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XXXV.
An die Nichte Sofia Alexandrowna Chmyrowa, geb. Iwanowa Genf, den 29. September (11. Oktober) 1867

Guten Tag, meine liebe Freundin Ssonetschka. Zürnen Sie mir nicht wegen meines allzu langen Schweigens; weder mir, noch Anna Grigorjewna. A. G. hat schon länger als eine Woche einen Brief an Sie fertig liegen, sie schickt ihn aber noch nicht mit, weil sie noch etwas hinzuschreiben will. Offen gesagt, will ich von Ihnen eine Antwort herauslocken. Wir langweilen uns hier in Genf so entsetzlich, daß jeder Brief, den Sie uns schreiben, Ihnen im Himmel als ein gutes Werk angerechnet werden wird. Außerdem wissen Sie ja selbst, wie sehr ich Sie liebe und wie sehr mich alles, was in Ihrem Leben vorgeht, interessiert. Wir haben unsere Reise höchst dumm eingerichtet. Allerdings hätten wir etwas mehr Geld haben müssen, um unsern Aufenthaltsort je nach Wunsch wechseln zu können. Wir mußten unsere Reise notgedrungen zu einem Aufenthalt im Auslande statt zu einer Reise durch Europa gestalten.

Das Leben im Auslande ist, wo es auch sei, sehr langweilig. Da es in Paris sehr teuer und sehr staubig ist, und da der Sommer in Italien sehr heiß war und dort auch noch die Cholera auftauchte, haben wir diesen Sommer in verschiedenen Orten Deutschlands verbracht, die wir uns je nach der Schönheit der Landschaft und der Güte der Luft aussuchten. Überall war es langweilig, überall war die Landschaft schön, und überall ging es mir gesundheitlich nicht schlecht. Es freute mich ganz besonders, daß Anna Grigorjewna keine Langeweile spürte, obwohl ich ein wenig angenehmer Lebensgenosse bin, und wir ganze sechs Monate ohne Freunde und Verkehr Seite an Seite verlebt haben. Wir haben in dieser Zeit viele alte Erinnerungen aufgefrischt, und ich schwöre Ihnen, daß wir uns zehnmal besser unterhalten hätten, wenn wir den Sommer nicht im Auslande, sondern in Lublino, in Ihrer Nähe verbracht hätten. Anna Grigorjewna hat ein großes Talent zum Reisen entwickelt: wohin wir auch kamen, besichtigte sie sofort alle Sehenswürdigkeiten und schrieb sich auch gleich ihre Eindrücke auf; sie hat mit ihren Hieroglyphen unzählige kleine Notizbücher und Hefte vollgeschrieben; leider hat sie noch zu wenig gesehen. Endlich kam der Herbst. Unser Geld reichte nicht mehr zu einer Reise nach Italien aus, auch kamen andere Hindernisse hinzu. Wir wollten nach Paris und bedauerten später sehr, nicht dorthin, sondern nach Genf gegangen zu sein. Ich war zwar schon dreimal in Genf gewesen, hatte mich aber dort nie lange aufgehalten und kannte daher das Klima dieser Stadt nicht: die Witterung wechselt hier mindestens dreimal täglich, und ich habe wieder meine Anfälle, ganz wie in Petersburg. Und dabei muß ich arbeiten und in Genf mindestens fünf Monate bleiben. Ich nehme ganz ernsthaft einen Roman in Angriff (den ich mir erlauben werde, Ihnen, d. h. Ssonetschka, Sofia Alexandrowna Iwanowa, wie ich es schon früher beschlossen habe, zu widmen); ich werde ihn im »Russischen Boten« erscheinen lassen. Ich weiß nicht, ob er mir geraten wird; bei Gott, wenn nicht diese Not wäre, so hätte ich mich nie entschlossen, den Roman jetzt, d. h. in unserer Zeit erscheinen zu lassen. Am Himmel stehen viele Wolken. Napoleon hat erklärt, daß er auf seinem Horizont schon mehrere schwarze Punkte bemerkt habe. Um die mexikanische, die italienische und, in erster Linie, die deutsche Frage zu ordnen, muß er die Leute durch einen Krieg ablenken und die Franzosen mit dem alten Mittel – einem Erfolg im Kriege – für sich gewinnen. Wenn auch die Franzosen heute darauf nicht mehr hereinfallen, so ist ein Krieg immerhin sehr wahrscheinlich. Sie werden schon selbst davon gelesen haben (lesen Sie überhaupt irgendwelche Zeitungen? Lesen Sie sie doch um Gottes willen! Heute muß man sie lesen, und zwar nicht nur, um der Mode zu genügen, sondern um den immer stärker und deutlicher hervortretenden Zusammenhang der großen wie der kleinen Ereignisse zu erkennen). Wenn aber ein Krieg ausbricht, so wird künstlerische Ware beträchtlich im Preise sinken. Dies ist eine sehr wichtige Erwägung, die selbst mich nachdenklich stimmt. Bei uns in Rußland machte sich in der letzten Zeit auch ohne Krieg eine gewisse Gleichgültigkeit künstlerischen Dingen gegenüber bemerkbar. Am meisten fürchte ich die Mittelmäßigkeit: ein Werk soll entweder sehr gut, oder sehr schlecht, doch beileibe nicht mittelmäßig sein. Eine Mittelmäßigkeit im Umfange von dreißig Druckbogen ist etwas ganz Unverzeihliches.

Ich bitte Sie, meine liebe Freundin, schreiben Sie mir möglichst genau über alles, was sich in diesen sechs Monaten mit Ihnen und den Ihrigen zugetragen hat. Was haben Sie, ich meine Sie persönlich, in dieser Zeit getrieben und was haben Sie vor? Wir müssen überhaupt gleichsam von vorne anfangen. Mein Auslandspaß ist nur sechs Monate gültig, doch werde ich hier wohl noch weitere sechs Monate oder vielleicht noch länger bleiben müssen. Das hängt von rein geschäftlichen Dingen ab. Und doch möchte ich nach Rußland zurück, und zwar aus vielen Gründen. Erstens werde ich dann wieder einen ständigen Wohnsitz haben. Dann möchte ich nach meiner Rückkehr unbedingt etwas in der Art einer Zeitung herausgeben »Das Tagebuch eines Schriftstellers« (dieser Plan kam 1873 zur Ausführung).; (mir scheint, ich habe schon einmal mit Ihnen darüber gesprochen; die Form und das Ziel des Unternehmens sehe ich aber erst jetzt klar vor Augen). Zu diesem Zweck muß ich aber zu Hause sein, alles mit eigenen Ohren hören und mit eigenen Augen sehen. Übrigens bin ich froh, jetzt eine Arbeit zu haben; hätte ich sie nicht, so würde ich vor Langeweile sterben; ob ich nach Abschluß des Romans, was noch recht lange dauern kann, hier im Auslande noch etwas Neues beginne, weiß ich wirklich nicht. Ich kann die russischen Touristen, die sich hier oft drei Jahre lang aufhalten, einfach nicht begreifen. Eine Reise ins Ausland kann nutzbringend und sogar angenehm sein, wenn sie etwa ein halbes Jahr dauert, und wenn man an jedem Ort nicht länger als zwei Wochen bleibt und immer herumfährt. Außerdem kann man sich bei einer solchen Reise wirklich erholen. Es gibt aber Leute, die hier mit ihren Familien dauernd leben, ihre Kinder hier erziehen, die russische Sprache verlernen und schließlich, nachdem sie die letzten Geldmittel verbraucht haben, nach Hause zurückkehren und uns belehren wollen, anstatt von uns zu lernen. Ja, hier bleibt man zurück und dann braucht man ein ganzes Jahr, um sich an die Dinge in der Heimat zu gewöhnen und wieder ins richtige Geleis zu kommen. Insbesondere ein Schriftsteller (wenn er nur kein Gelehrter und kein Fachmann ist) darf hier unmöglich lange bleiben. In unserm Handwerk ist die Wirklichkeit die Hauptsache; hier kann man aber nur schweizerische Wirklichkeit sehen.

Genf liegt am Genfer See. Der See ist wunderbar, seine Ufer sind malerisch, doch Genf selbst ist der Inbegriff von Langeweile. Es ist eine alte protestantische Stadt, und doch sieht man überall zahllose Betrunkene. Als ich hier anlangte, begann gerade der Friedenskongreß zu tagen, zu dem auch Garibaldi gekommen war. Er reiste übrigens bald wieder ab. Es ist wirklich unglaublich, was diese Herren Sozialisten und Revolutionäre, die ich bisher nur aus Büchern gekannt hatte, und hier zum erstenmal in Wirklichkeit sah, von der Tribüne herab ihren fünftausend Zuhörern vorlogen! Das läßt sich gar nicht wiedergeben. Man kann sich die Komik, Schwäche, Sinnlosigkeit, Uneinigkeit und Fülle von inneren Widersprüchen gar nicht vorstellen. Und dieses Gesindel bringt das ganze unglückliche Arbeitervolk wirklich in Aufruhr! Es ist zu traurig. Sie wollen zur Erreichung des Friedens auf Erden den christlichen Glauben ausrotten, die großen Staaten vernichten und in kleine Staaten aufteilen, alles Kapital abschaffen, alle Güter zum gemeinsamen Besitz erklären usw. Dies alles wird ganz ohne Beweis vorgebracht; wie sie es vor zwanzig Jahren gelernt haben, so plappern sie es auch heute nach. Erst wenn alles mit Feuer und Schwert ausgerottet ist, wird, wie sie glauben, der ewige Friede eintreten. Doch genug davon. Ihre Briefe, liebe Freundin, werde ich bestimmt und umgehend beantworten. Ihr Sie sehr liebender

Fjodor Dostojewskij.


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