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Wir gingen lange, bis dicht an den Kleinen Prospekt. Sie lief beinahe; endlich ging sie in einen Laden. Ich blieb stehen, um zu warten, bis sie wieder herauskommen würde. ›Sie wird doch nicht in dem Laden wohnen‹, dachte ich.
Wirklich kam sie nach einer Minute wieder heraus; aber die Bücher hatte sie nicht mehr bei sich. Statt der Bücher hatte sie eine irdene Schüssel in den Händen. Nachdem sie noch ein wenig weitergegangen war, bog sie in den Torweg eines unansehnlichen Hauses ein. Das Haus war nur klein, aber von Stein gebaut, alt, zweistöckig (aus einem Kellergeschoß und einem Hochparterre bestehend) und mit schmutziggelber Farbe angestrichen. In einem der drei Fenster des Kellergeschosses stand ein kleiner roter Sarg, das Schaustück eines geringen Sargtischlers. Die Fenster des oberen Stockwerkes waren sehr klein und vollständig quadratisch, mit trüben, grünlichen gesprungenen Scheiben, durch welche rosarote baumwollene Vorhänge sichtbar waren. Ich ging über die Straße hinüber, trat an das Haus heran und las auf einem Blechschild über dem Tor: ›Haus der Kleinbürgerin Bubnowa‹.
Aber kaum hatte ich das Schild gelesen, als auf dem Hof bei Frau Bubnowa das durchdringende Kreischen einer Weiberstimme erscholl, worauf eine Flut von Schimpfworten folgte. Ich blickte durch das Pförtchen hinein; auf den hölzernen Stufen vor der Haustür stand ein dickes Weib, in der Tracht einer Kleinbürgerin, mit einem hellfarbigen, seidenen Kopftuch und einem grünen Schal. Ihr Gesicht zeigte eine widerwärtige Purpurfarbe; die kleinen, triefenden, blutunterlaufenen Augen funkelten vor Bosheit. Offenbar war sie, obwohl es erst Vormittag war, nicht mehr nüchtern. Sie kreischte die arme Jelena an, die in einer Art von Erstarrung mit der Schüssel in den Händen vor ihr stand. Von der Treppe, hinter dem Rücken des dunkelroten Weibes stehend, sah ein strubbliges, weiß und rot geschminktes weibliches Wesen heraus. Bald darauf öffnete sich die Tür zu der nach dem Kellergeschoß führenden Treppe, und auf den Stufen dieser Treppe erschien, wahrscheinlich durch das Geschrei herbeigelockt, eine ärmlich gekleidete Frau in mittleren Jahren von angenehmem, bescheidenem Äußeren. Aus der halbgeöffneten Tür sahen auch noch andere Bewohner des Kellergeschosses heraus: ein gebrechlicher Greis und ein Mädchen. Ein großer, stämmiger Mann, wahrscheinlich der Hausknecht, stand mit einem Besen in der Hand mitten auf dem Hof und sah lässig die ganze Szene mit an.
»Ach, du verfluchte Kanaille, ach, du Blutsaugerin, du ekelhafte Laus du!« kreischte die Frau, indem sie sämtliche in ihrem Vorrat vorhandenen Schimpfwörter heraussprudelte, meist ohne Kommata und Punkte und die letzten Buchstaben verschluckend. »So lohnst du mir meine Pflege, du Lumpending? Nach Gurken habe ich sie geschickt, und da ist sie gleich ausgerissen! Schon als ich sie wegschickte, habe ich geahnt, daß sie ausreißen würde. Ich fühlte so einen Schmerz im Herzen, einen dumpfen Schmerz! Gestern abend habe ich ihr für dasselbe Vergehen alle Haare ausgerissen, und heute läuft sie schon wieder weg! Wo gehst du denn hin, du Herumtreiberin, wo gehst du denn hin? Zu wem gehst du, du verfluchtes Götzenbild, du glotzäugiges Scheusal, du Viper, zu wem gehst du? Sprich, du stinkfaules Aas, oder ich erwürge dich auf der Stelle!«
Das wütende Weib stürzte auf das arme Mädchen los; aber beim Anblick der von der Treppentür aus zusehenden, im Kellergeschoß wohnenden Frau hielt sie plötzlich inne und begann, sich zu dieser hinwendend, noch gellender als vorher zu kreischen und mit den Armen herumzufuchteln, wie wenn sie sie zur Zeugin des schrecklichen Verbrechens ihres armen Opfers nehmen wollte:
»Ihre Mutter ist krepiert! Ihr wißt selbst, gute Leute: sie ist ganz allein auf der Welt zurückgeblieben. Ich sah, daß sie euch armen Leuten auf dem Hals lag und ihr selbst nichts zu beißen und zu brechen hattet. ›Na‹, dachte ich, ›ich will dem heiligen Nikolaus zu Ehren ein gutes Werk tun und die Waise annehmen.‹ Das tat ich denn auch. Aber was meint ihr wohl? Da sorge ich nun schon zwei Monate für ihren Unterhalt, und in diesen zwei Monaten hat sie mir geradezu alles Blut aus dem Körper gesogen. Dieser Vampir! Diese Klapperschlange! Dieser verstockte Satan! Wenn man sie noch soviel schlägt, es hilft nichts, sie schweigt immer, als ob sie Wasser in den Mund genommen hätte; immer schweigt sie! Sie zerreißt mir das Herz und schweigt! Wofür hältst du dich denn, du wichtige Person, du grüne Meerkatze? Ohne mich wärst du auf der Straße Hungers gestorben. Die Füße müßtest du mir waschen und das Waschwasser trinken, du Unhold, du schändliche französische Dirne! Ohne mich wärst du verreckt!«
»Aber warum regen Sie sich denn so auf, Anna Trifonowna? Womit hat sie Sie denn wieder geärgert?« fragte respektvoll die Frau, an die die wütende Megäre sich gewendet hatte.
»Womit sie mich geärgert hat, liebe Frau? Ich dulde keine Widersetzlichkeit! ›Schimpf im stillen, aber tu meinen Willen!‹ Das ist nun mein Grundsatz! Sie aber hat mich heute beinahe ins Grab gebracht! Ich hatte sie in den Laden nach Gurken geschickt, und nach drei Stunden kommt sie wieder! Es hat mir schon geahnt, als ich sie wegschickte; ich fühlte so einen Schmerz im Herzen, einen dumpfen Schmerz! Wo ist sie gewesen? Wo ist sie hingegangen? Was hat sie sich für Beschützer gesucht? Habe ich ihr nicht alle möglichen Wohltaten erwiesen? Ihrer schändlichen Mutter habe ich die vierzehn Rubel erlassen, die sie mir schuldig war; ich habe sie auf meine Kosten begraben lassen, habe ihren Teufel von Tochter zur Erziehung angenommen, das weißt du ja, liebe Frau, das weißt du ja selbst! Na, und nach alledem soll ich ihr nichts zu sagen haben? Sie sollte fühlen, daß sie mir Gehorsam schuldig ist; aber statt dessen ist sie widersetzlich! Ich wollte ihr Bestes. Ich wollte die schändliche Krabbe ein Musselinkleid tragen lassen; Stiefelchen habe ich ihr im Kaufhaus gekauft; wie einen Pfau habe ich sie herausgeputzt: sie konnte sich freuen! Aber was meint ihr, gute Leute? In zwei Tagen hat sie das ganze Kleid zerrissen, in Stücke hat sie es zerrissen, in Fetzen, und so geht sie nun, so geht sie nun! Und was meint ihr? Absichtlich hat sie es zerrissen, ich will nicht lügen, ich habe es selbst heimlich angesehen; ›ich will in Zwillich gehen‹, sagte sie. ›Ich will kein Musselinkleid!‹ Na, ich habe mein Mütchen an ihr gekühlt und sie geprügelt, und dann habe ich den Arzt gerufen; dem habe ich noch Geld bezahlt. Totschlagen sollte man dich, du ekelhafte Laus; aber ich habe dir nur Strafen auferlegt! Zur Strafe befahl ich ihr, den Fußboden zu scheuern; und was denkt ihr: sie scheuert ihn, das Aas, sie scheuert ihn! Ganz wütend macht sie mich: sie scheuert ihn! ›Na‹, dachte ich, ›sie wird von mir weglaufen!‹ Und kaum hatte ich es gedacht, siehst du wohl, da war sie auch gestern weggelaufen! Ihr habt es selbst gehört, gute Leute, wie ich sie gestern dafür geschlagen habe; beide Arme habe ich mir müde an ihr geschlagen; die Strümpfe und Schuhe habe ich ihr weggenommen; ›sie wird doch nicht barfuß davongehen‹, dachte ich. Aber heute ist sie wieder weg! Wo bist du gewesen? Sprich! Bei wem hast du dich beklagt, du Brennessel, bei wem hast du mich verpetzt? Sprich, du Zigeunerin, du hergelaufene Dirne, sprich!«
Und wütend stürzte sie sich auf das Mädchen, das vor Angst wie besinnungslos dastand, packte es an den Haaren und warf es zu Boden. Die Schüssel mit den Gurken flog zur Seite und zerbrach; dadurch wurde die Raserei der betrunkenen Megäre noch gesteigert. Sie schlug ihr Opfer ins Gesicht, auf den Kopf; aber Jelena schwieg hartnäckig, und kein Laut, kein Schrei, keine Klage kamen aus ihrem Mund, nicht einmal unter den Faustschlägen.
Ich stürzte auf den Hof, fast von Sinnen vor Empörung, und lief gerade auf das betrunkene Weib zu.
»Was tun Sie da? Wie können Sie es wagen, eine arme Waise so zu behandeln?« rief ich und ergriff die Furie am Arm.
»Was soll das heißen? Was sind Sie für einer?« schrie sie, ließ Jelena los und stemmte die Arme in die Seiten. »Was führt Sie in mein Haus?«
»Ihre Unbarmherzigkeit führt mich her!« rief ich. »Wie können Sie es wagen, das arme Kind so zu tyrannisieren? Sie ist ja nicht Ihr Kind; ich habe selbst gehört, daß sie eine arme Waise ist und Sie sie nur angenommen haben . . .«
»Herr Jesus!« heulte die Furie. »Was sind Sie denn für einer, daß Sie sich hier eindrängen? Sind Sie mit ihr zusammen hergekommen, wie? Ich werde gleich zum Reviervorsteher schicken! Andron Timofejewitsch weiß, daß ich eine anständige Frau bin, und hat vor mir alle Achtung! Wie hängt das zusammen? Sie ist wohl bei Ihnen gewesen? Was sind Sie für einer? Kommt da in ein fremdes Haus und macht Skandal! Hilfe!«
Sie stürzte mit erhobenen Fäusten auf mich los. Aber in diesem Augenblick ertönte plötzlich ein durchdringender, gräßlicher Schrei. Ich blickte hin: Jelena, die wie besinnungslos dagestanden hatte, war auf einmal mit einem furchtbaren, unnatürlichen Schrei zu Boden gestürzt und wand sich in schrecklichen Krämpfen. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie hatte einen epileptischen Anfall bekommen. Das Mädchen mit dem strubbligen Haar und die Frau von unten liefen hinzu, hoben sie auf und trugen sie eilig nach oben.
»Meinetwegen kannst du krepieren, du verfluchtes Balg!« schrie ihr das Weib nach. »In einem Monat ist das nun schon der dritte Anfall . . . Hinaus, Sie Intrigant!« Sie stürzte von neuem auf mich los.
»Was stehst du da, Hausknecht? Wofür bekommst du deinen Lohn?«
»Machen Sie, daß Sie rauskommen! Wenn Sie wollen, können Sie eine Tracht Prügel besehen«, ließ sich der Hausknecht lässig in tiefem Baß vernehmen, anscheinend nur der Form wegen. »›Ist ein Liebespaar allein, dräng dich nicht als dritter ein!‹ lautet die Regel. Empfehlen Sie sich, und scheren Sie sich davon!«
Es war nichts zu machen; ich ging aus dem Tor hinaus in der Überzeugung, daß mein Eingreifen völlig fruchtlos gewesen sei. Aber die Empörung kochte in mir. Ich blieb auf dem Trottoir vor dem Tor stehen und sah durch das Pförtchen. Kaum war ich hinausgegangen, als das Weib nach oben lief; auch der Hausknecht entfernte sich irgendwohin, da er mit seiner Arbeit fertig war. Einen Augenblick darauf trat die Frau, welche geholfen hatte, Jelena hinaufzutragen, wieder aus der Haustür, um nach unten in ihre Wohnung zu gehen. Als sie mich erblickte, blieb sie stehen und sah mich neugierig an. Ihr gutes, stilles Gesicht ermutigte mich. Ich trat von neuem auf den Hof und ging gerade auf sie zu.
»Gestatten Sie die Frage«, begann ich, »was es mit diesem Mädchen hier für eine Bewandtnis hat und was dieses abscheuliche Weib mit ihr anfängt. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich aus bloßer Neugier frage. Ich bin mit diesem Mädchen bereits anderwärts zusammengetroffen und interessiere mich aus bestimmtem Grunde sehr für sie.«
»Wenn Sie sich für sie interessieren, so würden Sie am besten tun, sie zu sich zu nehmen oder sonstwo eine Stelle für sie ausfindig zu machen, statt sie hier zugrunde gehen zu lassen«, sagte die Frau, anscheinend nur ungern, und machte eine Bewegung, als wolle sie von mir fortgehen.
»Aber wenn Sie mir keine Auskunft geben, was kann ich denn dann tun? Ich sage Ihnen, daß ich nichts weiß. Das war gewiß Frau Bubnowa selbst, die Hauswirtin?«
»Ja, das war die Hauswirtin selbst.«
»Wie ist denn also das Mädchen zu ihr gekommen? Ihre Mutter ist hier gestorben?«
»Ja, so ist sie zu ihr gekommen . . . Uns geht's nichts an . . .«
Sie wollte wieder fortgehen.
»Aber tun Sie mir doch den Gefallen! Ich sage Ihnen ja, daß mich die Sache sehr interessiert. Ich bin vielleicht imstande, etwas für sie zu tun. Wer ist denn dieses Mädchen? Wer war ihre Mutter? Wissen Sie es?«
»Das war eine Art Ausländerin; sie war von auswärts hergekommen. Sie wohnte bei uns unten und war sehr krank; sie ist auch an der Schwindsucht gestorben.«
»Also ist sie wohl sehr arm gewesen, wenn sie als Aftermieterin im Kellergeschoß wohnte?«
»Schrecklich arm! Es schnürte einem das Herz zusammen. Wir schlagen uns nur kümmerlich durch; aber auch uns ist sie in den fünf Monaten, die sie bei uns gewohnt hat, sechs Rubel schuldig geblieben. Wir haben sie auch beerdigt; mein Mann hat noch den Sarg gemacht.«
»Wie kann dann die Bubnowa sagen, sie habe die Beerdigung besorgt?«
»Ach wo! Sie hat nichts dabei getan!«
»Und welchen Familiennamen führte denn die Verstorbene?«
»Ich kann ihn nicht aussprechen, lieber Herr; es war ein schwerer Name, wohl ein deutscher.«
»Smith?«
»Nein, es klang anders. Anna Trifonowna nahm dann die Waise zu sich; wie sie sagt, zur Erziehung. Aber es ist da überhaupt keine schöne Wirtschaft . . .«
»Sie hat sie gewiß in bestimmter Absicht zu sich genommen?«
»Sie treibt ein häßliches Gewerbe«, antwortete die Frau, überlegend und schwankend, ob sie reden solle oder nicht. »Was geht es uns an? Wir haben nichts damit zu tun.«
»Du tätest besser, deine Zunge im Zaum zu halten!« erscholl eine Männerstimme hinter uns.
Es war ein schon älterer Mann in einem Schlafrock und einem darübergezogenen langschößigen Rock, anscheinend ein Handwerksmeister, der Mann der Frau, mit der ich sprach.
»Wir haben mit Ihnen nichts zu reden, lieber Herr; das sind Dinge, die uns nichts angehen . . .«, sagte er, indem er mir einen schrägen Blick zuwarf. »Und du geh nur weg! Adieu, mein Herr! Ich bin Sargtischler; wenn Sie in meinem Fach etwas nötig haben, so werde ich jeden Auftrag zu Ihrer vollen Zufriedenheit ausführen . . . Sonst aber haben Sie und wir nichts miteinander zu verhandeln . . .«
Ich verließ dieses Haus in tiefen Gedanken und großer Aufregung. Machen konnte ich nichts; aber es war mir eine peinliche Empfindung, daß ich die Sache ihren Gang gehen lassen sollte. Einige Worte der Tischlerfrau beunruhigten mich ganz besonders. Da verbarg sich etwas Häßliches; das ahnte ich.
Ich ging mit gebeugtem Kopf und in Gedanken versunken dahin, als mich auf einmal eine laute Stimme mit meinem Familiennamen anrief. Ich blickte auf – vor mir stand ein Betrunkener, der beinahe schwankte; gekleidet war er ziemlich sauber, nur trug er einen garstigen Mantel und eine schmierige Mütze. Sein Gesicht kam mir sehr bekannt vor. Ich betrachtete ihn genauer.
Er blinzelte mich an und lächelte ironisch.