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Fast ein Jahr war seit dem Tode des kleinen Charly Beckers verstrichen, als John Workmann eines Nachmittags nicht, wie es seine Mutter gewohnt war, zu dem Maschinensaal des Zeitungsriesen ging, um dort seine Wißbegierde zu befriedigen, sondern zur Verwunderung seiner Mutter zu Hause blieb.
Schweigsam saß der jetzt vierzehnjährige Knabe vor dem abgedeckten Tisch und zeichnete mit einem blauen Stift allerlei Kreise und Figuren auf den Rand einer vor ihm aufgeschlagenen Zeitung.
»Es ist bereits 2 Uhr, John«, sagte die Mutter, welche glaubte, daß er in seinen Gedanken versunken nicht auf die Zeit geachtet habe.
»Ich weiß, Mutter«, antwortete John Workmann.
»Willst du denn nicht zu Mister Bennett?«
»Nein, Mutter, die Sache ist erledigt für mich.«
Ein hastiger Schreck durchzuckte die Mutter. Sie fürchtete, daß John Workmann irgendwelchen Ärger und Verdruß gehabt und sich die große Chance, wie sie es ansah, verscherzt habe.
»Aber John«, begann sie in empfindlichem Ton, »was ist dir denn geschehen? Hast du dich mit dem Maschinenmeister überworfen oder sonst irgendwelchen Ärger gehabt?«
»Nein, nein, Mutter, beruhige dich, ich habe mit niemand von den Arbeitern Ärger gehabt, noch ist mir sonst irgend etwas zugestoßen.«
»Aber warum willst du denn nicht hingehen, bedenke doch einmal, welche große Zukunft dir offensteht, wenn Mister Bennett dich jetzt, wo du so vieles verstehst, beschäftigt!«
Da blickte John Workmann mit einem merkwürdig ernsten Gesicht, das so gar nicht zu seinen vierzehn Jahren paßte, seine Mutter an und es war ihr, als ob dort nicht ihr vierzehnjähriger Junge, sondern ein erfahrener erwachsener Mensch vor ihr säße.
»Sieh mal, Mutter«, sagte John Workmann, »ich habe den Zweck erreicht, genau wie ich wollte. Um das zu werden, was ich vorhabe, war es nötig, daß ich den Riesenapparat, der in solcher Zeitung steckt, in allen seinen Teilen kenne.
Das ist nun geschehen. Ich kenne den Betrieb der Druckmaschinen, weiß, wie die Setzmaschinen gehandhabt werden, kenne also ihre Vorzüge und Nachteile und habe gesehen, wie eine Maschine sparsam bedient werden kann und was sie leisten muß.
Sieh mal, Mutter, das genügt! Ich könnte morgen nun an irgendeiner dieser Maschinen als vollbezahlter Arbeiter eintreten und glaube, da ich überall an den Maschinen bereits praktisch gearbeitet, daß ich meinen Posten ganz gut ausfüllen werde. Aber –«
John Workmann machte eine Pause, blickte wieder auf die verschlungenen Linien, die er auf dem Zeitungsrand gemalt, nahm den Bleistift und zeichnete noch einige Linien mehr.
Das war ein Zeichen der in ihm steckenden Nervosität. Stets, wenn er sich über irgendeine große Sache klarwerden wollte, malte er solche krause Zeichen, die eigentlich ohne Sinn und Verstand waren.
»Nun aber«, fragte seine Mutter, »könntest du nicht dem Himmel danken, daß du als so junger Mensch, du bist kaum vierzehn Jahre, soviel verstehst wie ein gelernter Arbeiter?
Bedenk einmal, wenn dich Mister Bennett die Woche mit achtundzwanzig bis dreißig Dollar, wie sie die Arbeiter dort verdienen, anstellen würde!«
»Sogar fünfunddreißig Dollar, Mutter. Ja, welche verdienen sogar durch Überstunden das Doppelte.«
»Ja, aber Junge, weshalb greifst du denn nicht zu? Wir können ja in einigen Jahren, wenn du weiter so sparsam lebst wie jetzt, ein kleines Vermögen haben.«
Da lachte der Junge bitter auf.
»Das ist es ja eben, worüber ich mir klargeworden bin.
Man soll mit dem Pfunde, das einem der liebe Gott gegeben, für seinen besten Vorteil wuchern. Sieh mal, Mutter, wenn ich dort nun als Arbeiter eintrete, dann würde ich nur ein Viertel von dem, was ich verstehen gelernt habe, ausnutzen können. Was tue ich nun mit den anderen drei Vierteln?«
»Das verstehe ich nicht«, entgegnete die Mutter. »Ich denke, jeder Mensch hat auf dem Platz, auf dem er arbeitet, seine ganze Kraft nötig, und nicht nur ein Viertel.«
»Nein, Mutter, ich habe es draußen in der Welt anders gelernt. – Es gibt einen Unterschied, den der liebe Gott in den Menschen hineinlegt. Der eine besitzt Kraft, der andere Intelligenz.
Die Menschen, welche nur Körperkraft besitzen, vermögen allerdings auf dem Arbeitsplatz, auf dem sie stehen, nur mit allem, was sie besitzen, einzutreten, und das genügt ihnen auch.
Derjenige Mensch aber, der mit einer großen Intelligenz begabt ist, kann diese nur voll ausnützen, wenn seine Arbeit mit seiner Intelligenz im Einklang steht.
Mir sagte man dort in der Druckerei und in den Maschinenräumen nach, daß ich in meinem Kopf eine ganze Portion solcher Intelligenz hätte.
Und ich muß dir auch offen gestehen, Mutter, ich wüßte nicht, wo ich den Arbeitsplatz bei Mister Bennett fände, an dem ich meine Kräfte so ausnutzen könnte, daß ich mich zu meiner inneren Zufriedenheit voll betätigen könnte.«
Mit großen Augen blickte seine Mutter auf ihn. Zum ersten Male sprach sie mit ihrem Sohn in solcher Art. Wie ein fremder Mensch erschien ihr plötzlich der Knabe.
Sie erfuhr plötzlich den bitteren Schmerz, wie so viele andere Mütter, wenn das Kind anfängt, die Knabenschuhe auszuziehen.
Zu antworten wußte sie nichts.
Das, was John ihr sagte, war ihrem einfachen Denken zu hoch.
Sie fühlte wohl die Wahrheit der Worte, aber sie vermochte den Sinn nicht zu erfassen. Beinahe ratlos blickte sie auf John Workmann, und als er jetzt wiederum schwieg und weiter krause Zeichen auf das Papier malte, sagte sie endlich:
»Ja, aber John, was soll denn nun werden? Du kannst doch nicht dein ganzes Leben hindurch Zeitungen verkaufen?«
Mit prächtigem Glanze leuchteten plötzlich die Augen John Workmanns auf.
»Warum nicht, Mutter!« und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund.
Die Frau schlug die Hände zusammen. »Aber John – solch Geschäft machen doch nur Jungen!«
»O nein, Mutter«, lachte John Workmann, »Mister Bennett tut das, was ich bis jetzt tat, auch. Er verkauft Zeitungen.
Nur mit einem Unterschied, er verkauft seine eigenen Zeitungen. Und sieh mal, Mutter, nachdem ich gesehen habe, wie das gemacht wird, seine eigenen Zeitungen zu verkaufen, da habe ich mir nun in den Kopf gesetzt, dasselbe zu tun wie Mister Bennett und meine eigenen Zeitungen zu verkaufen.«
»Was willst du?« rief die Mutter. »Du wirst deine eigenen Zeitungen verkaufen? – John – John – ich fürchte, du wirst ein Phantast, wie dein Vater.«
»Ich hoffe nicht. Aber ich glaube«, und er sah seine Mutter schelmisch an, »ich habe von dir so viel praktisches Blut erhalten, daß sich die Phantasie, welche ich besitze, sehr gut in praktische Bahnen lenken lassen wird.
Du sagst ja selbst, daß ich nicht träume, wie es Vater getan hat, und nicht tagelang irgendwelcher Phantasie nachhänge, – sondern –« jetzt reckte John Workmann seine Gestalt – »ich arbeite praktisch und verdiene Geld.«
»Das weiß ich, John, das weiß ich! Weshalb willst du denn aber nicht einige Zeit wie alle Arbeiter bei Mister Bennett Geld verdienen?«
»Nein, Mutter, nein, ich habe noch viel zu lernen, und Mister Bennett könnte mir die Zeit und das, was ich an Verdienst versäume, nicht bezahlen. Sei nur ohne Sorge, Mutter, gegen Hunger werde ich dich durch meine Arbeit, solange ich lebe, stets schützen. Aber du darfst auch nicht mit mir zürnen, wenn ich das zu erreichen suche, wozu ich die Kraft in mir finde.«
Er erhob sich und sah jetzt, daß seine Mutter mit tränenden Augen zu ihm blickte. All sein Ernst verschwand, der Knabe kam bei ihm plötzlich wiederum zum Durchbruch.
Er stürzte zu ihr hin, umarmte sie, küßte ihr das Gesicht und rief:
»Sieh mal, Mütterchen, du mußt nicht traurig deshalb sein. Es ist ja doch das Beste, was ich will.«
»Ich weiß, John, ich weiß und will ja auch ganz zufrieden sein mit allem dem, was du tust. Denn schlecht kann mein Sohn niemals sein.«
Während er noch seinen Arm um ihren Nacken schlang, klopfte es an die Tür, und da sie beide nicht darauf achteten, wurde die Tür geöffnet und Fred Barney, ein zehnjähriger Zeitungsjunge, trat in das Zimmer.
»Hallo, Fred!« rief John erstaunt aus, ließ seine Mutter los und schritt zu dem Jungen – »was willst du bei mir?«
Jetzt sah John, daß in den Augen von Fred Barney dicke Tränen standen.
»Was ist, Fred?« rief John Workmann von neuem, »was ist dir geschehen? Ich sehe, daß du weinst!«
»Ja, John«, erwiderte der Junge mit erstickter Stimme, »mir ist etwas Schlimmes passiert. Ich weiß mir nicht zu helfen. Die Polizei hat meinen Bruder Robert verhaftet.«
»Robert ist verhaftet? – – Ich kenne doch Robert als einen braven Jungen, der keinem Menschen etwas zuleide tut. Was hat er denn getan?«
»Gar nichts«, weinte Fred Barney.
»Hör mal, Fred«, sagte John Workmann, »setze dich hier an den Tisch, wische deine Tränen ab und erzähle mir so gut du es kannst, was da geschehen ist. Denn sonst kann ich dir nicht helfen.
Und dann, Mutter, laß uns bitte allein. Vielleicht schämt er sich, vor dir zu sprechen.«.
Ohne etwas zu erwidern, begab sich die Mutter in die Küche, und als sie die Tür hinter sich geschlossen, sagte John Workmann:
»Jetzt höre mit dem Geflenne auf, Fred, Du bist doch kein altes Weib!«
»Nein, das bin ich nicht«, heulte Fred Barney noch weiter, »aber denke dir einmal an:
Ich gehe mit meinem Bruder den Broadway hinunter, wir hatten noch einige Zeitungen zu verkaufen, da bleibt mein Bruder, während ich einem Herrn die Zeitung verkaufe, an einem Schaufenster stehen. An demselben Fenster standen noch eine Dame und zwei andere Jungens.
Plötzlich höre ich, wie die Dame nach einem Polizisten ruft, meinen Bruder an den Schultern packt und festhält und schreit:
»Du Bengel, du hast mir meine Handtasche gestohlen!«
Im nächsten Augenblick trat ein Detektiv auf meinen Bruder zu, alle Leute blieben stehen und – denk dir einmal an, John, aus dem Zeitungspaket, das mein Bruder unter dem Arm trägt, zieht der Detektiv eine kleine goldene Handtasche, deren Kette durchgerissen oder durchgeschnitten war.
Obwohl mein Bruder allen Leuten beschwor, daß er die Tasche nicht gestohlen, nahm ihn der Detektiv mit zur Polizei.
Ach, John, – wenn du ihm nun nicht hilfst, ist er verloren!«
John Workmann hatte die Arme über die Brust gekreuzt und seine Augenbrauen ernst zusammengezogen.
»Das ist eine schlimme Geschichte, Fred«, sagte er nach einigem Nachdenken. »Ich glaube, da wird deinem Bruder nichts helfen können.«
»Aber du weißt doch, John, daß mein Bruder noch niemals irgendeinem Menschen etwas gestohlen hat.«
»Aber wie wollen wir das beweisen?«
»Ach, John«, sagte Fred Barney, »du kannst alles. Du mußt ihm helfen! Auch die anderen Jungen gaben mir den Rat, sofort zu dir zu gehen. Du bist der einzige Mensch, der hier helfen kann.«
»Ich werde versuchen, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Komm einmal jetzt mit mir, wir wollen zu dem Rechtsanwalt Mister Bennetts gehen. Ich glaube, der wird uns Rat geben können.«
Eine halbe Stunde später befand sich John Workmann im Büro dieses Rechtsanwalts, Mister Frank, und sandte ihm die Karte Mister Bennetts, welche ihm bis jetzt von so großem Nutzen gewesen, hinein. Sofort ließ der Rechtsanwalt John Workmann und Fred Barney zu sich kommen.
Aufmerksam hörte er von John Workmann den Fall von Robert Barney und sagte dann:
»Ich vermag Ihnen nicht viel Hoffnung zu machen, John Workmann, nach unserem Gesetz ist das beinahe unmöglich!
Der gestohlene Gegenstand ist im Besitz von Robert Barney gefunden worden, und die Dame, welche behauptet, daß Robert Barney ihr die Tasche gestohlen, wird dieses auch wieder vor Gericht unter ihrem Eide aussagen. Da nutzen alle Unschuldsbeteuerungen nichts. Ich glaube, Robert Barney wird auf die Insel oder ins Gefängnis geschickt werden.
Ich will mich aber für den Fall interessieren und die Verteidigung von Robert Barney übernehmen.
Das ist alles, was ich euch versprechen kann.«
Als John Workmann durch den Palast des Zeitungsriesen mit dem weinenden Fred Barney schritt, überlegte er scharf einige Sekunden, was er jetzt wohl tun könne.
In einer halben Stunde war die erste Abendausgabe fällig. Es hatte keinen Zweck mehr für ihn, nach Hause zu gehen.
Fred Barney aber schaute mit hoffnungsvollen Augen auf John Workmann, und dies Vertrauen des Jungen spornte John Workmann zu schärferem Überlegen an.
Dem Robert Barney mußte geholfen werden.
Plötzlich stieß John Workmann einen scharfen Pfiff aus.
»Ich hab's, Fred«, rief er. »Ich sehe jetzt in der ganzen Sache klar. Die Hauptsache ist, daß du die beiden Jungens, die auch noch bei der Dame gestanden haben, wiedererkennst und sie uns so bezeichnest, daß wir sie auch zu erkennen vermögen.
Wirst du das können?«
»Ja, das kann ich. Ich kenne sogar den einen von ihnen. Er heißt Bill Smith und wohnt in Brooklyn. Wir waren eine Zeitlang auf der Schule zusammen. Er war immer ein Bengel, der nie in die Schule ging und oftmals deswegen bestraft wurde.
Nach der Schule hat er mit anderen Jungens zusammen Streifzüge in die Stadt unternommen und, wo sie etwas zu stehlen fanden, genommen.«
»Das wird der Dieb sein, und jetzt wollen wir nach Brooklyn fahren und sehen, ob wir ihn fangen können.
Wir werden heute einmal keine Abendausgabe verkaufen können. Roberts Rettung ist das Wichtigste.«
»Was willst du denn mit Bill Smith?« fragte Fred Barney.
»Das wirst du sehen, Fred. Die Hauptsache ist, daß wir ihn überhaupt finden werden! Hat er denn Eltern?«
»Jawohl! Sein Vater hat eine Branntweinschenke.«
Stundenlang suchten John Workmann und Fred in Brooklyn nach der Wohnung Bill Smiths, aber die Nachtzeit kam und sie hatten nichts erreicht.
Weinend schritt Fred Barney an der Seite John Workmanns gegen Mitternacht nach Hause. Und auch John Workmann war ziemlich niedergeschlagener Stimmung und vertröstete den Kleinen auf den anderen Tag.
»Morgen ist es zu spät!« heulte Fred Barney, »denn morgen wird mein Bruder vor den Richter geführt und erhält seine Strafe.«
In dieser Nacht vermochte John Workmann kein Auge zu schließen. Er starrte in das Dunkel seines Zimmers und suchte nach einem Weg, der den nach seiner reinsten Überzeugung unschuldigen Robert Barney erretten mußte.
*
Am nächsten Morgen gab John Workmann seinen Kameraden bei der Zeitungsausgabe den Wunsch kund, sich, bevor sie zur Schule gingen, noch einmal vor dem Zeitungspalast zu versammeln, er hätte ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.
Als nach zwei Stunden die Jungen wieder vollzählig vor dem Zeitungspalast standen, sagte John Workmann:
»Jungens, ihr wißt, daß Robert Barney gestern verhaftet worden ist. Haltet ihr ihn für schuldig?«
In den Augen der Knaben blitzte ehrlicher Zorn auf.
»Nein«, riefen sie, »Robert Barney ist ein ehrlicher Junge! Das können wir bezeugen.«
»Das kann ihm nichts nützen«, entgegnete John Workmann. »Aber vielleicht können wir ihm in anderer Weise behilflich sein. Kennt jemand von euch Bill Smith aus Brooklyn?«
»Jawohl! Wir«, riefen zwei Knaben. »Wir gehen mit ihm in dieselbe Schule. Er ist ein Halunke!«
»Das weiß ich!« sagte John Workmann. »Ich habe mich gestern bemüht, den Jungen aufzufinden, was mir aber nicht gelungen ist.«
»Ich sah ihn vor fünf Minuten den Broadway hinunterschlendern. Bei ihm waren noch mehrere fremde Jungens, Schuljungens«, rief einer der Knaben.
»Wo saht ihr ihn?« fragte John Workmann.
»An der 32. Straße. Dort treibt er sich immer herum.«
»Dann haben wir keine Zeit zu verlieren, Jungens! Es ist jetzt ½8 Uhr, und um 10 Uhr wird Robert Barney vor den Richter geführt, der darüber zu bestimmen hat, ob er schuldig ist oder nicht. Bis dahin müssen wir Bill Smith gefunden haben. Wir wollen jetzt versuchen, und alle Jungen können uns helfen, den Bill Smith festzunehmen, da ich mit ihm ein ernstes Wort zu sprechen habe.
Es gilt die Unschuld von Robert Barney festzustellen. Bill Smith gehört statt Robert Barney ins Gefängnis. Damit er uns nicht entgehen kann, wollen wir uns in zwei Parteien teilen, deren jede auf einer Seite des Bürgersteiges den Broadway bis zur 32. Straße hinuntergeht. Wer ihn von uns trifft, hält ihn sofort fest.«
Alle erklärten sich mit dem Plane einverstanden. Und wie auf einer regulären Streife schritten sie den Broadway jetzt hinab bis zur 32. Straße.
Sie brauchten nicht lange zu suchen.
Vor einem Laden, worin es Zigaretten und Süßigkeiten zu kaufen gab, stand Bill Smith mit vier Jungens und verteilte unter sie Zigaretten, als John Workmann auf ihn zutrat, ihm die Hand auf die Schultern legte und sagte:
»Well, Bill Smith, es freut mich, dich zu sehen. Ich habe mit dir etwas zu sprechen.«
Bill Smith war ein kräftig entwickelter Junge. Er war fast einen halben Kopf größer als John Workmann.
»Was bist du für ein Affe!« antwortete Bill Smith und schaute John Workmann verächtlich an.
»Darüber wollen wir uns woanders unterhalten«, sagte John Workmann ruhig.
In diesem Moment bemerkte Bill Smith und seine Kameraden die ihn in dichtem Kreis umringenden Zeitungsjungen.
»Was wollt ihr«, rief er, anscheinend die Gefahr witternd, und steckte zugleich seine rechte Hand in die Hosentasche.
Keiner der Jungen antwortete, alle warteten, was John Workmann sagen würde.
»Läßt du mich los«, schrie jetzt Bill Smith und stieß John Workmann zurück, »und ihr macht jetzt Platz oder es passiert etwas«, rief er den anderen drohend zu.
»Du bist ein nettes Früchtchen, aber du irrst dich«, sagte John Workmann, noch immer ruhig bleibend, »wenn du glaubst, daß wir hierhergekommen sind, um dir Platz zu machen. Wir haben die Absicht, dich und deine Kameraden mit uns zu nehmen. Wir haben eine Abrechnung mit dir bei der Polizei für Robert Barney!«
Das Gesicht Bill Smiths verfärbte sich, und John Workmann, welcher ihn scharf beobachtete, erkannte daran deutlich das Zeichen der Schuld.
Ein höhnisches Lachen stieß der Bengel aus.
»Pah!« rief er, »was habe ich mit Robert Barney zu tun? Ich habe ihm nicht die Tasche zwischen die Zeitungen gepackt.«
»So!« rief John Workmann. »Wer war es denn? Wohl dein Kamerad, was!?«
»Das ist nicht wahr!« rief einer der Begleiter Bill Smiths. »Wenn er das sagt, hat er gelogen!«
»Ihr habt es gehört!« rief John Workmann seinen Kameraden zu. »Er hat sich selbst verraten. Und jetzt, Bill Smith, wirst du mir zur Polizei folgen.«
»Der Teufel hol dich!« schrie Bill Smith und seine Augen funkelten bösartig auf John Workmann.
»Faßt ihn«, befahl John Workmann seinen Kameraden, und jetzt, wie Bill Smith die Anzahl von Fäusten sah, die sich ihm entgegenstreckten, sprang er wie ein echter Räuber aus dem Westen in die Tür des Ladens, zog seine rechte Hand aus der Hosentasche und hielt einen Revolver den erschrockenen Zeitungsjungen entgegen.
Bevor noch irgendeiner Deckung suchen konnte schoß Bill Smith blindlings seinen Revolver auf die Knaben ab, und mit einem Aufschrei stürzten mehrere von ihnen zu Boden.
Auch John Workmann verspürte einen heftigen Schmerz, als ob er von einem Peitschenhieb getroffen wäre, am linken Oberarm.
Für einige Sekunden lähmte die Tat von Bill Smith die Knaben mit schreckensvollem Entsetzen. Dann aber packte John Workmann ehrlicher Zorn.
Wie eine Katze sprang er auf Bill Smith, ergriff den ungleich Stärkeren an den Armen und rang ihn zu Boden.
Aber er würde mit dem gewandten und stärkeren Bill Smith, der im Raufen und Schlagen Schulung besaß und jetzt aus der Tasche ein Messer zog, nicht fertig geworden sein, wenn nicht Dutzende der Zeitungsjungen den wild um sich Schlagenden bei den Armen gepackt und ihn festgehalten hätten.
Durch die Schüsse war ein Polizist alarmiert und eilte hinzu.
Vier Jungen waren von den Kugeln Bill Smiths verwundet worden und mußten in einem Krankenwagen von der Polizei ins Hospital gebracht werden.
John Workmann, den einer der Polizisten fragte, ob er auch verwundet sei, und der seine linke Hand vom Blute abtrocknete, verneinte dies und sagte, er hätte sich wahrscheinlich beim Kampfe mit Bill Smith geritzt.
In dasselbe Revier, in das Robert Barney geführt wurde, brachte der Polizist auf John Workmanns Veranlassung auch den festgenommenen Bill Smith und dessen Kameraden.
Mit Wohlwollen betrachtete der Vorsteher John Workmann und dessen Zeitungsjungen, als sie ihm den Zweck ihrer Streife auf Bill Smith erzählten.
Und jetzt, vor den gestrengen Fragen dieses Mannes, vermochte der verschlagene Bill Smith nicht mit seinen Lügen durchzukommen.
Nach kurzem Verhör kam die Wahrheit zutage:
Bill Smith hatte der Dame mit einer Schere die Kette der Tasche durchschnitten und für den Fall seiner Entdeckung sie vorläufig zwischen die Zeitungen des dicht neben ihm stehenden Robert Barney gesteckt.
Ein Polizist hatte vorher dem Festgenommenen die Taschen durchsucht und daraus allerlei gefährliches Diebeshandwerkszeug zutage gefördert.
Besonders dieser letzte Umstand war es, der die Frechheit Bill Smiths brach und der Polizei bewies, daß er tatsächlich ein gefährlicher jugendlicher Verbrecher war.
Robert Barney wurde sofort aus der Haft entlassen, und der Vorsteher sagte zu ihm:
»Du kannst deine Freiheit dem kleinen Sherlock Holmes dort verdanken! Er hat seine Sache gut gemacht!«
Aller Augen richteten sich auf John Workmann, der vor dem Tisch des Vorstehers stand und jetzt plötzlich trotz der größten Anstrengung sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Mit bleichem Gesicht sank er zu Boden.
Die Polizisten, welche sich um den Ohnmächtigen bemühten, entdeckten, daß er von einer der Kugeln Bill Smiths am Oberarm verwundet war. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt.
Zum Glück waren weder er noch seine Kameraden gefährlich verletzt. Nachdem sie verbunden waren, vermochten sie den Nachhauseweg anzutreten.
An Arbeit freilich war für sie alle vorläufig nicht zu denken. Und da war es Robert Barney, welcher mit den übrigen Jungen sich zusammentat und ausmachte, daß sie ihren Verdienst für John Workmann und für die anderen Kameraden während der Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit zu teilen hätten. –
Wiederum stand John Workmanns Name in den Blättern des Zeitungsriesen an erster Stelle, und wiederum kam ein Brief von Mister Bennett zu John Workmann, in dem er ihn zu seiner Tat beglückwünschte und ihn gleichzeitig ersuchte, ihn in der nächsten Zeit aufzusuchen.
Während John Workmann untätig zu Hause liegen mußte, machte es ihm die größte Freude, den kameradschaftlichen Geist zu sehen, der sich unter den Zeitungsjungen betätigte. Und je mehr er darüber nachdachte, um so mehr reifte in ihm ein Plan, von dessen Ausführung und Gelingen er sich den größten Segen und Nutzen für seine Kameraden versprach.