F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Achtes Kapitel

Ich stand sehr früh auf. Die ganze Nacht über war ich fast jede halbe Stunde aufgewacht, zu meiner armen Kranken herangetreten und hatte sie aufmerksam betrachtet. Sie hatte Fieber und phantasierte ein wenig. Aber gegen Morgen schlief sie fest ein. ›Das ist ein gutes Zeichen‹, dachte ich, beschloß aber, als ich am Morgen aufwachte, möglichst schnell, solange das arme Kind noch schlief, zum Arzt zu laufen. Ich kannte einen Arzt, einen alten, gutherzigen Junggesellen, der seit undenklicher Zeit mit seiner deutschen Haushälterin zusammen auf der Wladimirskaja wohnte. Er versprach, um zehn Uhr zu mir zu kommen. Als ich bei ihm war, war es acht. Ich hatte die größte Lust, im Vorbeigehen bei Masslobojew vorzusprechen; aber ich gab diesen Gedanken auf: er schlief gewiß noch von gestern her, und außerdem konnte Jelena aufwachen und sich vielleicht in meiner Abwesenheit ängstigen, wenn sie sich in meiner Wohnung sah. In ihrem krankhaften Zustand konnte sie vergessen haben, wie, wann und auf welche Weise sie zu mir gekommen war.

Sie erwachte gerade in dem Augenblick, als ich ins Zimmer trat. Ich ging zu ihr hin und fragte vorsichtig, wie sie sich befinde. Sie antwortete nicht, sondern sah mich lange und unverwandt mit ihren ausdrucksvollen schwarzen Augen an. Nach ihrem Blick schien es mir, daß sie alles erkenne und bei vollem Bewußtsein sei. Daß sie mir nicht antwortete, beruhte vielleicht auf ihrer dauernden Gewohnheit. Auch gestern und vorgestern hatte sie mir auf manche meiner Fragen nicht eine Silbe erwidert, sondern mir nur mit ihrem langen, starren Blick in die Augen gesehen, mit diesem Blick, in welchem außer Erstaunen und scheuer Neugier auch noch eine seltsame Art von Stolz gelegen hatte. Jetzt aber bemerkte ich in ihrem Blick etwas Finsteres und sogar ein gewisses Mißtrauen. Ich wollte ihr die Hand auf die Stirn legen, um zu fühlen, ob sie Fieber habe; aber sie schob meine Hand mit ihrem kleinen Händchen schweigend und sacht zurück und wendete sich mit dem Gesicht von mir ab, der Wand zu. Ich ging fort, um sie nicht weiter aufzuregen.

Ich besaß einen großen kupfernen Teekessel. Diesen benutzte ich schon seit längerer Zeit als Samowar und machte in ihm Wasser heiß. Holz hatte ich; das hatte mir der Hausknecht gleich für fünf Tage mit einem Male heraufgebracht. Auf dem Tisch stellte ich mein Teegeschirr zurecht. Jelena wandte sich zu mir und sah alles neugierig mit an. Ich fragte sie, ob sie etwas wünsche; aber sie wandte sich wieder von mir weg und gab keine Antwort.

»Ob sie mir aus irgendeinem Grund böse ist?« dachte ich. »Ein seltsames Mädchen!«

Mein alter Arzt kam, wie er gesagt hatte, um zehn Uhr. Er untersuchte die Kranke mit deutscher Gründlichkeit und beruhigte mich sehr durch seine Äußerung, es liege zwar ein fieberhafter Zustand vor, jedoch sei keine besondere Gefahr vorhanden. Er fügte hinzu, sie müsse eine andere, chronische Krankheit haben, so etwas wie unregelmäßige Herztätigkeit; aber dieser Punkt werde besondere Beobachtung erfordern; zur Zeit sei sie außer Gefahr. Er verschrieb ihr eine Mixtur und irgendein Pulver, mehr gewohnheitsmäßig, als weil es nötig gewesen wäre, und begann dann sogleich, mich auszufragen: auf welche Weise sie zu mir gekommen sei. Gleichzeitig sah er sich erstaunt in meiner Wohnung um. Dieser alte Herr war außerordentlich gesprächig.

Über Jelena war er erstaunt; sie hatte ihm ihre Hand entrissen, als er ihr den Puls fühlen wollte, hatte ihm nicht die Zunge zeigen wollen, auf alle seine Fragen keine Silbe geantwortet, sondern die ganze Zeit über nur unverwandt nach dem großen Stanislausorden gesehen, den er am Hals hängen hatte.

»Sie hat gewiß starke Kopfschmerzen«, bemerkte der Alte; »aber was hat sie für einen Blick, was hat sie für einen Blick!«

Ich hielt es nicht für nötig, ihm über Jelena viel zu erzählen, und machte mich durch die Bemerkung los, das sei eine lange Geschichte.

»Lassen Sie es mich wissen, wenn ich nötig sein sollte«, sagte er beim Weggehen. »Augenblicklich ist keine Gefahr.«

Ich beschloß, den ganzen Tag bei Jelena zu bleiben und sie bis zur völligen Wiederherstellung möglichst selten allein zu lassen. Aber da ich wußte, daß Natascha und Anna Andrejewna sich ängstigen würden, wenn sie mich vergebens erwarteten, so wollte ich wenigstens Natascha brieflich durch die Stadtpost benachrichtigen, daß ich heute nicht zu ihr kommen würde. An Anna Andrejewna dagegen durfte ich nicht schreiben. Sie hatte, als ich ihr einmal während Nataschas Krankheit Nachricht gesandt hatte, mich ein für allemal gebeten, ihr keine Briefe zu schicken. »Der Alte«, sagte sie, »macht ein finsteres Gesicht, wenn er einen Brief von dir sieht; er möchte gern wissen, was drinsteht, der gute Mann, mag aber nicht danach fragen. Dann ist er den ganzen Tag verdrießlich. Außerdem, lieber Freund, ist ein Brief von dir für mich nur eine zwecklose Aufregung. Was habe ich von zehn Zeilen? Ich möchte dann nach allen Einzelheiten fragen, und du bist dann nicht hier.« Darum schrieb ich nur an Natascha und steckte, als ich das Rezept in die Apotheke trug, den Brief gleich in den Kasten.

Inzwischen war Jelena wieder eingeschlafen. Im Schlaf stöhnte sie leise und zuckte zusammen. Mitunter schrie sie leicht auf und erwachte. Dann sah sie mich ordentlich ärgerlich an, wie wenn ihr die Aufmerksamkeit, die ich ihr zuwandte, besonders peinlich wäre. Ich muß gestehen, daß mir das sehr schmerzlich war.

Um elf Uhr kam Masslobojew. Er war mit ernsten Gedanken beschäftigt und anscheinend zerstreut; er war nur auf einen Augenblick gekommen und hatte es sehr eilig, irgendwo anders hinzugehen.

»Na, lieber Freund«, sagte er, sich umblickend, »daß du nicht luxuriös wohnen würdest, hatte ich erwartet; aber ich hatte wirklich nicht gedacht, daß ich dich in einer solchen Kiste finden würde. Das ist eine Kiste und keine Wohnung. Na, darauf kommt ja freilich im übrigen nicht viel an; aber der Hauptschade ist, daß dich all diese äußeren Sorgen von der Arbeit abhalten. Ich habe daran schon gestern gedacht, als wir zu Frau Bubnowa fuhren. Ich, lieber Freund, gehöre ja nach meinem ganzen Wesen und nach meiner gesellschaftlichen Stellung zu den Leuten, die selbst nichts Gescheites leisten, sondern nur andere dazu ermahnen. Nun höre: ich werde vielleicht morgen oder übermorgen zu dir kommen; komm du aber unter allen Umständen Sonntag vormittag zu mir! Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Angelegenheit dieses Mädchens, wie ich hoffe, ganz ins reine gebracht sein; gleichzeitig will ich dann auch mit dir ein vernünftiges Wort reden, weil für dich etwas Ernstliches getan werden muß. So darfst du nicht weiterleben. Ich habe dir das gestern nur angedeutet; aber jetzt werde ich es dir logisch auseinandersetzen. Ja, und schließlich sage mal: hältst du es denn für eine Unehre, von mir für einige Zeit Geld anzunehmen?«

»Fang keinen Streit an!« unterbrach ich ihn. »Sage mir lieber, welchen Ausgang die Sache da bei euch gestern genommen hat.«

»Nun, den allerbesten; das Ziel ist erreicht, du verstehst? Jetzt aber habe ich keine Zeit. Ich bin nur für einen Augenblick gekommen, um dir mitzuteilen, daß ich keine Zeit habe, mich dir zu widmen; aber beiläufig möchte ich noch fragen: wirst du sie irgendwo unterbringen, oder willst du sie bei dir behalten? Denn das muß überlegt und entschieden werden.«

»Das weiß ich noch nicht bestimmt, und ich muß gestehen, ich hatte auf dich gewartet, um dich um Rat zu fragen. In welcher Stellung könnte ich sie denn bei mir behalten?«

»Was ist da für eine Schwierigkeit? Etwa als Magd . . .«

»Ich bitte dich nur, leiser zu sprechen. Wenn sie auch krank ist, so ist sie doch vollkommen bei Bewußtsein, und als sie dich erblickte, da bemerkte ich, daß sie zusammenzuckte. Jedenfalls erinnerte sie sich an die gestrigen Erlebnisse . . .«

Nun erzählte ich ihm von ihrem Charakter und berichtete alles, was ich an ihr wahrgenommen hatte. Meine Mitteilungen erregten Masslobojews Interesse. Ich fügte hinzu, daß ich sie vielleicht in einer mir bekannten Familie unterbringen würde, und erzählte ihm einiges wenige von den alten Ichmenews. Zu meiner Verwunderung kannte er Nataljas Geschichte schon teilweise; auf meine Frage, woher er es wisse, antwortete er:

»Ich habe es so zufällig gehört, schon vor längerer Zeit, anläßlich einer anderen Sache. Ich sagte dir ja schon, daß ich den Fürsten Walkowski kenne. Du tust gut daran, daß du sie zu jenen alten Leuten bringen willst. Sonst stört sie dich hier nur. Noch eins: sie braucht irgendein Ausweispapier. Darüber mache dir keine Sorgen; das nehme ich auf mich. Leb wohl, besuche mich recht oft! Wie ist's? Schläft sie jetzt?«

»Es scheint so«, antwortete ich.

Aber kaum war er hinausgegangen, als Jelena mich sofort zu sich rief.

»Wer war das?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte; aber sie sah mich immer noch mit demselben starren und abweisenden Blick an. Anders kann ich mich nicht ausdrücken.

Ich nannte ihr Masslobojews Namen und fügte hinzu, daß es mir nur durch seine Hilfe gelungen sei, sie von Frau Bubnowa loszubekommen, und daß diese vor ihm große Furcht habe. Ihre Wangen überzogen sich augenblicklich mit dunkler Glut, wahrscheinlich infolge der Erinnerungen.

»Und sie wird jetzt nie hierherkommen?« fragte Jelena, indem sie mich forschend anblickte.

Ich beeilte mich, sie zu beruhigen. Sie schwieg und ergriff mit ihren heißen Fingerchen meine Hand, ließ sie aber, wie wenn ihr etwas einfiele, sofort wieder fahren. »Es ist doch nicht möglich, daß sie gegen mich wirklich eine solche Abneigung empfinden sollte‹, dachte ich. ›Das ist eben ihre Manier so, oder . . . oder das arme Kind hat soviel Leid erfahren, daß sie zu niemandem mehr auf der Welt Vertrauen hat.‹

Zur bestimmten Stunde ging ich, um die Arznei abzuholen, und gleichzeitig in ein mir bekanntes Restaurant, wo ich manchmal zu Mittag aß und Kredit hatte. Diesmal hatte ich, als ich das Haus verließ, eine Menage mitgenommen und ließ mir in dem Restaurant eine Portion Hühnersuppe für Jelena geben. Aber sie wollte nichts essen, und so stellte ich denn die Suppe vorläufig auf den Ofen.

Nachdem ich ihr die Arznei gereicht hatte, setzte ich mich an meine Arbeit. Ich glaubte, sie schliefe; aber als ich zufällig zu ihr hinblickte, sah ich, daß sie den Kopf in die Höhe gehoben hatte und aufmerksam verfolgte, wie ich schrieb. Ich tat, als ob ich es nicht bemerkte.

Endlich schlief sie wirklich ein, und zwar zu meiner Freude ruhig, ohne Irrereden und ohne Stöhnen. Ich wurde in meinem Entschluß wankend; ich sagte mir, Natascha, die nicht wisse, um was es sich handle, werde mir möglicherweise zürnen, wenn ich heute nicht zu ihr käme, ja sie werde sich sogar bestimmt gekränkt fühlen durch meinen Mangel an Aufmerksamkeit gerade in einer Zeit, wo ich ihr vielleicht am allernötigsten sei. Es könne sehr leicht sein, daß ihr jetzt irgendwelche Sorge und Mühe erwachse und sie mir einen Auftrag zu geben habe, und dann sei ich gerade in einem solchen Augenblick nicht da.

Was Anna Andrejewna anlangte, so wußte ich schlechterdings nicht, wie ich mich am folgenden Tag ihr gegenüber rechtfertigen sollte. Ich überlegte lange und entschloß mich endlich, sowohl hierhin als auch dorthin zu laufen. Meine ganze Abwesenheit brauchte nur zwei Stunden zu dauern. Jelena, meinte ich, schlafe und werde es nicht hören, wenn ich fortginge. Ich sprang auf, zog mir den Mantel an und nahm meinen Hut; aber als ich eben hinausgehen wollte, rief mich Jelena auf einmal an. Ich war erstaunt: hatte sie sich wirklich nur so gestellt, als ob sie schliefe?

Beiläufig bemerke ich: obgleich Jelena so tat, als möge sie nicht mit mir reden, so bewies dieses ziemlich häufige Anrufen, dieses Bedürfnis, sich mit all ihren Zweifeln und Sorgen an mich zu wenden, doch das Gegenteil, und ich muß gestehen, daß mir dies sogar angenehm war.

»Wo wollen Sie mich hingeben?« fragte sie, als ich zu ihr trat.

Sie pflegte ihre Fragen überhaupt plötzlich, und wenn ich es ganz und gar nicht erwartete, zu stellen. Im vorliegenden Fall verstand ich sie nicht einmal sofort.

»Sie sagten vorhin zu Ihrem Bekannten, Sie wollten mich zu einer Ihnen bekannten Familie geben. Aber ich will nirgends hin.«

Ich beugte mich zu ihr hinab. Sie hatte wieder starkes Fieber und machte eine Krisis durch. Ich begann sie zu trösten und zu beruhigen; ich versicherte ihr, wenn sie bei mir bleiben wolle, würde ich sie nirgendshin fortgeben. Während ich das sagte, legte ich Mantel und Hut wieder ab. Sie in einem solchen Zustand allein zu lassen, dazu konnte ich mich nicht entschließen.

»Nein, gehen Sie nur fort!« sagte sie, da sie sogleich erriet, daß ich dableiben wolle. »Ich möchte schlafen; ich werde gleich einschlafen.«

»Aber wirst du auch allein bleiben können?« fragte ich bedenklich. »Ich werde übrigens bestimmt in zwei Stunden zurück sein.«

»Nun, dann gehen Sie doch! Sonst werde ich womöglich ein ganzes Jahr lang krank sein, und Sie könnten dann ein ganzes Jahr lang nicht aus dem Haus gehen.«

Sie machte einen Versuch zu lächeln und sah mich ganz eigentümlich an, wie wenn sie mit einem guten Gefühl ränge, das sich in ihrem Herzen rege. Das arme Kind! Ihr gutes, weiches Herz wurde nach außen hin sichtbar trotz all ihrer Menschenscheu und offenbaren Verbitterung.

Zuerst lief ich zu Anna Andrejewna. Sie wartete auf mich mit fieberhafter Ungeduld und empfing mich mit Vorwürfen; sie befand sich in einer schrecklichen Unruhe: Nikolai Sergejewitsch war gleich nach dem Mittagessen von zu Hause weggegangen, und sie wußte nicht wohin. Ich ahnte, daß die alte Frau sich nicht hatte beherrschen können und ihm nach ihrer Gewohnheit alles ›andeutungsweise‹ erzählt hatte. Übrigens gestand sie es mir beinahe selbst ein, indem sie sagte, sie habe sich nicht enthalten können, ihn an einer so großen Freude teilnehmen zu lassen; aber Nikolai Sergejewitsch sei (dies war ihr eigener Ausdruck) schwarz wie eine Gewitterwolke geworden, habe kein Wort gesagt, immer geschwiegen und nicht einmal auf ihre Fragen geantwortet; nach dem Mittagessen habe er sich auf einmal fertiggemacht und sei davongegangen. Während Anna Andrejewna dies erzählte, zitterte sie vor Angst und bat mich flehentlich, mit ihr zusammen Nikolai Sergejewitschs Rückkehr abzuwarten. Ich entschuldigte mich und sagte ihr beinah in scharfem Ton, ich würde vielleicht auch am folgenden Tag nicht kommen und sei eigentlich jetzt nur hergesprungen, um ihr dies mitzuteilen. Diesmal hätten wir uns fast miteinander gezankt. Sie fing an zu weinen, machte mir heftige, bittere Vorwürfe, und erst als ich schon aus der Tür ging, warf sie sich plötzlich an meine Brust, schlang beide Arme fest um meinen Hals und sagte, ich möchte ihr, ›der armen Verlassenen‹, nicht böse sein und ihr ihre Worte nicht übelnehmen.

Natascha fand ich wider Erwarten allein; merkwürdigerweise schien es mir, als sei sie über mein Kommen diesmal gar nicht so erfreut wie tags zuvor und überhaupt zu anderen Zeiten. Es war, wie wenn ich sie durch irgend etwas ärgerte oder störte. Auf meine Frage, ob Aljoscha heute dagewesen sei, antwortete sie:

»Natürlich ist er dagewesen, aber nicht lange. Er versprach, heute abend herzukommen«, fügte sie wie in tiefen Gedanken hinzu.

»Und ist er gestern abend hiergewesen?«

»N-nein. Er wurde aufgehalten«, fügte sie hastig hinzu. »Nun, und du, Wanja? Wie steht es mit deinen Angelegenheiten?«

Ich merkte, daß sie aus irgendwelchem Grund unser Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu leiten wünschte. Ich sah sie aufmerksamer an: sie war sichtlich verstimmt. Als sie aber wahrnahm, daß ich sie scharf anblickte und beobachtete, warf sie mir plötzlich einen schnellen, gewissermaßen zornigen Blick zu, und zwar mit einer solchen Energie, daß ich ihn ordentlich brennen fühlte. ›Sie hat wieder Kummer‹, dachte ich, ›will es mir aber nicht sagen.‹

In Erwiderung auf ihre Frage nach meinen Angelegenheiten erzählte ich ihr ausführlich das ganze Erlebnis mit Jelena. Meine Erzählung interessierte sie sehr; sie war davon sogar ganz ergriffen.

»Mein Gott! Wie hast du nur die Kranke allein lassen können!« rief sie.

Ich setzte ihr auseinander, daß ich heute eigentlich gar nicht hätte zu ihr kommen wollen, aber gedacht hätte, sie würde es mir übelnehmen und bedürfe meiner vielleicht.

»Bedürfen«, sagte sie nachdenklich vor sich hin, »ich bedarf deiner vielleicht, Wanja; aber lassen wir das lieber auf ein andermal! Bist du bei den Unsrigen gewesen?«

Ich erzählte es ihr.

»Ja, Gott weiß, wie der Vater jetzt all diese Nachrichten aufnehmen wird. Übrigens ist eigentlich nicht viel aufzunehmen . . .«

»Wie kannst du so sprechen?« rief ich. »Ein so gewaltiger Umschwung!«

»Nun ja . . . Wohin mag er wohl wieder gegangen sein? Das vorige Mal glaubtet ihr, er wäre zu mir unterwegs gewesen. Weißt du, Wanja, wenn es dir möglich ist, so komm doch morgen zu mir! Vielleicht werde ich dir etwas mitteilen . . . Es ist mir nur peinlich, dich zu belästigen. Jetzt aber solltest du nach Hause gehen zu deinem Gast. Es sind gewiß schon zwei Stunden, daß du von zu Hause weggegangen bist?«

»Das ist richtig. Leb wohl, Natascha! Nun, wie war denn Aljoscha heute zu dir?«

»Aljoscha? Es ist nichts Besonderes zu sagen . . . Ich wundere mich sogar über deine Neugier.«

»Auf Wiedersehen, liebe Freundin!«

»Leb wohl!«

Sie reichte mir in einer lässigen Weise die Hand und wendete sich von meinem letzten Abschiedsblick weg. Ich verließ sie einigermaßen erstaunt. ›Aber‹, dachte ich, ›sie hat auch allen Grund, nachdenklich zu sein. Es handelt sich um keine Kleinigkeit. Morgen wird sie mir unaufgefordert alles erzählen.‹

In trüber Stimmung kehrte ich nach Hause zurück und bekam, sowie ich in die Tür trat, einen argen Schreck. Es war schon dunkel. Aber ich konnte erkennen, daß Jelena auf dem Sofa saß und wie in tiefem Nachdenken den Kopf auf die Brust herabhängen ließ. Zu mir sah sie gar nicht hin, wie wenn sie ihre ganze Umgebung vergessen hätte. Ich trat an sie heran; sie flüsterte etwas vor sich hin. ›Ob sie wieder phantasiert?‹ dachte ich.

»Jelena, liebes Kind, was ist dir?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte und ihre Hand ergriff.

»Ich will von hier weg . . . Ich will lieber zu ihr gehen«, antwortete sie, ohne den Kopf zu heben und mich anzusehen.

»Wohin? Zu wem?« fragte ich erstaunt.

»Zu ihr, zu Frau Bubnowa. Sie sagt immer, ich sei ihr viel Geld schuldig; sie habe Mama auf ihre Kosten beerdigt . . . Ich will nicht, daß sie auf Mama schimpft . . . Ich will bei ihr arbeiten und die ganze Schuld abarbeiten . . . Dann werde ich von selbst wieder von ihr weggehen. Aber jetzt werde ich wieder zu ihr gehen.«

»Beruhige dich, Jelena; zu ihr kannst du nicht«, sagte ich. »Sie würde dich zu Tode quälen, dich zugrunde richten . . .«

»Mag sie mich zugrunde richten, mag sie mich quälen!« rief Jelena heftig. »Ich bin nicht die erste; andere Mädchen, die besser sind als ich, haben es auch schlecht. Das hat mir eine Bettlerin auf der Straße gesagt. Ich bin arm und will arm sein. Mein ganzes Leben lang werde ich arm sein; das hat mir meine Mutter auf dem Sterbebett befohlen. Ich werde arbeiten . . . Ich will dieses Kleid nicht tragen . . .«

»Ich werde dir gleich morgen ein anderes kaufen. Auch deine Bücher werde ich dir bringen. Du sollst bei mir wohnenbleiben. Ich werde dich zu niemand hingeben, wenn du es nicht selbst wünschst; beruhige dich . . .«

»Ich will mich als Magd vermieten.«

»Gut, gut! Nur beruhige dich, leg dich hin und schlafe!«

Aber das arme Kind begann heftig zu weinen. Das Weinen ging allmählich in ein Schluchzen über. Ich wußte nicht, was ich mit ihr anfangen sollte; ich gab ihr Wasser zu trinken und befeuchtete ihr die Schläfen und den Kopf. Endlich sank sie völlig erschöpft auf das Sofa zurück und bekam wieder Fieberschauer. Ich hüllte sie ein mit dem, was ich zur Hand hatte, und sie schlief ein, aber unruhig; alle Augenblicke fuhr sie zusammen und wachte auf. Obgleich ich an diesem Tag nicht viel gegangen war, war ich doch furchtbar müde und beschloß, mich selbst möglichst früh hinzulegen. Quälende Sorgen wühlten in meinem Kopf umher. Ich ahnte, daß ich mit diesem Mädchen viel Mühe haben würde. Aber die größte Sorge machten mir Natascha und ihre Angelegenheiten. Überhaupt habe ich, wie ich mich jetzt erinnere, mich selten in so gedrückter Stimmung befunden wie an diesem unglücklichen Abend.


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