Hans Dominik
John Workmann der Zeitungsboy
Hans Dominik

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5. Kapitel

»Hallo, Jonny«, begrüßte Mr. Gransea am folgenden Tage seinen jungen Freund. »Heut ist ein unruhiger Tag. In Chikago brennt Getreide im Werte von fünf Millionen Dollar. Zwei der größten Speicher stehen in Flammen. Das erste Extrablatt hast du wohl mit verkauft. Jetzt erwarten wir Bilder aus Chikago.«

»Die kommen doch heute nicht mehr, Mister Gransea. Der Empire State Expreß, der schnellste Blitzzug von Chikago, braucht doch zweiundzwanzig Stunden nach New York.«

»Gewiß, Jonny, aber der elektrische Funke läuft schneller. Wir bekommen die fotografischen Bilder, die unser Agent in Chikago aufgenommen hat, auf dem Draht hierher.

Ich denke, heut kann uns beiden einmal die Karte von Mister Bennett nützen. Wir wollen zusammen in die Station für Bildübertragung gehen.«

Sie verließen den Maschinensaal und stiegen in einen Fahrstuhl, der sie in das zweiundzwanzigste Stockwerk des gewaltigen Gebäudes brachte. Dort traten sie in ein kleines Kabinett, und auch hier erwies die Karte von Mister Bennett ihre wunderbare Kraft, alle Türen zu öffnen und alle Riegel zu sprengen.

Es war ein kleiner und schmuckloser Raum, der sie aufnahm. In der Mitte stand ein länglicher schwerer Eichenholztisch. Darauf erglänzte eine Apparatur. Aus einer schwarzen Röhre fiel ein haarfeiner blendender Lichtstrahl in die Maschinerie hinein.

Der dort Beschäftigte schaltete an dem Apparat herum und sprach gleichzeitig in ein Telefon hinein. Die Worte »auf Synchronismus schalten!« fielen in John Workmanns Ohr.

»Was wird das, was heißt das?« fragte er erstaunt.

»Das heißt, mein Junge, daß zunächst einmal zwei Elektromotoren, einer in Chikago und der andere hier auf dem Tisch ganz genau gleich schnell laufen müssen. Diese Gleichzeitigkeit der Bewegungen wird auch bis auf Bruchteile eines Millimeters genau erreicht und aufrechterhalten.«

Wieder ergriff der Techniker das Telefon. »Synchronismus ist da, ich lege Film in Grundstellung ein.«

Er trat in eine benachbarte Dunkelkammer und holte einen schwarzen Zylinder, den er in den Apparat einschob.

»Drei Uhr zehn Minuten fünfzehn Sekunden von Grundstellung los, jetzt sechs Sekunden«, rief er wiederum ins Telefon und legte die Hand auf einen Knopf.

Leise zählte er dreizehn – vierzehn – fünfzehn! Beim letzten Worte drückte er den Knopf und man sah, wie jener Teil des Apparates, in den er vorhin den Film geschoben hatte, zu rotieren begann.

»Erste Aufnahme in Gang«, rief er wieder in das Telefon. Dann legte er es auf den Haken und setzte sich ruhig auf einen Stuhl.

»Acht Minuten dauert es«, wandte er sich zu John Workmann. »Dann haben wir das erste Speicherbild hier.«

»Erklären Sie mir, wie es gemacht wird«, sagte der Knabe.

»Mein Junge, die Sache ist nicht so einfach«, erwiderte der. »Da drüben in Chikago läuft genau so ein Zylinder wie hier und auf den ist eine Kopie des Chikagoer Bildes geklebt. Der Zylinder dreht sich und schiebt sich gleichzeitig langsam vorwärts.

Auf ihn fällt ein feiner Lichtstrahl, der dabei nacheinander jeden Bildpunkt trifft. Kommt er auf eine schwarze Stelle des Bildes, so kann er nicht durch, und das Innere des Zylinders in Chikago bleibt dunkel.

Kommt er auf eine helle Stelle, so kann er durch und fällt auf eine Selenzelle. Das ist ein Apparat aus dem wunderbaren Selenstoff, welcher in der Helligkeit den elektrischen Strom durchläßt, in der Dunkelheit den Strom aufhält. Je nachdem also in Chikago eine helle oder eine dunklere Bildstelle am Lichtstrahl vorbeigeht, bekommen wir mehr oder weniger Strom durch die Leitungen in unserem New Yorker Apparat.

Hier aber dient dieser Strom dazu, um das feine Metallplättchen mehr oder weniger in den Lichtstrahl zu stellen oder herauszunehmen. Sie können auch mit dem Auge erkennen, wie das Plättchen fortwährend hin- und hervibriert. So fällt hier genau so, wie in Chikago helle und dunkle Bildstellen auftreten, mehr oder weniger Licht auf den lichtempfindlichen Film in unserem Zylinder.

Wenn das ganze Bild von Chikago nach hier abtelegrafiert ist, wenn der ganze Zylinder dort und hier abgerollt ist, habe ich das Bild hier auf meinem Film und brauche es nur zu entwickeln.«

In diesem Augenblick schrillte das Telefon und der Fernfotograf rief nach Chikago hinüber:

»Well, ich lege einen neuen Film ein.«

Fast gleichzeitig ertönte auch eine Klingel im Apparat, und der Zylinder, welcher bisher rotiert hatte, blieb von selber stehen.

Der Fernfotograf zog eine schwarze Kapsel heraus schob eine neue hinein, setzte den Apparat wieder in Betrieb und sagte:

»Folgen Sie mir in die Dunkelkammer.«

Dort legte er beim Scheine einer roten Lampe den Film in ein Bad. Und jetzt sah John Workmann, wie sich dunkle und helle Stellen auf dem Film zeigten.

Noch waren keine zwei Minuten vergangen, so erblickte er deutlich die Umrisse der gewaltigen Getreidespeicher, sah lodernde Flammen, schwere Rauchwolken und drängende Menschenmassen auf dem Film erscheinen.

Nach vier Minuten wanderte das Bild in das Fixierbad. Nach acht Minuten nahm der Fernfotograf die nächste Chikagoer Aufnahme aus dem Apparat und ging mit der zweiten Aufnahme in die Dunkelkammer.

Er entwickelte sie, während er die erste in fließendes Wasser legte, und jetzt konnte John Workmann auf dem Film die Anstrengungen der Feuerwehr betrachten.

Er sah, wie von der Wasserseite her die Feuerboote riesige Strahlen in die Glut warfen, wie Dampfpumpen mit Hunderten von Pferdestärken an der Arbeit waren, aus dem Michigan-See ganze Fluten in die Glut zu werfen.

Als das zweite Bild fertig war, warf es der Fernfotograf in das Fixierbad. Das erste aber tauchte er in eine Schale mit absolutem Alkohol, schwenkte es darin ein wenig und nahm es heraus. Bereits nach zehn Sekunden war es trocken.

Der Fernfotograf rollte es zusammen und schob es in ein Rohr. Ein Hebeldruck, und durch die Rohrpostanlage des Hauses sauste das fertige Bild in die Ätzerei.

»Was geschieht weiter?« fragte John Workmann.

»Dort fertigen sie nach dieser Fotografie die Druckstöcke für die Zeitung«, entgegnete Mister Gransea. »Wir wollen dort hingehen.«

Beide schritten über ein paar Treppen hinauf und kamen in das fotografische Atelier der Ätzerei. John Workmann sah, wie die Fernfotografie aufgespannt und ein fotografischer Apparat davorgerückt wurde.

Er sah, wie der Fotograf den Apparat genau einstellte, den Plattenkasten einschob. – Und dann flammten plötzlich Bogenlampen auf, so blendend hell und violett, daß ihm die Augen schmerzten – und dann verloschen die Lichter und eine kurze Weile vermochten seine geblendeten Augen gar nichts zu sehen.

Als er wieder um sich schauen konnte, da brachten die Fotografen die fertig entwickelte Platte bereits in die Ätzerei.

»Das ist keine gewöhnliche Platte, Jonny«, sagte der Fotograf. »Es ist eine Zinkplatte und jetzt kommt sie in die Säure. Die frißt in einer Viertelstunde alles weg, was weiß bleiben soll, und läßt nur stehen, was schwarz ist. So gibt es eine Druckplatte, die wir nachher genau so stereotypieren wie den Satz.«

Und John Workmann sah, wie die Platte in das Säurebad kam, wie der gelbe Schaum von ihr aufstieg, wie sie wieder herausgenommen wurde und zahlreiche metallisch glänzende Stellen aufwies. Er sah, wie sie in ein zweites und drittes Bad kam und wie endlich die Ätzung fertig wurde.

»Aber stereotypieren können wir sie nicht, Mister Gransea«, sagte jetzt der Ätzer. »Das geht nur bei Strichzeichnungen. Für das Extrablatt müssen wir sie im Original benutzen. Aber da ist sie nach einer Stunde in Eurer Mammutpresse bis zur Unbrauchbarkeit abgedruckt. Darum machen wir sofort eine zweite und dritte und vierte Ätzung.«

»Die erste Ätzung ist fertig. Es wird Zeit, Jonny«, sagte Mister Gransea und fuhr mit seinem Begleiter aus den obersten Stockwerken, wo die Fotografen hausen, wieder hinunter in den Maschinensaal.

Sie kamen nicht zu früh. Schon saßen die Textteile in der Maschine, und jetzt folgte eine Ätzung nach der anderen.

Genau eine Stunde, nachdem die Fernfotografien aus Chikago im New Yorker Gebäude des Zeitungsriesen angekommen waren, begann die Mammutpresse zu arbeiten, eine Stunde und fünfzig Minuten, nachdem der Agent die brennenden Speicher in Chikago fotografiert hatte.

Und zehn Minuten, nachdem die Presse angegangen war, gellten bereits die ersten Rufe der Zeitungsjungen über den Broadway:

»Neuestes Extrablatt des ›New York Herald‹! Die ersten Bilder des großen Speicherbrandes in Chikago!«

*

Als John Workmann seine Extrablätter verkauft hatte, kam er noch einmal in den Maschinensaal:

»Sagen Sie, Mister Gransea«, fragte er, »die elektrische Bildübertragung ist doch eine hervorragende Erfindung. Der sie erfunden hat, muß doch ein Millionär geworden sein.«

»Im Gegenteil. Der Erfinder, ein deutscher Professor, hat einen Teil seines Vermögens darauf verwendet und wenig Seide gesponnen. Solche Erfindungen muß man nicht machen, wenn man Millionär werden will.«

»Ja, aber was für welche, Mister Gransea?«

»Da kann ich dir verschiedene Tips geben, mein Junge«, sagte der Maschinenmeister und stopfte sich behaglich seine Shagpfeife, denn die Presse hatte bis zum Abendblatt Ruhe. »Verschiedene höchst wertvolle Tips.

Da war zum Beispiel mein Freund Josua Andrews aus Omaha. Der erfand vornehmlich Patentmedizinen. Im Jahre 1896 brachte er seine berühmten Abführpillen auf den Markt.

Wie er mir einmal in einer schwachen Stunde verriet, bestanden die Pillen aus Talg und Ziegelmehl. Sie fanden rasende Abnahme, weil Andrews sie in wunderhübsche knallrote Schachteln einpackte. Die Schachtel kostete einen Dollar. Das heißt für das Publikum.

Josua Andrews selber kosteten sie höchstens fünf Cent, denn Talg und Ziegelsteine waren damals in Omaha billig.«

»Ja aber das ist doch Betrug«, rief John Workmann ehrlich empört aus.

»Betrug ist ein häßliches Wort, Jonny. Josua Andrews meinte nur, es wäre sehr ›smart‹.

Er mußte sich freilich vor Jemmy Hinton aus Alabama verstecken. Der kam aus seiner Heimat nach Saint Louis, wo es mehr Schwarze als Weiße gibt.

Und er kannte die Schwächen der schwarzen Mitbürger ganz genau! Er wußte, daß sie keinen sehnlicheren Wunsch haben, als auch weiß zu sein.«

»Aber das ist doch ganz unmöglich«, rief John Workmann. »Wie kann denn ein Neger weiß werden?«

»Ja, Jonny, das weiß ich auch nicht, aber ich weiß, daß Jemmy Hinton ein famoses Negerwaschwasser herausbrachte. Die Flasche zu einem Dollar, sechs Flaschen für fünf Dollar!

Nach der Gebrauchsanweisung mußte man sich täglich damit einreiben, dann sollte auch der schwärzeste Neger in sechs Monaten weiß sein.«

»Ja was war denn das für Zeug, Mr. Gransea?« fragte John Workmann.

»Ich kalkuliere, in der Hauptsache rauchende Schwefelsäure, die bereits bei der dritten Waschung auch die unempfindlichste Negerhaut in Fetzen vom Leibe herunterholte.«

»Nun und dann?«

»Dann ging Jemmy Hinton nach Kanada, wo sie allenfalls einen Mörder ausliefern, aber selbst den nicht gern. – Er nahm übrigens den Verkaufspreis für anderthalb Millionen Flaschen Negerwaschwasser mit.«

»Nun und die Neger?«

»Die wuschen sich mit der Schwefelsäure, solange sie noch stehen konnten. Als dann einige daran zugrunde gingen, wurde es ihnen allmählich klar, daß die Sache Humbug war. Das famose Negerwaschwasser wurde in den Fluß gegossen und die Geschichte war bald vergessen. Die Neger haben eben schwarz zu bleiben.

Trotzdem – der Tip ist gut. – Falls du und ein Dutzend andere noch mal den Humbug machen, sie würden wieder darauf reinfallen.«

»Also eine Erfindung wie die elektrische Bildübertragung bringt dem Erfinder noch nicht einmal die Unkosten, und Schwindler heimsen Millionen ein?« rief John Workmann entrüstet aus. »Wenn es keinen anderen Weg gibt, um Millionär zu werden, dann will ich lieber darauf verzichten. Aber ich hoffe, ich werde noch einen besseren Weg finden.«

»Hallo, Jonny, du willst Millionär werden, davon hast du mir ja noch gar nichts erzählt«, lachte Mister Gransea amüsiert.

»Gewiß will ich Millionär werden, ich will dasselbe werden wie Mr. Bennett. Darum studiere ich ja seinen Betrieb.«

»So, so«, nickte Mister Gransea nachdenklich. »Ich habe alle möglichen Betriebe studiert, aber nie daran gedacht, Millionär zu werden. Wenigstens ist es mir nie in den Sinn gekommen, daß das auf ehrliche Weise möglich wäre. Wenn du einen Weg dazu findest, kannst du ihn mir mitteilen. Vielleicht ist es auch heut für mich noch nicht zu spät.«

»Ich werde den Weg suchen«, sagte John Workmann mit fester Stimme, »und ich hoffe, ich werde ihn finden. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, – das las ich in einem guten Buche und es leuchtet mir ein.«

»Möglich – daß dich der liebe Gott zum Millionär macht. Deine Wißbegierde läßt das nicht unmöglich erscheinen. Well – vergiß mich nicht, falls es dir gelingt.«

»Das werde ich nicht tun, wenn Ihr mich mal erinnert.«

Als John Workmann den Raum verließ, blickte ihm Mister Gransea nach und sagte zu sich:

»Ich glaube – er ist aus dem Holz, woraus die Millionäre wachsen.«


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