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»Sag mal, Karl, was ist denn mit dem Ältesten von unserem Gemeindehirten los? Man bekommt ihn gar nicht mehr zu sehen.«
Fritz Lautensach stellte die Frage an Karl Kundtke, der gerade damit beschäftigt war, ein Stückchen roten Fries an eine Angelschnur zu knüpfen.
»Nanu Fritze, du weißt doch sonst alle Neuigkeiten. Hast du nichts davon gehört? Klaus hat eine Anstellung bekommen.« Während er das sagte, warf Kundtke das Ende der Schnur mit dem roten Lappen in das Bachwasser.
»Eine Anstellung bekommen? – Wo denn? Wie denn?«
»Ja, der Kerl hat mächtiges Glück gehabt. Irgendwie hat er die Bekanntschaft mit einem Baumeister von der Bahngesellschaft gemacht. Du weißt doch, daß wir hier eine Bahn herkriegen sollen. Und der Baumeister hat ihn . . . hallo hopp! . . .«
Karl Kundtke zog die Schnur aus dem Wasser heraus. Ein großer Frosch hatte nach dem roten Läppchen geschnappt, hielt es mit den Kiefern krampfhaft fest und ließ sich aus dem Wasser herausholen.
»So, da hätten wir wieder einen.«
»Laß doch den dummen Frosch.«
»Bist selber ein Frosch«, gab Kundtke schlagfertig zurück.
»Ach was, erzähle doch lieber. Was hat denn Klaus da zu tun, und vor allen Dingen, bekommt er was für seine Arbeit?«
Karl Kundtke steckte den Frosch in die Botanisiertrommel.
»Dumme Frage! Natürlich bekommt er was dafür. Denk dir mal, eine blanke Mark pro Tag.«
»Donnerwetter, eine Mark, jeden Tag, da muß er ja reich werden. Was hat er denn dafür zu tun?«
Karl Kundtke hängte sich die Botanisiertrommel um und wickelte seine Schnur zusammen.
»Geschenkt bekommt er das Geld nicht. Er arbeitet bei einem Feldmesser, der hier die Bahnstrecke ausmißt. Wenn wir den Bach weiter runtergehen, können wir ihn vielleicht bei seiner Arbeit beobachten.«
»Gut, Karl, das wollen wir machen.«
Die beiden wanderten den Bach entlang und näherten sich den Hörselwiesen. Plötzlich blieb Kundtke stehen und deutete in die Ferne.
»Kannst du sehen? Da hinten.«
Fritz folgte der Richtung des ausgestreckten Armes. Da, weit hinten auf der Wiese war ein großer gelber Sonnenschirm aufgestellt. Darunter stand ein Mann vor einem dreibeinigen Stativ, das eine Tischplatte und darüber eine Art von Fernrohr trug. Der Mann machte mit beiden Händen abwechselnd Zeichen.
»Was hat denn der? Was bedeutet das?« fragte Fritz Lautensach.
»Das gilt unserem Freunde Klaus. Sieh mal da weiter, etwa zweihundert Meter nach rechts, da kannst du ihn wie einen Frosch auf der Wiese herumspringen sehen.«
Fritz Lautensach kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Es war in der Tat Klaus Kröning, der dort in weiter Ferne durch das Gras lief, eine Meßlatte in der Hand, ein weiteres halbes Dutzend davon unter dem linken Arm. Jetzt blieb er stehen. Ein neuer Wink von dem Manne unter dem Schirm her. Er stieß die eine Latte senkrecht in den Boden und trabte mit den anderen weiter.
Eine ganze Weile standen Karl Kundtke und Fritz Lautensach und beobachteten die Tätigkeit ihres Kameraden.
»Na Karl, sehr kurzweilig stelle ich mir das nicht vor, den ganzen Tag auf der Wiese rumlaufen und Stäbe in den Boden zu stecken. Frösche fangen macht mehr Spaß.«
Karl Kundtke bewegte nachdenklich den Kopf.
»Das schon, Fritz. Aber denke doch mal, eine Mark den Tag. Was der Klaus sich da zusammensparen kann. Der ist ja ein reicher Mann, wenn die Schule wieder anfängt.«
Karl Kundtke begann zu rechnen und genierte sich nicht, die Finger dabei zu Hilfe zu nehmen. Kantor Wendelmut wäre sicher entrüstet gewesen, wenn er es gesehen hätte.
»Ich sage dir, Fritz, er wird wohlhabend. Sechs Wochen Ferien, die Woche zu sechs Tagen, 6×6 . . . Menschenskind, der hat ja 36 Mark, wenn die Ferien vorbei sind.«
Fritz Lautensach zuckte abweisend mit den Schultern. »Ach was, das Geld darf er ja nicht behalten. Das muß er doch seinem Alten abliefern. Dafür verdirbt er sich die ganzen Ferien und nachher ist's wieder so, wie's war.«
Karl Kundtke schüttelte den Kopf.
»Du, das glaube ich nicht. Der Klaus bleibt dabei. Der bleibt bei der Eisenbahn. Der geht nicht mehr zum Bauern, wenn wir die Schule hinter uns haben.«
Hätte Karl Kundtke in diesem Moment die Gedanken Klaus Krönings gekannt, er wäre nicht so fest davon überzeugt gewesen, daß der dabei bleiben würde. Klaus war jetzt fünf Tage dabei als Gehilfe des Landmessers Wendt, der ihn auf den Wunsch des Baumeisters Jensen angenommen hatte. Fünf Tage, in denen er mehr gelaufen und gesprungen war als früher in fünf Wochen. Schon am frühen Morgen begann die Arbeit. Da zogen die beiden aus und Klaus hatte einen leichten Handwagen zu ziehen, der mit dem ganzen Feldmeßgerät beladen war. An der letzten Latte, die sie am vorangegangenen Tage gesteckt hatten, machten sie halt. Hier wurde der Schirm aufgestellt und darunter der Stativtisch mit dem wunderlichen Fernrohr. Einen Theodolithen nannte Feldmesser Wendt das Ding. Dann ging die Arbeit los, eine Arbeit, die für Klaus hauptsächlich im Laufen bestand.
Aber wie mußte er laufen. Das hatte ihm Wendt gleich am ersten Tage beigebracht.
»Klaus, mein Junge«, hatte der zu ihm gesagt, »die Hauptsache ist, daß ein Feldmesser einen konstanten Schritt besitzt. Ja, du hast natürlich keine Ahnung, was das bedeutet. Also jetzt marschiere mal geradeaus auf die Pappel da zu und zähle dabei deine Schritte. Du mußt ganz natürlich marschieren, wie du immer zu gehen pflegst. Beim hundertsten Schritt bleibst du stehen und drehst dich zu mir um.«
Klaus hatte das getan. Dann war der Feldmesser ihm nachgegangen, wobei er die eigenen Schritte ganz automatisch zählte, hatte etwas in sein Notizbuch geschrieben, einen Bruch, soviel Klaus sehen konnte, und dann hatte sich das gleiche Experiment noch ein halbes Dutzend mal wiederholt. Darauf hatte Wendt ihn einen Blick in das Notizbuch tun lassen, in dem sechsmal hintereinander der gleiche Bruch geschrieben stand.
»Du hast einen ganz guten Schritt, mein Junge. Vielleicht kann aus dir noch mal was werden. Aber merk es dir und beherzige es. Immer genau so gehen, wie du jetzt gegangen bist und immer die Schritte zählen . . . genau zählen, sonst hat die Sache keinen Zweck.«
Und dann war die Arbeit angegangen. In einer bestimmten Richtung wurde Klaus ins Feld geschickt. Sobald er um ein geringes abwich, brachte ihn Wendt durch Zurufe wieder auf den richtigen Kurs. Alle hundert Schritt mußte er eine Latte stecken, während der Feldmesser dazu seine Eintragungen auf der Karte machte. Wenn dann wieder so eine Strecke von etwa einem Kilometer abgesteckt war, dann fing die Lauferei von Klaus erst so richtig an. Dann hieß es die Grenzsteine auf den Wiesen suchen, die jetzt im hohen Gras besonders schwer zu finden waren. Bei jedem Stein mußte er mit einer Latte Aufstellung nehmen und stramm stehen, während Wendt mit dem Theodolithen visierte, Winkel maß und seine Richtlinien auf der Karte eintrug.
Das strengte Sehnen und Muskeln ganz gehörig an. Wenn der Tag vorüber war, schmerzten Klaus alle Gelenke. So anstrengend hatte er sich seine Tätigkeit bei der Eisenbahngesellschaft doch nicht vorgestellt. Die ersten Tage wollte er fast verzweifeln. Aber schon in der zweiten Woche merkte er, wie sein Körper sich unter dieser Anstrengung zu kräftigen begann. Er lernte das kennen, was der Sportsmann als Training bezeichnet. Von Tag zu Tag wurde ihm die Arbeit leichter, und dann kam etwas dazu, was er bald gar nicht mehr missen mochte, die mittägliche Plauderstunde mit dem Feldmesser Wendt.
Die Trassierungsarbeiten mußten ja zum größten Teil in so weiter Entfernung von bewohnten Ortschaften ausgeführt werden, daß es nicht möglich war, zum Essen in irgendein Wirtshaus zu gehen. Da hieß es dann die mitgebrachten Vorräte im Freien verzehren, und während dieser einen Stunde wurde Wendt gesprächig und unterhielt sich gern mit seinem jungen Gehilfen. In den ersten Tagen hatte er sich nur über die Verhältnisse von Klaus erkundigt, nach seinen Eltern und seinem bisherigen Leben gefragt. Dann aber, als er sah, daß Klaus mit Lust bei der Sache war, begann er ihn in die Geheimnisse der Feldmesserkunst einzuweihen, und ohne daß er es recht merkte, lernte Klaus an jedem Tage von ihm.
Da war dieser geheimnisvolle Apparat auf dem Plantisch. Ein Fernrohr? – Gewiß! Wendt ließ ihn hindurchschauen, drehte das Rohr nach allen Seiten. Klaus staunte. War es doch das erstemal, daß er durch solch ein Rohr blickte. Immer wieder wunderte er sich darüber, wie handgreiflich nahe die fernen Dinge durch dies kleine Rohr herankamen.
Aber das war nur der Anfang. Wendt machte ihm bald klar, daß dies Fernrohr eigentlich nur ein nebensächlicher Teil des ganzen Apparates sei, daß man es zur Not auch durch einen einfachen Visierstab ersetzen könne. Und dann wies er ihm die Gradeinteilungen an dem Theodolithen. Zeigte ihm, wie man mit Hilfe der an dem Apparat montierten Magnetnadel den Winkel jeder Visierlinie mit der Nord-Süd-Linie messen könne. Wie man mit Hilfe der Libelle auch die Höhenunterschiede bis auf Zentimeter zu ermitteln vermöge. Schon in der zweiten Woche kannte Klaus den Theodolithen in allen seinen Einzelheiten, und in der dritten Woche hätte er es sich wohl zugetraut, selbst damit zu arbeiten.
Daran war ja nun vorläufig nicht zu denken, aber er wußte doch jetzt wenigstens, was es mit seinen verschiedenen Märschen und Gängen über die Felder auf sich hatte, was es zu bedeuten hatte, wenn er bald hier, bald dort Grenzsteine aufsuchen und markieren mußte. Und mit dem Verständnis wuchs die Liebe zur Arbeit.
Wie im Fluge vergingen die Tage. Schon war die letzte Ferienwoche angebrochen. Rüstig waren in dieser Zeit die Trassierungsarbeiten um viele Kilometer fortgeschritten. Immer länger und beschwerlicher wurde für Klaus der Weg zwischen dem Elternhaus und seiner Arbeitsstelle. Außerdem machte er sich Gedanken, wie es nun am Ende der Ferien weiter werden solle. Die Schule – morgens von 7 bis 11 – dazu zweimal in der Woche von 2 bis 4 – er sah keine Möglichkeit, wie er gleichzeitig die Schule besuchen und bei der Eisenbahn bleiben könne.
Gelegentlich hatte er seine Sorgen und Zweifel in der Mittagspause dem Feldmesser zu offenbaren versucht. Aber der war jedesmal mit ein paar Scherzworten darüber hinweggegangen.
»Laß nur, Klaus! Das findet sich alles beim Ausfegen. Das werden wir schon zur rechten Zeit ins Lot bringen. Du hast in Baumeister Jensen einen Freund, der dir wohl will.«
Ja, Baumeister Jensen – den hatte Klaus seit jenem Sonntag im Gasthaus zur Post nicht wiedergesehen. Wo mochte der jetzt wohl stecken?
Als die Arbeit an diesem Tage vollendet war, machte sich Klaus auf den Heimmarsch. Reichlich zwei Meilen hatte er zu marschieren. Jetzt sah er den Kirchturm von Seehausen, jetzt hatte er die Dorfstraße erreicht. Unwillkürlich ging er schneller, wie ein Pferd, das die Nähe des Stalles wittert. Nun noch eine letzte Wegbiegung, und das Haus lag vor ihm. Da plötzlich stutzte er, blieb stehen, beschattete die Augen mit der Hand, blickte schärfer. Standen dort nicht zwei Männer im Vorgarten – nein, drei sogar, der eine davon sein Vater. Der andere, das war doch sein Lehrer, der alte Kantor Wendelmut. Und der dritte . . . Klaus stieß einen Freudenschrei aus und lief auf das Haus zu. Der dritte, das war ja der Baumeister Jensen, der da mit den beiden anderen sprach.
Klaus trat in den Garten. Beim Eintritt bemerkte er ein funkelnagelneues Fahrrad, das an der Wand lehnte. Offenbar war Jensen damit gekommen.
»Hallo Klaus, da bist du ja!« Der Baumeister streckte ihm die Hand entgegen.
»Herr Baumeister, wie freue ich mich, Sie zu sehen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, mein Junge. Ich habe gehört, daß dir's bei der Eisenbahn gefällt und daß du deine Sache gut machst.«
Klaus wurde rot bei dem Lob.
»Ja, Herr Baumeister, ich bin gern dabei . . . aber . . .« Er warf einen Seitenblick auf den Kantor. Baumeister Jensen fing ihn auf und lachte.
»Ich kenne deine Sorgen, Klaus. Herr Wendt hat mir davon erzählt. Nun wird's Zeit, daß wir die Sache ins reine bringen. Was meinen Sie, Herr Kantor?«
Justus Wendelmut schob die Brille auf die Stirn und blickte Klaus prüfend an.
»Es ist so, wie ich's Ihnen sagte, Herr Baumeister. Der Junge ist ein guter Schüler und sitzt schon das zweite Jahr in der ersten Klasse. Viel lernen kann er bei mir nicht mehr. Wenn Sie ihm Gelegenheit geben, sich neben seiner Arbeit weiterzubilden, so will ich ihn schon jetzt in Gottes Namen von der Schule dispensieren.«
Klaus Krönings Augen leuchteten auf. Mit einem Schlage sah er die Sorge, die ihn die letzten Wochen bedrückt hatte, schwinden. Baumeister Jensen sprach weiter.
»Dann sind wir also einig, Klaus, daß du bei der Eisenbahn bleibst. Schlag ein.«
Freudig schlug Klaus in die dargebotene Hand.
»So, mein Junge, das wäre abgemacht. Nun zu Punkt zwei unserer Tagesordnung. Die Trassierung geht immer weiter, die Wege werden für dich immer länger.«
»Oh, Herr Baumeister, ich laufe gerne.«
»Du hast genug bei der Arbeit zu laufen. Zeit ist Geld. Auf dem Rade kommst du in 15 Minuten so weit wie zu Fuß in einer Stunde. Also da schau her, das Rad dort ist deins.«
Seine Freude war so groß, daß er erst nach einiger Zeit Worte des Dankes finden konnte. Jensen wehrte lächelnd ab.
»Laß gut sein, Klaus. Das geschah im Interesse unserer Gesellschaft. Es liegt uns daran, daß du frisch bei der Arbeit bist und nicht schon halb kaputt ankommst. Die Hauptsache ist jetzt, daß du auch fahren lernst. Das Rad allein tut's ja nicht.« – – –
Der Sommertag ging zur Neige. Schon war die Sonne hinter den Bergkämmen im Westen versunken, und die Schatten begannen zu wachsen.
»Sieh mal, da!« Während er die Worte ausstieß, packte Karl Kundtke seinen Freund Fritz Lautensach am Arm, daß er am nächsten Tage blaue Flecke hatte. Ärgerlich riß er sich los.
»Was soll ich denn sehen? Meinst du den Radfahrer da? Die sind doch keine Seltenheit mehr.«
»Radfahrer da? . . . Mensch, sperr doch die Augen auf. Hast du nicht gesehen, wer's war?«
»Keine Ahnung. Woher soll ich jeden Radfahrer kennen?«
»Na, dann paß jetzt auf. Dahinten kommt er zurück. Sieh ihn dir ordentlich an.«
In der Ferne tauchte ein blinkendes Rad auf und kam schnell näher. Wie ein Wirbelwind sauste der Fahrer an ihnen vorüber. Fritz Lautensach stand da und sperrte Mund und Nase auf.
»Ist das? . . . war das nicht . . .?«
»Klaus Kröning war's! Hast du's endlich begriffen?«
»Ja, aber . . . wie kommt der zu einem Rad? . . . Wo hat er fahren gelernt?«
»Keine Ahnung. Ich weiß es sowenig wie du.«
Fritz Lautensach kratzte sich bedenklich hinterm Ohr.
»Na, wenn wir ihn nicht vorher sehen, in vier Tagen fängt ja die Schule an. Da muß der Duckmäuser mit seinen Geheimnissen rausrücken.«