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LVI.
An die Schwester Wera und die Nichte Sofia Alexandrowna Iwanowa-Chmyrowa, Dresden, den 7. (19.) Mai 1870

Meine lieben Freundinnen, Ssonetschka und Wjerotschka, ich habe euch schon gar zu lange nicht geschrieben; der Grund liegt nicht in meiner Faulheit, sondern in den vielen Sorgen der letzten Zeit und überhaupt in meiner unangenehmen Stimmung.

Wir wohnen noch immer in Dresden und sind vorläufig mit allem zufrieden. Die kleine Ljuba ist ein liebes und recht kräftiges Kind. Da wir schon ein Kind verloren haben, pflegen wir sie unter großen Sorgen. Anja stillt sie selbst, und es fällt ihr anscheinend von Tag zu Tag schwerer. Sie ist sehr abgemagert und heruntergekommen und verzehrt sich vor Heimweh.

Auch ich sehne mich entsetzlich nach Rußland zurück, und aus dieser Sehnsucht kommt meine ständige Aufregung. Meine Verhältnisse sind in denkbarst schlechtem Zustande. Wir haben zwar noch gerade so viel, daß wir noch leben können, doch an die Rückkehr nach Rußland dürfen wir gar nicht denken. Ich muß aber unbedingt zurückkehren, denn der hiesige Aufenthalt ist mir ganz unerträglich. Um von hier nach Petersburg zu ziehen, müssen wir noch vor Oktober aufbrechen; später wird es zu kalt sein, und die Kleine kann sich leicht erkälten. Zweitens müßten wir vor der Abreise, nur um die hiesigen Schulden bezahlen zu können, mindestens dreihundert Rubel haben; dazu noch die Reisekosten für unsere ganze Familie und die Einrichtung in Petersburg; alles zusammen macht eine nicht unbeträchtliche Summe aus. Dies alles ist aber noch nichts; die Hauptsache sind die Gläubiger. Ich schulde ihnen mit Zinsen beinahe sechstausend Rubel. Weniger als ein Drittel, d. h. als zweitausend Rubel, kann ich ihnen nicht bieten, damit sie mir den Rest noch für ein Jahr stunden. Sie werden übrigens auch dann darauf nicht eingehen, wenn ich dieses Drittel bezahle. Sie sind alle gegen mich erbost und werden sicher erbarmungslos über mich herfallen, um mich zu strafen. Rechnet es euch nur selbst aus, welche Summe ich haben muß, um alles zu ordnen, um zurückkehren zu können: doch mindestens drei bis vier Tausend. Wo soll ich diese Summe hernehmen? Das einzige, worauf ich bauen kann, sind meine literarischen Arbeiten. Auch vor drei Jahren, als ich Rußland verließ, hegte ich die gleichen Hoffnungen. Ich hatte damals mit einem Roman großen Erfolg gehabt, und es ist daher begreiflich, daß ich von der Hoffnung durchdrungen bin, einen neuen Roman zu schreiben, der es mir ermöglichen wird, in einem Jahr alle meine Gläubiger los zu werden. Als ich aber damals dreien Gläubigern auf einmal siebentausend Rubel bezahlt hatte, gerieten die anderen in Aufregung und fielen über mich her: warum habe ich nur jene drei Gläubiger befriedigt und nicht auch die übrigen? Sie verklagten mich, und ich reiste schleunigst ab, doch in der Hoffnung, daß es mir gelingen würde, in einem Jahr einen neuen Roman zu schreiben und alle Schulden zu bezahlen. Die Hoffnung wurde aber zuschanden. Der Roman ist mir mißlungen, und außerdem geschah noch etwas, was ich gar nicht voraussehen konnte: da ich so lange außerhalb Rußlands leben mußte, verlor ich die Fähigkeit, ordentlich zu schreiben; so darf ich auf ein neues Werk gar nicht mehr hoffen (die Schwierigkeiten sind weniger geistiger als materieller Natur: ich kann z. B., solange ich im Auslande lebe, keine persönlichen Ansichten über die gewöhnlichsten Ereignisse der Gegenwart haben). Ich habe den Plan zu einem neuen Roman gefaßt, dessen Erfolg ich für absolut sicher halte; doch ich kann mich unmöglich entschließen, ihn hier zu schreiben und muß ihn aufschieben. Augenblicklich schreibe ich eine ganz sonderbare Geschichte »Die Dämonen«. für den »Russischen Boten«, dem ich noch einen Vorschuß abzuarbeiten habe.

Sie wissen wohl noch, meine liebe Ssonetschka, was Sie mir anläßlich meines neuen, hier entstandenen Romans geschrieben haben: Sie wunderten sich, wieso ich die Verpflichtung übernähme, dergleichen Werke zu einem bestimmten Termin fertigzustellen. Nun ist aber die Arbeit, die ich jetzt für den »Russischen Boten« schreibe, noch viel schwieriger. Ich muß in fünfundzwanzig Bogen einen Stoff hineinzwängen, der mindestens fünfzig Bogen füllen müßte, nur um zum Termin fertig zu werden; ich muß es tun, weil ich augenblicklich, solange ich im Auslande bin, überhaupt nichts anderes schreiben kann. Die Redaktion der »Sarja« lobte über alle Maßen eine kleine Erzählung, die ich in dieser Zeitschrift erscheinen ließ. Auch die Kritiken in den Zeitschriften (»Golos«, »Petersburger Nachrichten« usw.) waren recht wohlwollend. Sie werden mir aber gar nicht glauben, wie ekelhaft es mir ist, dergleichen Novellen zu schreiben, während ich so viele fertig geformte Ideen im Kopfe habe; d. h. etwas ganz anderes zu schreiben, als ich möchte. Sie werden es sicher verstehen, Ssonetschka, daß dies allein schon eine große Qual ist. Dazu kommt noch meine verzweifelte Lage. Seit ich mich außerhalb Petersburgs befinde, sind meine dortigen Geschäfte und Verbindungen furchtbar vernachlässigt (obgleich der »Idiot« mißlungen ist, wollten mir doch mehrere Verleger das Recht für die zweite Auflage abkaufen; sie boten mir verhältnismäßig viel: eintausendfünfhundert bis zweitausend Rubel). Doch alle Pläne sind ins Wasser gefallen, denn ich hatte in Petersburg niemand, der die Sache für mich besorgen könnte. So steht es also mit mir. Ich rede schon gar nicht davon, wie sehr mir Anna Grigorjewna leid tut, die sich entsetzlich nach Rußland sehnt. Ich kann in diesem Brief unmöglich alles sagen. Und doch habe ich endgültig beschlossen, auf jeden Fall noch im Herbst dieses Jahres nach Rußland zurückzukehren, und werde es ganz bestimmt durchsetzen. Selbstverständlich werde ich auch nach Moskau kommen (schon aus rein geschäftlichen Gründen), wenn mich die Gläubiger nur nicht gleich nach meiner Ankunft ins Petersburger Gefängnis sperren. Auf jeden Fall hoffe ich, euch alle, meine Lieben, Anfang des Winters wiederzusehen.

In aufrichtiger Liebe: Fjodor Dostojewskij, Anja und Ljuba.


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