küßte ihr die Hand und lief eilig hinaus.
»Da siehst du's, Wanja, da siehst du's!« sagte sie und brach in Tränen aus.
Ich saß noch ungefähr zwei Stunden bei ihr, tröstete sie, und es gelang mir, sie in allen Punkten zu beruhigen. Natürlich hatte sie in allen Punkten, in allen ihren Befürchtungen recht. Das Herz zog sich mir schmerzlich zusammen, wenn ich an ihre jetzige Lage dachte; ich war um sie in großer Besorgnis. Aber was konnte ich tun?
Auch Aljoscha kam mir sonderbar vor: er liebte sie nicht weniger als früher, ja vielleicht noch stärker, schmerzvoller, eine Wirkung der Reue und Dankbarkeit. Aber gleichzeitig schlug die neue Liebe in seinem Herzen feste Wurzeln. Wie das enden werde, das ließ sich unmöglich vorhersehen. Ich selbst war sehr gespannt darauf, Katja zu sehen. Ich versprach Natascha noch einmal, ihre Bekanntschaft zu machen.
Zuletzt schien sie sogar heiter zu werden. Unter anderm erzählte ich ihr alles über Nelly, über Masslobojew, über die Bubnowa, über mein heutiges Zusammentreffen mit dem Fürsten bei Masslobojew und über unsere auf sieben Uhr angesetzte Zusammenkunft. Alles dies interessierte sie sehr. Von den alten Leuten sagte ich ihr nur wenig, und von Ichmenews Besuch schwieg ich vorläufig; die Absicht ihres Vaters, sich mit dem Fürsten zu duellieren, hätte sie erschrecken können. Auch ihr erschienen die Beziehungen des Fürsten zu Masslobojew und sein lebhafter Wunsch, mich näher kennenzulernen, sehr sonderbar, obwohl all dies sich aus der jetzigen Situation hinreichend erklärte . . .
Um drei Uhr kehrte ich nach Hause zurück. Nelly empfing mich mit strahlendem Gesicht . . .