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Als Smith und O'Brien am Morgen dieses für sie so wechselvollen Tages die Befürchtung aussprachen, daß man sie in der Heimat vergessen und aufgegeben hätte, befanden sie sich in einem Irrtum. Zwar hatte die ›City of Baltimore‹ bei dem plötzlichen Vulkanausbruch fluchtartig in See gehen müssen, ohne sich um sie zu kümmern, denn angesichts der von Minute zu Minute immer gewaltigere Ausmaße annehmenden Naturkatastrophe hätte jeder Versuch, noch nach Professor Harte und seinen Begleitern zu forschen, den Untergang der ganzen Expedition zur Folge haben können.
Zunächst einmal mußte man sich mit der Annahme trösten, daß die drei Zurückgebliebenen auf dem südlichen Teil der Insel wohl eine Zufluchtsstätte finden würden. In der Absicht, sie zu holen, sobald das Schlimmste vorüber wäre, hatte Kapitän Johnson geraume Zeit in der Nähe der Insel gekreuzt. Dann aber war im Anschluß an das große Seebeben ein Unwetter aufgekommen, das ihn zwang, einen Nothafen aufzusuchen und auf dem Wege dorthin hatte die ›City of Baltimore‹ nicht nur einen Maschinenschaden gehabt, sondern war zu allem Überfluß auch noch leck geschlagen worden.
Mehr ein Wrack als ein Schiff, konnte sie zwar schließlich in Sicherheit gebracht werden, aber Wochen vergingen, bevor sie wieder einigermaßen fahrbereit war, und eine Grundreparatur in einem Hafen des amerikanischen Festlandes war danach eine unvermeidliche Notwendigkeit. So war es geschehen, daß Smith und O'Brien Woche um Woche und schließlich Monate vergeblich auf ihre Befreiung hofften.
Vergessen aber waren sie nicht. Während die ›City of Baltimore‹ in Frisko noch im Dock lag, fuhr aus demselben Hafen ein anderes Schiff aus, das zu seinen übrigen Aufgaben auch noch den Auftrag übernahm, die von der ›City of Baltimore‹ Zurückgelassenen von ihrer Insel abzuholen.
Auf den poetischen Namen ›Berenice‹ war dies Schiff getauft, nachdem es früher schon drei oder vier andere getragen hatte. Unter dem Sternenbanner fuhr es jetzt, nachdem es vorher bereits unter anderen Flaggen alle Ozeane des Erdballes befahren hatte. Ein stolzes Segelschiff war die ›Berenice‹, mit der Captain Dryden eine Forschungsreise antrat, die, auf mehrere Jahre berechnet, ihn in die entferntesten Winkel der Welt führen sollte.
Die offizielle Wissenschaft nahm den Captain Dryden nicht ganz ernst und wurde dafür in gerechtem Ausgleich von ihm nicht für voll genommen. Es gab Leute, die mehr einen Abenteurer als einen Forscher in ihm erblicken wollten, aber das hinderte nicht, daß verschiedene amerikanische Gelehrte die Gelegenheit wahrnahmen und sich seiner Führung anvertrauten. So hatte die ›Berenice‹ mit einem ganz ansehnlichen Stab von Wissenschaftlern an Bord den Hafen von Frisko verlassen.
Seit vielen Tagen schon verfolgte sie mit geschwellten Segeln einen Kurs, der sie direkt zu jener von der Carnegie-Expedition so fluchtartig verlassenen Insel führen sollte. Wären die Stratosphärenschiffe Professor Eggerths nicht zufällig ein wenig früher gekommen, so wären Mr. Smith und Mr. O'Brien sicherlich von Captain Dryden befreit worden, so indes erschien er mit der ›Berenice‹ zu spät, um noch etwas für seine Landsleute tun zu können, aber er kam noch zeitig genug, um Zeuge der Vorgänge zu werden, deren Schauplatz die Insel und ihre nähere Umgebung in den nächsten Tagen bilden sollten. – – –
Zur verabredeten Zeit lösten die Werkleute von ›St 21‹ die Schlauchverbindungen, die von dem Flugschiff zu der Eisbombe führten. Durch ein paar Hammerschläge überzeugte sich Heineken davon, daß in der Leinwandplane ein massiv zusammengefrorener Eisblock steckte, dann ging er als letzter in das Schiff.
Alle Luken wurden hermetisch verschraubt, die Motoren der Hubschrauben brüllten auf. ›St 21‹ hob sich vom Boden ab und stieg empor. In 100 Meter Höhe setzten auch seine Propeller ein. Im Schrägflug kurvte jetzt das Schiff in immer größere Höhen und war bald nur noch ein schimmernder Punkt im Äther. – – –
»Die andern starten ja schon«, sagte Hein Eggerth im Kommandoraum von ›St 25‹ zu Berkoff, als der Motorendonner von ›St 21‹ an sein Ohr drang.
»Der Vogel geht los«, bestätigte Berkoff die Bemerkung seines Freundes, »aber sein Ei hat er vergessen, das liegt da drüben einsam und verlassen auf dem Rasen. Hast du eine Ahnung, Hein, was dein alter Herr vorhat?«
Hein Eggerth zuckte die Achseln. »Bis jetzt noch nicht, Georg. Der Herr Professor geruht wieder einmal den ›Geheimnisvollen‹ zu markieren. Bis jetzt habe ich nur herausbekommen, daß er mit dem langen Schmidt irgendein Projekt besprochen hat, konnte aber nicht dahinterkommen, um was es sich eigentlich dreht.«
»Kann ich mir denken, Hein. Der lange Schmidt ist verschwiegen wie das Grab . . . ach, das langt ja noch gar nicht, der Mann ist verschwiegen wie ein Erbbegräbnis. Aber ewig können sie ja mit ihrem Geheimnis nicht hinter dem Berge halten. Schließlich sind wir doch die Piloten von ›St 25‹, und wenn sie mit dem Schiff manövrieren wollen, werden sie uns wohl oder übel etwas über das ›Wie und Warum‹ verraten müssen.«
»Soll sofort geschehen, Herrschaften«. Die Worte kamen von Professor Eggerth, der unbemerkt in den Kommandoraum getreten war. »Ich will mit ›St 25‹ den Eisbrocken dort drüben aufnehmen und später im Fluge abwerfen.«
»Alle Wetter, Herr Professor, das Ding hat aber einiges Gewicht«, meinte Georg Berkoff, während er einen prüfenden Blick durch das Fenster warf.
»Genau 100 Tonnen, Herr Berkoff. Wir können das Stück mit unsern großen Montagegreifern sicher aufnehmen. Wollen Sie bitte die Bedienung der Greifer übernehmen, während ich zusammen mit Hein die Steuerung von ›St 25‹ besorge.«
Georg Berkoff verzog den Mund, denn der Auftrag des Professors war nicht nach seinem Geschmack. Er würde dabei in dem verschlossenen Kielraum zu stehen haben und von den Vorgängen draußen nicht viel sehen können. Lieber wäre er mit den andern zusammengeblieben.
Als ob Professor Eggerth seine Gedanken erraten hätte, sprach er weiter. »Sie übernehmen eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, Herr Berkoff. Es kommt bei dem Versuch, den ich vorhabe, darauf an, daß die Eisbombe auf den Bruchteil einer Sekunde genau abgeworfen wird. Sie müssen mit den Telefonhörern am Kopf arbeiten und die Auslösung der Greifer in dem Moment betätigen, in dem mein Kommando kommt. Als Ankündigungskommando werde ich ›Achtung‹ rufen, als Ausführungskommando ›Los‹. Auf das Wort muß die Bombe fallen. Eine Sekunde Verfrühung oder Verspätung könnte alles in Frage stellen. Ist das klar, Herr Berkoff?«
»Vollkommen klar, Herr Professor. Das Kommando heißt ›Achtung . . . los‹. Ich werde danach handeln.«
Berkoff verließ die Kommandozentrale und begab sich in den Kielraum des Schiffes. Professor Eggerth setzte sich selbst an das Steuer und schob sich ebenfalls Kopfhörer über. Sobald er die Stimme Berkoffs im Telefon vernahm, ließ er die Hubschrauben angehen. ›St 25‹ hob sich vom Boden ab und schwebte dicht über dem Rasen dahin, bis es senkrecht über dem Eisblock stand. Und dann fuhren vier mächtige Greiferarme wie die Krallen einer Raubspinne aus dem Kielraum des Schiffes nach unten heraus und umklammerten den Eisballen.
»Greifer haben gefaßt«, hörte Professor Eggerth im Telefon und gab Vollgas auf die Motoren der Hubschrauben.
Schnell und immer schneller stieg das Schiff unter ihrem mächtigen Zug senkrecht empor, jetzt schon 1000 . . . bald 2000 . . . 3000 und nun 4000 Meter stand es über dem Erdboden. Eine Handbewegung des Professors nahm etwas Gas von den Hubmotoren fort und regungslos verharrte ›St 25‹ an seinem Platz im Äther. Nur von den Hubschrauben gehalten, stand es im Raume; noch waren seine Horizontalpropeller in Ruhe.
Durch das Kristallfenster im Fußboden visierte der Professor mit einem Theodoliten nach unten. Unbewegt verharrte dabei das Bild des anvisierten Objektes im Blickfeld des Fernrohres, ein Beweis dafür, daß das Schiff auch nicht seitlich vertrieben wurde. Kein Lüftchen regte sich draußen. Die Atmosphäre war absolut ruhig, ein Umstand, der für den geplanten Versuch von Nutzen sein mußte.
Viele Minuten schaute Professor Eggerth durch das Visierrohr, dann ließ er mit schwächstem Gas einen der Horizontalpropeller angehen. ›St 25‹ bekam etwas Fahrt, gehorchte dem Seitensteuer und schob sich ganz langsam in der Richtung auf den Krater hin.
Nur Sekunden währte das Propellerspiel, dann nahm Professor Eggerth das Gas wieder fort. Nur noch vom Beharrungsvermögen seiner Masse getrieben und von seinen Hubschrauben in gleicher Höhe gehalten, bewegte sich das Flugschiff langsam und immer langsamer weiter fort und kam dem Krater immer näher. Nun wurde bereits der Blick über den Kraterrand frei, jetzt wurde auch der in ihm brodelnde Lavasee sichtbar. Das Auge gegen das Okular des Theodolitenfernrohres gepreßt, verfolgte der Professor den langsamen Vorschub von ›St 25‹. »Achtung!« Der Ruf aus seinem Mund kam durch das Telefon an Berkoffs Ohr.
»Achtung!« meldete der zurück.
Eine halbe Sekunde . . . dreiviertel Sekunde . . . »Los!« kam das zweite Kommando aus der Zentrale. Im Kielraum riß Berkoff im selben Moment einen Hebel herum. Die vier Greifer schnappten zurück. Von ihren Klauen nicht mehr festgehalten, sich selbst überlassen, begann der gewaltige Eisblock aus 4 Kilometer Höhe seinen Sturz in die Tiefe. Von der Hunderttonnenlast befreit, schnellte das Schiff zur gleichen Zeit unter dem Zug seiner Hubschrauben mit einem mächtigen Sprung in die Höhe.
»Vollgas auf die Horizontalpropeller! In Kurven nach oben«, rief Professor Eggerth seinem Sohn zu und trat selbst an eins der beiden Seitenfenster. Während Hein Eggerth das Steuer führte, verfolgte der Professor gespannt den Fall der abgeworfenen Eismasse.
Ungefähr eine halbe Minute würde der Absturz aus dieser Höhe dauern. Mit mehr als 200 Sekundenmetern würde der Eisbrocken danach aufschlagen. Würde er das ihm bestimmte Ziel, den Lavasee, erreichen? Oder würde der Wurf danebengehen, vielleicht nur den Kraterrand treffen und der Ball dort wirkungslos zerschellen?
Fast wie ein leuchtender Punkt nur erschien die glühende Lavafläche aus der Höhe, kaum noch sichtbar war der nach unten stürzende Ball. Bedrückende Zweifel kamen dem Professor, ob der Wurf gelingen, das erstrebte Ziel wirklich getroffen werden würde. Bedenken gingen ihm jetzt nachträglich durch den Sinn, ob es nicht klüger gewesen wäre, sich mit einer geringeren Abwurfhöhe zu begnügen? Aber dann wäre die Wucht des Aufschlages auch geringer gewesen. Weniger tief wäre das eisige Geschoß in die glühende Lava eingedrungen, wäre vielleicht schon an der Oberfläche wirkungslos verpufft . . .
Er griff nach einem scharfen Glas, blickte hindurch, sah jetzt viel größer und viel deutlicher die glühende Fläche, sah ein winziges Pünktchen . . . einen Moment wohl noch über ihr, einen Moment auf ihr . . . dann war es verschwunden. Der Schuß hatte getroffen. Tief mußte der eisige Brocken in die glühende Masse eingedrungen sein. Wie würde das Spiel der Kräfte zwischen hellster Glut und klingendem Frost sich auswirken? Die nächsten Sekunden mußten es zeigen.
*
Smith und O'Brien hatten sich nach getaner Mahlzeit zunächst einmal in die Kabine begeben, die der Professor ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Es war ein nicht allzu großer, aber mit allem Komfort eingerichteter Raum, der ihnen für die Dauer ihres Aufenthaltes an Bord von ›St 25‹ als Heim dienen sollte. Mit einem Schwung warf O'Brien sich in die Kissen eines Bettes, das aus dem gleichen schimmernden Leichtmetall gefertigt war, wie alle übrigen Einrichtungsgegenstände des Raumes, und reckte sich seiner Länge nach aus.
»Hier läßt sich's leben, Smith«, stöhnte er behaglich. »Das ist etwas anderes, als der traurige Heuhaufen, auf dem wir uns die letzten Monate die Knochen schief gelegen haben.«
Er fuhr sich mit der Hand über sein frisch rasiertes Gesicht. »Endlich kommt man sich mal wieder als Mensch vor, und das Essen, Smith . . . einfach first rate . . . hätte jetzt kaum noch Appetit auf Schildkröteneier . . .«
Smith ließ den Iren reden, ohne sich viel darum zu kümmern. Die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, ging er nachdenklich in der Kabine hin und her, bis seine Schweigsamkeit O'Brien auffiel.
»Hallo, Boß, was ist Euch?« begann er von neuem. »Habt Ihr Magendrücken oder Liebeskummer?«
Mit einem Ruck blieb Smith stehen und blickte seinen Gefährten an.
»Die neue Verwandtschaft will mir nicht aus dem Kopf, O'Brien. Ist doch toll, daß man hier auf diesem gottverlassenen Flecken Leute wiederfindet, von denen man ein Menschenalter nichts gehört und gesehen hat.«
»Leute ist wohl zu viel gesagt«, meinte O'Brien phlegmatisch. »Einen Oheim habt Ihr zufällig getroffen. Glaube, Smith, Ihr könnt Euch sogar etwas darauf einbilden. Soviel ich aus Eurem deutschen Speech herausgehört habe, ist der Mann Doktor und sogar Minister . . . na, irgend so ein hoher Rat. Was könnt Ihr von einem wiedergefundenen Oheim mehr verlangen? Seid doch . . .«
»Das ist's ja eben gerade, O'Brien«, fiel Smith ihm ins Wort. »Der Mann hat die Würde und Ehrbarkeit mit Löffeln gefressen. Der ist ebenso korrekt wie der Großalte, der meinen Vater aus dem Hause getrieben hat. Ich fürchte, O'Brien, die Aussprache mit ihm wird nicht sehr erfreulich werden.«
»Nonsens, Mann!« Der Ire rappelte sich wieder aus den Kissen heraus. »Ihr seid ein freier amerikanischer Bürger, habt Euren guten Job, braucht Euch von einem deutschen Doktor und Rat absolut nicht imponieren zu lassen. Werde bei Eurem Speech dabei sein und Euch helfen, wenn Ihr allein nicht weiterkommt. Glaube übrigens, daß der lange Kerl viel umgänglicher ist, als er von außen aussieht.«
Smith wollte etwas erwidern, als ein Schüttern durch den Bau von ›St 25‹ ging. Die Hubschrauben sprangen an und hoben das Schiff vom Boden ab.
»Ich glaube, wir brausen los«, sagte O'Brien. »Ist die erste Fahrt in einem Stratosphärenschiff, die ich in meinem Leben mache. Kommt mit, Boß, wir wollen in den Mittelraum gehen. Da haben wir bessere Aussicht.«
»Allright, Sir. Können wir machen«, stimmte Smith zu, aber eine gute Minute brauchten sie doch noch, um sich zurechtzumachen. Es war jene Minute, die ›St 25‹ benötigte, um von seinem Liegeplatz bis zu dem Eisblock zu gelangen und sich senkrecht über ihn zu stellen. Als sie in den Mittelraum kamen, war durch die Fenster von dem Eisball nichts mehr zu sehen. Von der Besatzung des Schiffes war niemand in dem Raum. Einen kurzen Blick warfen sie durch die Fenster zu beiden Seiten, dann machten sie es sich wieder an dem runden Tisch bequem.
»Hätte von einem Stratosphärenschiff eigentlich mehr erwartet«, meinte O'Brien. »Der Kahn kriecht hier dicht über der Wiese herum, als ob er nicht recht hochkommen könnte.« Ein scharfes metallisches Knacken klang in seine letzten Worte hinein. »Hallo, Smith! Was war das eben? Hoffentlich haben wir keinen Breakdown. Klang ganz so, als ob was zerbrochen wäre. Könnte uns jetzt gerade fehlen.« Seine letzten Worte wurden von dem Donner der Hubmotoren übertönt, die das Schiff mit samt seiner Eislast mit Gewalt in die Höhe rissen. Erst nach einiger Zeit konnte er sich wieder verständlich machen. Er sprach weiter.
»Jetzt scheint's doch loszugehen. Wir steigen, by Jove! Wir steigen senkrecht in die Höhe. Das geht ja mächtig nach oben . . . aber bloß nach oben. Wir kommen nicht vorwärts. Versteht Ihr das, Smith?«
Smith antwortete nicht. Er lehnte den Kopf an die Kristallscheibe, blickte schweigend hinaus und sah die Insel unter dem Schiff in der Tiefe versinken, klein und immer kleiner werdend, jenes winzige verlassene Stückchen Land im unendlichen Weltmeer, das ihnen ein Vierteljahr hindurch gleichzeitig Zuflucht und Gefängnis gewesen war.
»Immer noch melancholisch, old fellow?«
Während O'Brien es sagte, stand er auf und beugte sich über den Tisch zu Smith hin. Im nächsten Augenblick fühlte er sich mit unwiderstehlicher Gewalt nach unten auf die Tischplatte gepreßt. Es war ein Glück, daß das Geschirr von ihrer früheren Mahlzeit inzwischen abgeräumt worden war, sonst hätte es jetzt Scherben gegeben, und das schmucke blaue Jackett, das der Ire aus den Beständen von ›St 25‹ bekommen hatte, wäre nicht ohne Flecken geblieben.
Eine . . . zwei . . . drei Sekunden hielt dieser unerklärliche Druck an, dann wich er ebenso plötzlich, wie er gekommen war. O'Brien konnte sich wieder aufrichten. »Dammie! Was war das?« fragte er und rieb sich den Magen. Smith konnte es ihm nicht sagen, denn ebensowenig wie O'Brien wußte er, daß das Schiff eben eine Last von 100 Tonnen abgeworfen und dadurch erleichtert einen mächtigen Sprung nach oben gemacht hatte.
»Jetzt kriegen wir aber Fahrt«, sagte O'Brien nach einem Blick durch das Fenster, »der alte Kahn fängt mächtig an zu kurven. Seht mal den Krater da unten. War verdammt schlau von uns, daß wir dem alten Burschen nicht zu nahe gekommen sind . . . Seht doch, Smith, seht doch mal hin, Mann! Der Kerl wird ja wieder mobil . . .«
Er brauchte nicht weiter zu sprechen. Das Gesicht gegen die Fensterscheiben gepreßt, verfolgte auch Smith angestrengt die Vorgänge, die sich tief unter ihnen abspielten.
Jäh brodelte der Lavasee im Krater auf und schien ins Kochen zu geraten. Größer wurde die glühende Fläche und hellweiß strahlend begann es dann über den Kraterrand nach außen hinunterzulaufen. Ein Strom feuriger Lava, der sich seinen Weg über den Steilhang des Berges hinab zur See hin suchte.
Wie Fackeln leuchteten vereinzelte Bäume auf, die ihm im Wege standen und waren im nächsten Augenblick schon verbrannt und verascht. Jetzt erreicht der Glutfluß den schmalen sandigen Strand . . . jetzt kam er mit der See in Berührung, wälzte sich wie eine feurige Schlange in den Ozean.
Und dann stieg Dampf auf, Dampf in unendlichen Massen. Schwere Schwaden verhüllten den feurigen Fluß, breiteten sich aus und verhüllten auch den speienden Berg. Weiter wälzten sich die Nebelmassen, legten sich wie ein Tuch über den Wald, über den Strand, über die See. Nur noch eine einzige mächtige Wolkenbank bot sich von ›St 25‹ aus dem Blick an der Stelle, wo vor kurzen Minuten noch die Insel wie ein grüner Schmuckstein auf dem Azurschild des Ozeans lag.
Was sich hinter diesem Vorhang weiter abspielte, blieb menschlichen Augen verborgen. Nur hin und wieder verriet ein jähes Aufwallen und Hin- und Herströmen der Dampfschleier, daß dort unten vulkanische Kräfte am Werk waren.
»Wir haben viel Glück gehabt, O'Brien«, sagte Smith nach langem Schweigen.
»Verdammt viel Glück, Boß!« sagte O'Brien. »Wenn wir jetzt nicht hier oben wären, dann wären wir da unten in der verfluchten Waschküche.«
Trotz seiner nachdenklichen Stimmung mußte Smith lächeln.
»Man merkt Euren Aussprüchen immer noch an, daß Ihr von Limmerick kommt, O'Brien. Aber meinetwegen mögt Ihr recht haben. Wenn wir nicht oben wären, dann wären wir unten.« – – –
Während Smith und O'Brien auf ihre Art über die Ereignisse philosophierten, die sich 6000 Meter unter ihnen abspielten, übersahen sie ein weißes Pünktchen, das von Süden her auf der blauen Seefläche langsam herankroch. Es war die ›Berenice‹, die unter Führung von Captain Dryden ihren Kurs verfolgte. Die fast absolute Windstille zwang den Captain, den Hilfsmotor zu benutzen. Die genaue geographische Position der Insel hatte der Captain bei seiner Ausreise von Garrison erhalten und auf dem Gebiete der Navigation konnte ihm so leicht niemand etwas vormachen.
Jeden Augenblick erwartete er nach den letzten Ortsbestimmungen, die gesuchte Insel über der Kimme auftauchen zu sehen. Aber was er nun erblickte, das war kein idyllisches Eiland mit grünen Wäldern und schwellenden Matten, sondern eine schroffe und zackige, über der See stehende Wolkenwand, fast an eines jener unheimlichen Gebilde erinnernd, die man nach großen Explosionen noch viele Stunden lang an dem Ort der Katastrophe beobachten kann. Denn einen anderen Anblick bot diese Dampfmasse von der Oberfläche der See aus betrachtet als aus der Höhe von ›St 25‹ gesehen. Von dem Stratosphärenschiff her schien es mehr eine flache Nebelbank zu sein, von der ›Berenice‹ aus ließ sich dagegen die ganze Höhe erkennen.
Captain Dryden schickte zwei Mann zum Loten nach vorn, während die ›Berenice‹ an die Grenze der Wolkenwand heranschlich. Eintönig klangen vom Vorschiff die Rufe der Lotmannschaft zur Kommandobrücke hin.
›Fünfzig Faden‹ . . .›dreißig Faden‹ . . .›zwanzig Faden‹ . . . noch bevor der nächste Ruf kam, arbeitete der Maschinentelegraph in Captain Drydens Hand. Auf ›Rückwärts, volle Kraft!‹ sprang der Zeiger des Telegraphen im Maschinenraum. Mit Gewalt wirbelte die Schraube in umgekehrter Richtung und hemmte den Lauf des Schiffes eben noch zeitig genug, um ein Auflaufen auf neu entstandene Klippen zu vermeiden.
›Zwei Faden‹ meldete der Lotgast vom Bug, als das Schiff sich langsam zurückzuschieben begann. Rückwärts ließ Captain Dryden es weiter laufen, bis er wieder aus dem Nebel heraus war. Er hatte genug gesehen und suchte sich ein Bild von dem zu machen, was hier geschehen war.
Nach seiner Meinung hatte ein neuer Ausbruch jenes Vulkans stattgefunden, von dessen zerstörender Gewalt ihm die Mitglieder der Carnegie-Expedition in Frisko zur Genüge berichtet hatten. Eine Veränderung des Seegrundes in weitem Umkreise . . . wahrscheinlich auch eine Vergrößerung der Insel oder . . . auch diese Möglichkeit bestand . . . ein Absinken des alten Landes und dafür eine Hebung an anderen Stellen war im Zusammenhang damit eingetreten. Wahnsinn wäre es bei solcher Sachlage gewesen, weiter vorzudringen, um den Zurückgebliebenen zu Hilfe zu kommen. Er hätte dabei das Schiff mit seiner ganzen Besatzung aufs Spiel setzen müssen, um drei Menschen zu retten. Tage, vielleicht Wochen würden verstreichen müssen, bevor man es wagen konnte, die Insel anzusteuern. Im Augenblick blieb nichts anderes übrig, als aus sicherer Entfernung zu rekognoszieren.
In einem Abstand von reichlich 100 Metern umsegelte die ›Berenice‹ die Wolkenbank. Captain Dryden stellte fest, daß sie ein Mehrfaches vom Areal der Insel bedeckte. Dann ließ er den Kurs nach Norden, auf sein nächstes Reiseziel setzen, und ging in seine Kabine, um den Bericht für das Carnegie-Institut niederzuschreiben. – – –
Während ›St 25‹ sich nach wie vor in 6000 Meter Höhe hielt, kreiste ›St 21‹ zwei Meilen höher in der Stratosphäre. Zu der gleichen Zeit ungefähr, zu der Captain Dryden seine Rundfahrt um die Nebelbank beendete, kam Professor Eggerth zu Lorenzen in den Funkraum.
»Sieht toll da unten aus, Herr Professor«, begrüßte ihn Lorenzen. »Ist nur ein Glück, daß wir rechtzeitig gestartet sind. Hätten sonst am Ende auch noch etwas von dem Segen abkriegen können.«
»Ja, ja, mein lieber Lorenzen. Der alte Berg hat wieder mächtig gespuckt«, meinte Professor Eggerth leichthin. »Da unten ist vorläufig nichts zu holen. Wollen Sie bitte die Verbindung mit ›St 21‹ herstellen.«
Lorenzen begann an den Knöpfen eines Empfängers zu fingern und meldete kurz danach: »Die Verbindung ist da, Herr Professor.«
Professor Eggerth griff selbst zum Mikrophon, und mit Verwunderung hörte Lorenzen, was er hineinsprach.
»Es hat keinen Zweck mehr, Herr Heineken, sich länger hier aufzuhalten. Setzen Sie kürzesten Kurs auf Bitterfeld und fliegen Sie mit Volldampf zum Werk zurück.«
Er warf die Taste von Sendung auf Empfang um, hörte, was Heineken antwortete, schaltete wieder zurück und sprach weiter. »Vergessen Sie unsere alte Betriebsvorschrift nicht, Herr Heineken. Alle Uhr null Minuten und alle Uhr dreißig Minuten steht einer Ihrer Empfänger auf unserer Welle. Guten Flug! Auf Wiederhören.«
»Die können nach Hause gehen«, brummte Lorenzen vor sich hin. Professor Eggerth überhörte es und setzte sich an einen anderen Empfänger. Die Kopfhörer über den Ohren, begann er daran zu stellen. Hielt plötzlich und lauschte. Griff dann nach einem Schreibblock.
»Nehmen Sie Kurzwelle der amerikanischen Handelsschifffahrt und schreiben Sie mit!« rief er Lorenzen zu, während er selber bereits den Bleistift über das Papier gleiten ließ. Es war eine von der ›Berenice‹ in Morsezeichen gegebene Meldung, die er notierte. Captain Dryden ließ nach USA. funken, daß die Insel von einer neuen Vulkankatastrophe betroffen und wahrscheinlich zum größten Teil zerstört worden sei. Jede Möglichkeit einer Hilfeleistung für die drei Zurückgebliebenen sei zur Zeit unmöglich. Mehr als fraglich sei es, ob sie überhaupt noch am Leben wären. – – –
Captain Dryden glaubte, mit diesem Funkspruch alles getan zu haben, was sich im Augenblick tun ließ. Während die ›Berenice‹ unter einer aufkommenden schwachen Brise ihren Kurs nordwärts verfolgte, war er in seiner Kabine mit der Ausarbeitung eines schriftlichen Berichtes beschäftigt, als es an der Tür klopfte. Ein Matrose kam hinein und brachte ihm ein soeben aufgenommenes Radiogramm.
›Von St 25 an Berenice‹, las er kopfschüttelnd. »Was ist ›St 25‹«?« murmelte er vor sich hin und las weiter. »Professor Harte bei dem Ausbruch vor drei Monaten getötet. O'Brien und Smith von ›St 25‹ heute vormittag kurz vor dem neuen Ausbruch an Bord genommen. Befinden sich in Sicherheit. Professor Eggerth.«
Professor Eggerth? . . . Captain Dryden strich sich über die Stirn und dachte nach. Eine Erinnerung kam ihm, als ob er den Namen schon früher gehört habe. Ein deutscher Professor . . . ein Erfinder, der Stratosphärenschiffe von einer vorher nie erreichten Leistungsfähigkeit baute. Andere Erinnerungen an frühere Ereignisse, bei denen diese Schiffe eine entscheidende Rolle gespielt hatten, kamen ihm in den Sinn. Wenn dieser Deutsche hier durch einen glücklichen Zufall gerade zugegen war, bevor die neue Katastrophe losging, dann konnten die Zurückgebliebenen in der Tat gerettet worden sein. Aber Klarheit wollte der Captain darüber haben. Er schickte Befehl in die Funkkabine, Verbindung mit diesem rätselhaften ›St 25‹ aufzunehmen und Rückfrage zu halten. Doch vergeblich bemühte sich der Funker der ›Berenice‹ darum. Alle Empfänger von ›St 25‹ standen in dieser Stunde auf anderen Wellenlängen und waren vollauf damit beschäftigt, Nachrichten aufzufangen, die vom Osten und Westen her den Äther der Südsee durchschwirrten. – – –
Professor Eggerth war nicht mehr allein mit Lorenzen im Funkerraum von ›St 25‹. Auch sein Sohn, Berkoff und Dr. Schmidt hatten sich dort eingefunden. Jeden an Bord vorhandenen Empfänger hatten sie in Betrieb gesetzt und eifrig hörten sie mit und schrieben auf, was sich, von verschiedenen Orten her in verschiedenen Wellenlängen gesendet, in den Antennen von ›St 25‹ verfing.
Funksprüche von den japanischen Inseln, von Neuseeland und aus Insulinde. Funksprüche vom südamerikanischen Kontinent und aus dem Gebiet der neuen Hebriden ebenso wie aus demjenigen der Carolinen- und Marshall-Inseln. Von den verschiedensten weit voneinander entfernten Punkten der Erdoberfläche kamen sie, und mit einer auffallenden Übereinstimmung meldeten sie alle dasselbe: leichte Erdstöße, ein sichtbares Aufleben der vulkanischen Tätigkeit. An hundert verschiedenen Stellen begannen alte Krater, die tot und erloschen gelegen hatten, sich wieder zu regen und verrieten, daß noch gefährliches Leben in ihnen vorhanden war.
»Nun, was meinen Sie dazu, Herr Dr. Schmidt?« fragte Professor Eggerth, als für eine kurze Zeit Ruhe im Äther eingetreten war.
»Es scheint ebenso wieder loszugehen wie vor drei Monaten, Herr Professor. Die Funksprüche melden Unruhe aus den bekannten alten Vulkangebieten.« Dr. Schmidt griff nach den Radiogrammen und blätterte darin. »Wundervoll wie sich die geniale Theorie Dr. Wegeners wieder einmal bestätigt. Immer wieder sind es die Inselgirlanden an der Ostseite der nach Westen treibenden asiatischen Kontinentalscholle und die Randgebirge auf der Westseite des amerikanischen Kontinents, die Vulkanismus zeigen. Und wenn man die Theorie betrachtet, kann es ja gar nicht anders sein. Denn gerade an diesen Stellen ist das Magma der Tiefe den stärksten Pressungen ausgesetzt und muß sich auf irgendeine Weise Luft nach oben schaffen.«
Professor Eggerth wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. »Ich kenne die Wegenersche Theorie, Herr Doktor. Sie haben recht, wenn Sie sie genial nennen. Sie erklärt uns unendlich viel, aber . . . die Einschränkung muß ich machen, doch noch nicht alles.«
»Ich wüßte nicht, wo sie eine Lücke hätte«, sagte der lange Schmidt abweisend.
»Ich meine die so häufig beobachtete Gleichzeitigkeit der Beben in Ostasien und Amerika, Herr Doktor.«
»Das, Herr Professor . . . das? . . .« Dr. Schmidt geriet ins Stocken, ». . . das kann sehr wohl ein Zufall sein.«
»Ein Zufall? . . . Die Wissenschaft tut gut, nicht an Zufälle zu glauben«, sagte Professor Eggerth. »Halten Sie es auch für einen Zufall, daß gerade jetzt, tausend Meilen nach Osten und tausend Meilen nach Westen von hier entfernt, der Teufel losgeht?«
Dr. Schmidt zuckte mit den Achseln und blieb die Antwort schuldig.
»Ich glaube es nicht, Herr Doktor«, fuhr der Professor fort. »Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Zusammenhang mit dem Ausbruch des Vulkans auf der Insel hier unter uns besteht.«
»Ausgeschlossen, Herr Professor«, begehrte der lange Schmidt auf. »Den Beweis dafür werden Sie niemals erbringen können, das wäre ja . . .« Er suchte nach einem passenden Wort. »Das wäre ja skurril«, sagte er schließlich. »Dann hätten Sie es ja mit einem einfachen Eisblock hier bewirkt, daß in Japan und Chile die Vulkane rauchen . . . unmöglich! Undenkbar, Herr Professor!«
»Denken Sie an die ebenso wunderbaren und ebenso unerklärlichen Erscheinungen in der Solfatare von Pozzuoli«, sagte Professor Eggerth und verließ den Raum.
»Was hat der Herr Professor? Warum ist er so plötzlich fortgegangen?« fragte der lange Schmidt betreten. »Bin ich ihm zu nahe getreten?«
»Das glaube ich nicht, Herr Doktor«, meinte Hein Eggerth beschwichtigend, »mein Vater nimmt so leicht nichts übel. Ich nehme an, daß ihm bei Ihrem Disput etwas Wichtiges eingefallen ist, das er schnell erledigen will.«
»Meinen Sie?« fragte der lange Schmidt unsicher und verließ trotz der nochmaligen Versicherung Hein Eggerths den Funkraum, um dem Professor nachzugehen.
*
In der Tat war dem Professor während der letzten Worte, die er mit Dr. Schmidt wechselte, ein Gedanke gekommen, der ihn veranlaßte, sich in seine Kabine zurückzuziehen, um in Ruhe zu überlegen. Schemenhaft zunächst noch war ihm eine neue ganz große Möglichkeit durch den Kopf gegangen, und schon während er zu seiner Kabine ging, begann sie festere Gestalt zu gewinnen und ihn immer mehr gefangenzunehmen. In Nachdenken versunken bemerkte er kaum Smith und O'Brien, die sich im Mittelraum aufhielten. Mit einer flüchtigen Begrüßung wollte er auch an Dr. Wille vorbei, der ihm auf dem hintern Flur begegnete, blieb dann aber, sich besinnend, stehen und richtete eine Frage an ihn.
»Können Sie mir sagen, Herr Doktor, welche Massen bei großen Vulkanausbrüchen ausgeworfen wurden?«
Dr. Wille überlegte einen kurzen Augenblick, rieb sich die Stirn und schickte sich dann an, einen wissenschaftlichen Vortrag vom Stapel zu lassen.
»Nein, nein, Herr Doktor, das interessiert mich nicht. Einen Höchstwert möchte ich wissen«, unterbrach ihn Professor Eggerth.
»Hm, so, einen Höchstwert? . . . bei dem Ausbruch des Tambora auf Sumbawa wurden beispielsweise 105 Kubikkilometer Magma ausgeworfen . . .« Professor Eggerth machte eine ungeduldige Bewegung.
»Das ist nicht allzuviel, Herr Doktor, ich dachte an größere Werte.«
»Warten Sie, warten Sie, Herr Kollege«, beeilte sich Dr. Wille zu erwidern. »Ich nannte nur eine Zahl, die mir gerade einfiel. Es sind größere, freilich der Masse nach nicht so genau bestimmte Ausbrüche bekanntgeworden, bei denen Tausende, vielleicht sogar Zehntausende von Kubikkilometern ausgeworfen wurden. Leider sind mir die Namen im Augenblick nicht gewärtig.«
»Danke, Herr Doktor, das genügt mir«, sagte Professor Eggerth und ging weiter. In seinem Raum angekommen, verschloß er die Tür hinter sich und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Jetzt galt es für ihn, klar zu überlegen und schnelle Entschlüsse zu fassen. An ein neues Experiment, viel wirkungsvoller als jenes erste mit der Eisbombe, dachte er. Aber bevor er es unternahm, mußte die Insel unten von Deutschland in Besitz genommen und die Besitznahme mußte von den anderen Staaten anerkannt sein.
Wie war die Lage im Augenblick? Vor einer knappen Stunde hatte Captain Dryden nach USA. gefunkt, daß die Insel durch einen neuen Ausbruch schwer mitgenommen, vielleicht sogar ganz zerstört worden sei.
Zweifellos würde die Nachricht von den Küstenstationen an die amerikanische meteorologische Zentralstelle weitergegeben werden und zu jeder anderen Zeit eine gewisse Aufmerksamkeit erregen. In dieser Stunde aber, in der ähnliche Nachrichten von so vielen andern Punkten des Erdballes einliefen, würde sie voraussichtlich in der Menge versinken und kaum sonderlich beachtet werden.
Durch den Funkspruch von ›St 25‹ hatte Captain Dryden weiter erfahren, daß die Mitglieder der Carnegie-Expedition vor diesem Ausbruch von dem deutschen Flugschiff gerettet worden waren, und sicherlich hatte er auch diesen Umstand nach Amerika gefunkt. Man wußte also dort, daß ein deutsches Flugschiff in der Zeit vor der neuen Katastrophe auf der Insel geweilt hatte. Mit diesen Tatsachen war zu rechnen. Wie sollte er auf Grund derselben weiter vorgehen? Viele Minuten lang grübelte Professor Eggerth hin und her, bis er einen Weg sah, der ihm gangbar zu sein schien.
Annektiert werden mußte die Insel von Deutschland, bevor er sein zweites großes Experiment ausführte. Sie nach dieser jetzigen Katastrophe zu annektieren, wäre sinnlos gewesen . . . aber wenn man die Sache so drehte, als ob die Besitznahme schon vorher erfolgt wäre, dann würde es gehen . . . dann würde es sogar ganz vorzüglich gehen . . .
Eine Erregung überkam den Professor und hielt ihn nicht länger an seinem Platz. Er sprang auf und begann in der Kabine hin und her zu gehen, während er den Gedankengang weiter spann.
Folgendermaßen mußte der Verlauf der Dinge der Welt dargestellt werden. Schon vor Tagen hatte eine deutsche Expedition, zu der unter anderem der frühere Reichskommissar Dr. Wille gehörte, die Insel besetzt und die deutsche Flagge gehißt. Jetzt . . . das heißt in wenigen Stunden . . . mußte das Auswärtige Amt in Berlin die Besitznahme den anderen Mächten notifizieren. Wie stets bei solchen Gelegenheiten würden diese erst einmal die Stirn runzeln und versuchen, allerhand Schwierigkeiten zu machen. Und während dann ein Hin und Her von diplomatischen Noten begann, würde sich die Nachricht verbreiten, daß die Insel inzwischen durch einen neuen Vulkanausbruch zum Teufel gegangen ist, wonach die anderen dann nicht ohne eine gewisse Schadenfreude ihre Zustimmung zu der Annektion geben würden.
Als Professor Eggerth mit seinen Überlegungen bis zu diesem Punkt gekommen war, setzte er sich wieder an den Schreibtisch und begann einen langen Funkspruch zu entwerfen. An den Minister Schröter war die Depesche gerichtet, die er zunächst im Klartext entwarf. Dann holte er aus einem Tresorfach seiner Kabine ein Codebuch heraus und machte sich daran, seine Niederschrift zu verschlüsseln. Und dann ging er damit zu Lorenzen in die Funkerkabine und blieb so lange neben ihm stehen, bis er die Empfangsbestätigung aus Berlin für sein Radiogramm in der Hand hielt.
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»Werden Sie daraus klug?« fragte Minister Schröter den Ministerialdirektor Reute, den er zu einer dringenden Besprechung zu sich gebeten hatte. Reute schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe unsern Professor nicht. Er wünscht, daß wir ein Inselchen in der Südsee annektieren, dessen genaue Ortsbestimmung er uns funkt. Gut? Den Gefallen könnten wir ihm schließlich tun, obwohl das Eiland als Stützpunkt für eine der neuen Linien kaum in Betracht kommt. Aber ich habe die Insel auf keiner unserer Seekarten entdecken können . . .«
»Was, wie Herr Reute? Die Insel ist nicht eingetragen?«
»Nein, Herr Minister. Ich habe unser gesamtes Kartenmaterial daraufhin durchgesehen. Weder auf deutschen noch auf englischen oder amerikanischen Karten ist die Insel zu finden. Wenn der Funkspruch nicht von Professor Eggerth käme, würde ich das Ganze für einen üblen Scherz halten und das Radiogramm einfach zu den Akten schreiben lassen.«
»Eigenartig, Herr Reute, mehr als eigenartig ist das.« Minister Schröter sagte es nachdenklich, schwieg eine kurze Zeit und sprach dann langsam, fast stockend weiter. »Eine Irreführung ist bei Professor Eggerth ausgeschlossen. Wenn er uns eine genaue Ortsbestimmung angibt, dann ist die Insel auch in dieser Stelle vorhanden. Daß sie nicht in den Karten eingetragen ist, könnte vielleicht den Grund haben, daß sie erst vor kurzem aus der See aufgetaucht ist. Meines Wissens soll etwas Derartiges öfter in der Südsee vorkommen.«
Zögernd stimmte ihm Ministerialdirektor Reute bei. »Das wäre in der Tat eine Möglichkeit, Herr Minister, durch die sich das Nichtvorhandensein der Insel auf den Karten erklärte. Aber die andere Frage bleibt dabei immer noch ungelöst. Warum denn um alles in der Welt verlangt der Professor, daß wir unsere Annektionserklärung fünf Tage vordatieren sollen. Das bleibt mir unverständlich.«
»Offen gesagt, mir auch, Herr Reute . . . und trotzdem muß ich immer wieder sagen: ohne einen bestimmten Grund und Zweck unternimmt Professor Eggerth nichts. Wenn er eine solche Vordatierung wünscht, wird er auch dafür einen zwingenden Grund haben . . . ja, Herr Reute . . . wir müssen zu einem Entschluß kommen. Wie sollen wir in der Angelegenheit vorgehen?«
»Vielleicht doch erst noch einmal rückfragen, Herr Minister?«
»Hat keinen Zweck, Herr Reute. Es würde die Sache nur unnötig aufhalten. Ich bin dafür, sofort die erforderlichen Instruktionen an unsere diplomatischen Vertreter im Ausland entwerfen zu lassen und den in der Südsee interessierten Mächten die Besitznahme der Insel so zu notifizieren, wie Professor Eggerth es wünscht. Mögen sich die anderen nachher auch mal die Köpfe zerbrechen, wenn sie die Insel auf ihren Karten nicht finden können. Auf allerlei Rückfragen und Quertreibereien müssen wir natürlich gefaßt sein, aber das darf uns die Laune nicht verderben.«
Ministerialdirektor Reute erhob sich mit einer kurzen Verbeugung. »Ich werde die Schriftstücke aufsetzen lassen, Herr Minister.«
»Ich bitte darum, Herr Reute. Es wäre mir erwünscht, wenn die Noten an unsere ausländischen Missionen noch im Laufe des heutigen Nachmittags hinausgehen könnten.«
»Wie Sie wünschen, Herr Minister.« Ministerialdirektor Reute verließ den Raum, um alles Erforderliche zu veranlassen. – – –
In den nächsten Tagen spielten sich die Dinge genau so ab, wie Professor Eggerth und Minister Schröter sich ihren Verlauf vorgestellt hatten. Mißtrauen und Verwunderung zunächst einmal bei den fremden Kabinetten; dann ein Zu-Rate-Ziehen von Karten und Atlanten, um festzustellen, ob die überraschende Neuerwerbung des Deutschen Reiches nicht mit älteren Interessen kollidiere, und dann erneutes Staunen, weil die von Deutschland annektierte Insel einfach auf keiner Karte vorhanden war.
Nicht ohne Bedauern stellte man in England und Frankreich diesen Umstand fest, denn er nahm den fremden Regierungen die Möglichkeit, ältere Rechte ins Feld zu führen. In gewundener Diplomatensprache und gespickt mit vielen ›Wenn und Aber‹ bestätigte man den Empfang der deutschen Note, ohne sich auf eine endgültige Stellungnahme festzulegen.
Etwas anders verliefen die Dinge in USA. Auch dort war man im Außenamt zunächst reichlich verwundert, weil die Insel sich auf den amerikanischen Karten ebensowenig finden ließ wie auf denen der anderen Nationen. Doch während Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre ratlos dasaßen, erinnerte sich ein erfindungsreicher Legationsrat des Umstandes, daß das Carnegie-Institut vor etwa drei Monaten eine Expedition in diesen Teil der Südsee entsandt hatte und wandte sich an das Institut um Auskunft.
Die Antwort war verblüffend. Das Institut bestätigte das tatsächliche Vorhandensein jener Insel, die bereits sagenhaft zu werden drohte, aber es gab darüber hinaus auch noch eine Schilderung ihres vulkanischen Charakters, der ihren Wert mehr als zweifelhaft machte. Wenn man den Berichten der Expeditionsmitglieder, die das Institut seiner Auskunft beifügte, Glauben schenken konnte, so war die Insel bei jenem Ausbruch, der die Expedition zur schleunigen Flucht zwang, bis in ihre Grundfesten erschüttert und zu einem erheblichen Teil zerstört worden. Der Umstand, daß drei Mitglieder der Expedition bei der Katastrophe verlorengegangen . . . wahrscheinlich sogar umgekommen waren . . . unterstrich den Ernst dieser Darstellung.
Ein Rätselraten hub darauf im amerikanischen Außenamt an, was Deutschland mit der Besitznahme eines solchen von den Gewalten der Tiefe mit ständigem Untergang bedrohten Felsbrockens bezwecken könne. Eine plausible Erklärung dafür ließ sich trotz allem Suchen nicht finden, und nach alter diplomatischer Gepflogenheit versuchte man, die Angelegenheit zunächst hinzuziehen, indem man ein paar überflüssige Rückfragen an Berlin richtete.
Schon war man in Washington bereit, eine ebenso gewundene und nichtssagende Note nach Berlin abgehen zu lassen wie die anderen Staaten, als das Carnegie-Institut sich von neuem meldete. Es gab dem amerikanischen Außenamt Kenntnis von jenem Funkspruch Captain Drydens, der wenige Tage vorher in der Fülle anderer Bebenmeldungen von größerer Bedeutung übersehen und unbemerkt geblieben war.
Als dies Radiogramm in Washington auf den Tisch flatterte, ging erst ein Lächeln und dann ein lautes Lachen durch die Reihen der Diplomaten und Staatsmänner. Da war das Deutsche Reich, das sie immer noch mit Mißtrauen beobachteten und immer noch nicht sonderlich liebten, ja Gottseidank mal gründlich reingefallen. Eben erst hatte es zum Mißbehagen der anderen eine Insel annektiert, und schon fünf Tage später war das Objekt durch eine neue Katastrophe zerstört worden.
Es fehlte nicht an Stimmen im Außenamt von USA., die diese neueste Wendung der Dinge als eine offensichtliche Fügung des Schicksals priesen. Im übrigen aber war man entschlossen, schnell die Konsequenzen aus der veränderten Sachlage zu ziehen. Jetzt, nachdem der verdammte Fels dahinten in der Südsee in die Luft geflogen war, stand ja gar nichts mehr im Wege, seine Annektion durch Deutschland vorbehaltlos anzuerkennen.
In diesem Sinne schmiedeten die amerikanischen Diplomaten noch am gleichen Tage eine Note, in der sie es auch nicht unterließen, Deutschland zu seiner neuen Erwerbung Glück zu wünschen. Und ferner hielten sie es für angebracht und nützlich, den anderen in der Südsee interessierten Staaten von ihrem Wissen mitzuteilen, was bei diesen ganz ähnliche Folgen auslöste. – – –
»Die Sache geht mir beinahe zu glatt, Herr Reute«, sagte Schröter, während er in den vor ihm liegenden Schriftstücken blätterte. »Bedingungslose Anerkennung unserer Neuerwerbung durch USA., durch England, durch Frankreich . . . und hier noch durch einige andere . . . sogar Glückwünsche, was doch sonst nicht die Art der Herren ist . . . Hoffen wir, daß die Geschichte nicht noch einen Haken hat.«
»Ich wüßte nicht, wo der stecken sollte, Herr Minister«, erwiderte Reute. »Aus den Funksprüchen von Professor Eggerth scheint mir übrigens hervorzugehen, daß er eine glatte Anerkennung beinahe erwartet hat.«
»Haben Sie weitere Nachrichten von ihm?« fragte Schröter.
»Jawohl! Vor einer Stunde traf ein neuer Funkspruch von ›St 25‹ ein. Der Professor bittet, ihn umgehend zu benachrichtigen, sobald die Anerkennung seitens aller interessierten Staaten vorliegt. Aus seinen Depeschen spricht eine gewisse Ungeduld.«
»Nun, jetzt können wir ihm ja seinen Wunsch erfüllen«, meinte der Minister. »Die Anerkennungen sind da. Lassen Sie an ihn funken, und außerdem . . . flechten Sie das bitte inoffiziell ein . . . teilen Sie ihm meinen Wunsch mit, etwas Genaueres über seine Pläne zu erfahren. Wir haben bis jetzt nach seinen Wünschen gehandelt, ohne nach dem Warum und Weshalb zu fragen, aber auf die Dauer geht das nicht an. Sie verstehen, was ich meine«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß der Ministerialdirektor zögerte.
»Verzeihung, Herr Minister«, begann Reute, als Schröter schwieg, »ich habe diesen Wunsch bereits früher von mir aus dem Professor angedeutet. Er funkte mir zurück, daß er darüber selbst verschlüsselt dem Äther nichts anvertrauen möchte, sondern zur gegebenen Zeit hierher kommen würde, um die Angelegenheit persönlich mit Ihnen zu besprechen.«
Minister Schröter horchte auf. »Sie sagen, er will selber hierher kommen . . . eine Angelegenheit, die unbedingt geheimgehalten werden muß. Ich bin gespannt, was er uns bringen wird. Hoffentlich läßt er uns nicht allzulange warten.«
»Ich glaube nicht, Herr Minister«, meinte Reute. »Herr Professor Eggerth hat seinen Besuch unmittelbar nach der Anerkennung unserer Erwerbung durch die anderen Staaten in Aussicht gestellt . . .«