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Martjanows Aufzeichnungen beruhen auf mündlichen Berichten mehrerer Seekadetten, die wegen Teilnahme an der Bewegung des Jahres 1849 degradiert und als Gemeine in das Omsker Linienregiment versetzt worden waren.
Der schwerste Dienst, den die Strafversetzten zu versehen hatten, war der Wachtdienst am Zuchthause. Es war dasselbe Zuchthaus, welches Dostojewskij in seinen »Aufzeichnungen aus dem Totenhause« beschrieben hat; von den an der Petraschewskij-Affäre Beteiligten befanden sich um jene Zeit im Zuchthause Fjodor Michailowitsch Dostojewskij und Sergej Fjodorowitsch Durow. Ob sie vorher in Petersburg sehr bekannt waren, wissen wir nicht; doch während ihres Aufenthaltes im Zuchthause nahmen die Petersburger Freunde an ihnen den größten Anteil und taten alles, um ihr Los zu erleichtern.
Die beiden einst so eleganten jungen Männer boten im Zuchthause einen traurigen Anblick. Sie trugen die allgemeine Sträflingskleidung: im Sommer zur Hälfte graue und zur Hälfte schwarze Joppen mit gelben Abzeichen auf dem Rücken und weiche Mützen ohne Schirme; im Winter kurze Schafspelze, Mützen mit Ohrenklappen und Fausthandschuhe. An Armen und Beinen trugen sie Ketten, die bei jeder Bewegung klirrten, und so unterschieden sie sich äußerlich durch nichts von den andern Sträflingen. Nur eines zeichnete sie von der übrigen Masse aus: die unverwischbaren Spuren einer guten Erziehung und Bildung. Dostojewskij hatte das Aussehen eines kräftigen, etwas untersetzten, gut disziplinierten Arbeiters. Das schwere Schicksal hatte ihn gleichsam versteinert. Er schien schwerfällig, unbeholfen und war immer schweigsam. Auf seinem blassen, ausgemergelten, aschfahlen, mit dunkelroten Flecken besäten Gesicht sah man nie ein Lächeln; er öffnete den Mund nur zu kurzen abgerissenen dienstlichen Antworten. Er trug die Mütze immer tief in die Stirne, bis an die Augenbrauen gedrückt; sein Blick war mürrisch, unangenehm, gespannt und meistens zu Boden gesenkt. Die Sträflinge liebten ihn nicht, erkannten aber seine moralische Autorität an; sie sahen scheel, doch ohne Haß auf ihn und gingen ihm schweigend aus dem Wege. Er sah es auch selbst und hielt sich daher abseits von allen; nur in ganz seltenen Fällen, wenn es ihm unerträglich schwer zumute war, zog er einige Sträflinge ins Gespräch. Durow machte dagegen auch in der Sträflingskleidung den Eindruck eines vornehmen Herrn. Er war groß gewachsen, hielt den Kopf stolz erhoben, seine großen schwarzen Augen blickten trotz der Kurzsichtigkeit freundlich, und seine Lippen lächelten jeden an. Er trug seine Mütze in den Nacken geschoben und sah selbst in den schwersten Stunden unentwegt heiter aus. Er behandelte jeden Sträfling liebevoll und freundlich, und alle Sträflinge liebten ihn. Er war aber durch sein Leiden furchtbar heruntergekommen und konnte oft kaum die Füße bewegen. Und doch blieb er immer guten Mutes und bemühte sich, die körperlichen Schmerzen durch Lachen und Scherzen zu betäuben.
Von der Gefängniswache wurde damals große Aufmerksamkeit, Energie und Wachsamkeit verlangt. Die Wache hatte die Sträflinge zur Arbeitsstätte zu begleiten und sie auch im Zuchthause zu beaufsichtigen. Der Wachtkommandant mußte jeden Morgen und Abend den ganzen Bestand der Sträflinge kontrollieren, auf Reinlichkeit und Ordnung im Zuchthause und in den Kasernen achtgeben, plötzliche Revisionen bei den Sträflingen vornehmen und das Einschmuggeln von Schnaps, Tabak, Spielkarten und anderen verbotenen Gegenständen verhindern; sein Dienst war also schwierig und verantwortungsvoll. Die ehemaligen Seekadetten übernahmen aber gerne diese Obliegenheiten in Vertretung der Offiziere: sie hatten dabei Gelegenheit, immer vor Augen der Vorgesetzten zu sein und zugleich das schwere Schicksal der Sträflinge, soweit es ging, zu erleichtern. Die meisten Sträflinge arbeiteten außerhalb des Zuchthauses am Bau der Festung; täglich wurden aber einige von ihnen im Zuchthause zur Verrichtung von Hausarbeit zurückbehalten. Diese letzteren standen unter der unmittelbaren Aufsicht der Wache und blieben, wenn man sie nicht gerade zu irgendwelchen Arbeiten schickte, entweder im Wachtlokal oder in ihren Zellen. Unter diesen Umständen hatten die Seekadetten immer die Möglichkeit, bestimmte Sträflinge im Zuchthause zurückzubehalten. So wurden auch Dostojewskij und Durow oft für die »Hausarbeit« zurückbehalten; die Wachtkommandanten ließen sie dann zu sich ins Offizierszimmer kommen, wo sie ihnen die Tagesneuigkeiten mitteilten und die für sie eingelaufenen Geschenke, Bücher und Briefe übergaben. Man ließ sie ins Wachtlokal nur zu solchen Zeiten kommen, wo man sicher war, daß kein Vorgesetzter erscheinen konnte; für jeden Fall hielt man aber ständig einen Soldaten bereit, der sie zur Arbeit abführen sollte. General Borislawskij, der die Oberaufsicht über die Arbeiten hatte, und der Festungskommandant General de Grave waren von diesem Modus durch den Arzt Doktor Troitzkij wohl unterrichtet.
Der Charakter Dostojewskijs war nach dem Berichte eines der Kadetten wenig sympathisch; er blickte immer wie ein in die Falle geratener Wolf und ging allen Sträflingen aus dem Wege; selbst die humane Behandlung seitens der Vorgesetzten und ihre Bemühungen, ihm nützlich zu sein und sein Los zu erleichtern, nahm er wie eine schwere Last hin. Er blickte immer finster und hielt sich mitten im Lärm und Leben des Zuchthauses abseits von allen; nur im Notfalle sprach er ein Wort. Wenn ihn die Kadetten ins Offizierszimmer kommen ließen, hielt er sich zurückhaltend, leistete der Aufforderung, sich hinzusetzen und auszuruhen, keine Folge, beantwortete die an ihn gestellten Fragen höchst ungern und ließ sich fast nie zu Seelenergüssen und intimeren Gesprächen herbei. Jeder Äußerung von Mitgefühl begegnete er mit Mißtrauen, als wittere er immer geheime Nebenabsichten. Selbst die ihm angebotenen Bücher nahm er nie an; nur in zwei Fällen (es handelte sich um »David Copperfield« und »Die Pickwickier«) zeigte er für die Bücher Interesse und nahm sie mit ins Spital. Doktor Troitzkij erklärte Dostojewskijs Menschenscheu mit dem krankhaften Zustand seines ganzen Organismus, der bekanntlich von seinem Nervenleiden und den epileptischen Anfällen vollkommen zerrüttet war; äußerlich schien er aber gesund, rüstig und kräftig; er nahm auch an allen Arbeiten zugleich mit den andern Sträflingen teil. Der Kadett, von dem ich diese Schilderung habe, erklärte Dostojewskijs Menschenscheu mit der Furcht, daß seine Beziehungen zu den Menschen und die gegen ihn geübte Nachsicht zur Kenntnis der Obrigkeit kommen und ihm bei ihr schaden könnten. Durow rief dagegen allgemeine Sympathie hervor. Trotz seines kranken und schwachen Aussehens interessierte er sich für alle, knüpfte gern Beziehungen zu den außerhalb des Zuchthauses stehenden Menschen an und war für jede ihm gewährte Erleichterung oder Hilfe von Herzen dankbar. Er sprach und debattierte sogar gern über jedes Thema und war oft imstande, seine Zuhörer hinzureißen. Man sah seinen aufrechten, herzlichen und energischen Charakter, den das Unglück gar nicht gebrochen hatte, und daher genoß er bei allen viel größere Sympathie als Dostojewskij.
Die Kadetten sahen mit Erstaunen, daß Dostojewskij und Durow einander mit allen Kräften ihrer Seelen haßten; nie sah man sie zusammen, und während ihres ganzen Aufenthaltes im Omsker Zuchthause wechselten sie miteinander kein Wort. Wenn man die beiden zugleich ins Offizierszimmer kommen ließ, setzten sie sich in entgegengesetzte Ecken und beantworteten die an sie gerichteten Fragen nur mit Ja oder Nein. Man merkte das und ließ sie daher immer einzeln kommen. Als man Durow einmal wegen dieses seltsamen Verhaltens befragte, erwiderte er, keiner von ihnen würde sich herablassen, den andern zuerst anzusprechen, weil das Zuchthausleben sie zu Feinden gemacht hätte. Dostojewskij spricht ja in seinen »Aufzeichnungen aus dem Totenhause« von manchen interessanten Sträflingen, die zu seiner Zeit im Zuchthause waren; doch seines Genossen Durow erwähnt er nirgends, weder unter dem vollen Namen, noch unter Initialen. Und in solchen Fällen, wo er seiner unbedingt erwähnen muß, macht er es so: »Wir, d. h. ich und der andere Sträfling adliger Abstammung, mit dem ich zur gleichen Zeit ins Zuchthaus kam ...« Oder so: »Ich beobachtete mit Entsetzen einen meiner Zuchthausgenossen (adliger Abstammung), welcher zusehends wie eine Kerze schmolz. Als er ins Zuchthaus kam, war er jung, schön und liebenswürdig; er verließ es als gebrochener, ergrauter, lahmer und kurzatmiger Mensch.« Der Oberarzt Doktor Troitzkij nahm großen Anteil an den politischen Sträflingen. Er ließ ihnen oft durch die Kadetten sagen, sie könnten (der eine oder der andere) zu ihm ins Spital zur Erholung kommen; sie begaben sich auch wirklich oft für mehrere Wochen ins Spital, wo man ihnen gute Kost, Tee, Wein und andere Sachen teils aus der Spitalküche und teils aus der Doktorküche gab. Wie Doktor Troitzkij einem der Kadetten erzählte, hatte Dostojewskij seine »Aufzeichnungen aus dem Totenhause« mit seiner Genehmigung noch im Zuchthausspital begonnen; die Sträflinge durften nämlich ohne besondere Erlaubnis keine Schreibutensilien haben; die ersten Kapitel dieses Werkes waren lange Zeit bei einem Heilgehilfen in Verwahrung. Auch General Borislawskij protegierte die beiden, durch Vermittlung seines Adjutanten, Leutnant Iwanow. Mit seiner Erlaubnis wurden sie nur zu den leichteren Arbeiten kommandiert; außer jenen Fällen, wo sie selbst Lust hatten, an der Arbeit der anderen Sträflinge teilzunehmen. Zu diesen leichteren Arbeiten zählten Malerarbeiten, das Drehen von Rädern, Brennen von Alabaster, Schneeschaufeln usw. Dostojewskij bekam sogar die Erlaubnis, in der Kanzlei der Ingenieurverwaltung Schreibarbeiten zu verrichten; als aber Oberst Marten in einem Bericht an den Korpskommandeur seine Bedenken äußerte, ob man einen zu Zwangsarbeit verurteilten politischen Verbrecher mit Schreibarbeit beschäftigen dürfe, nahm dieser Zustand bald ein Ende.
Als Dostojewskij einmal zu »Hausarbeiten« im Zuchthause zurückgeblieben war, kam plötzlich der Platzmajor Kriwtzow, den Dostojewskij später als ein »Tier in Menschengestalt« beschrieben hat, in die Zelle und fand ihn auf seiner Pritsche liegen.
»Was ist denn das? Warum ist er nicht bei der Arbeit?« schrie der Platzmajor.
»Er ist krank, Herr Major,« erwiderte ein Kadett, der zufällig in Vertretung eines Wachtoffiziers den Major bei seinem Rundgange begleitete. »Er hat soeben einen epileptischen Anfall gehabt.«
»Unsinn! Ich weiß, daß ihr ihm zuviel nachseht! Sofort ins Wachtlokal mit ihm, Ruten her!«
Während man ihn von der Pritsche herunterzerrte und ins Wachtlokal schleppte, schickte der Kadett einen Gefreiten zum Kommandanten mit einer Meldung über diesen Vorfall. General de Grave kam sofort ins Zuchthaus und sistierte die Rutenstrafe; dem Platzmajor Kriwtzow erteilte er aber eine öffentliche Rüge und bestätigte, daß man kranke Sträflinge unter keinen Umständen körperlichen Strafen unterziehen dürfe.