Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
So schick' uns Gott das Glücke
Zu seiner gelegenen Zeit,
So will ich ihn nit aufgeben
In Lieb' und auch in Leid.
Es war noch nicht eine Woche nach dem Mißgeschicke, welches die Stadt Frankfurt am Main so unerwartet und schrecklich betroffen hatte, verflossen, als eines Nachmittags in einem stillen Thälchen des Taunusgebirges, zunächst der Straße, die sich von jener Stadt über Limburg nach Cölln zieht, eine kleine Reisegesellschaft, bestehend aus einem schönen, etwas bunt gekleideten Frauenbilde, einem nicht mehr ganz jungen, zierlichen Manne, in schwarzer Tracht und Spitzenkragen, einem Bettelmönche, einer weiblichen Dienerin und zwei Knechten, behaglich lagerte. Die Gegend ringsumher bot mannigfache Reize, das ganze Plätzchen war recht wohl geeignet, einer heitern Wandrergenossenschaft, die sich hier erquicken wollte, zum Ruhepunkte zu dienen. Aus der Gegend, welche die Reisenden verlassen hatten, schauten ihnen die duftigen blauen Häupter des Feldbergs und des Altkönigs nach, die Zinnen stolzer Burgen umringten den Fuß dieser Könige des Taunusgebirges, den Rand der Wiese, die sie zu einer kurzen Rast, zum gemeinsamen Genusse des Vespermahls erwählt hatten, bewässerte auf der einen Seite ein frisch vorübersprudelnder Quell, auf der andern Seite begränzte ihn der Wald, aus dem gerade hier mehrere sich durchkreuzende Wege nach der großen Straße liefen.
Die Gesellschaft schien heiter und fröhlich gestimmt. Die Reise mochte ihr eher als ein Vergnügen, denn wie eine Mühseligkeit erscheinen. Das schöne Frauenbild, dessen muntres, freies Wesen kaum einem Mägdlein geziemte, besaß doch wiederum eine Leichtigkeit und Unbefangenheit, die nicht wohl als Eigenschaften einer verheiratheten Frau jener Zeit angesehn werden konnten. Sie saß auf einer erhöheten Stelle auf einem Stein, den man zu ihrer Bequemlichkeit mit weichen, wollenen Teppichen bedeckt hatte. Neben ihr lagerte, traulich an sie geschmiegt, der zierliche Schwarzmantel mit dem Spitzenkragen, vor ihr stand, einen Becher Wein in der Rechten, mit lachendem Faunengesichte, der Barfüßermönch. Im Hintergrunde, in der Nähe dreier weidenden Pferde, hielt sich die Dienerschaft auf.
»Und nun den Valettrunk!« rief der Bettelmönch, indem er den silbernen Becher gegen das lagernde Paar hob. »Heut über's Jahr seht Ihr mich, geliebt's dem heiligen Franciscus, zu Besuch bei Euch in der guten Stadt Limburg und es wird sich dann zeigen, ob die schöne Stimme der schönen Eitel Glockenklang, wenn aus der wandernden Nachtigall eine seßhafte Frau Stadtschreiberin geworden ist, Haus und Stadt so wohl regiert, wie ihren eignen Lebenspfad, den sie gar verständig in das Haus meines wackern Cumpans, Herrn Johannes Gensbein geleitet hat. Vivant Gensbeinus et Gensbeina!«
Lachend leerte Pater Trockenbrod, denn kein andrer war der lustige Bruder Barfüßer, der hier auf das Wohl zweier, uns ebenfalls wohlbekannter Personen trank, die indessen bei mehrfachem Wiedersehn im Hause des Frankfurter Stadtkochs Neigung und, von Eitel's Seite vielleicht auch andre Rücksichten, zu einem Brautpaare gemacht hatten, seinen Becher. Der verliebte Stadtschreiber drückte Eitel's Hand, welche sie ihm mit einem süßen Blicke überließ, an seine Lippen. Dann räusperte er sich und sprach:
» Pact nubila Phoebus!
Verflogen ist der Wolkenduft
Und Phöbus strahlt aus heitr'er Luft.
Wenn Ihr nach Frankfurt kommt, Pater Clarus, so vergeßt nicht die Wittwe von Ephesus, Frau Ursula Heinz, bestens von uns zu grüßen und ihren freundlichen Tröster in der Trauerzeit, den schmächtigen Klimpermann Muskablüt. Mors ultima linea rerum! Der Tod macht unter's Leben den Strich. Dem armen Heinz war's aber ein garstiger Strich durch die Rechnung, als ihm der Tod an jenem Tage, wo der Judenbrand ausbrach, grade den Schrecken mörderisch auf's Herz warf, als er beschäftigt war, einen Schweinskopf für uns zum Abendimbiß zuzurichten. Ich glaube, Frau Ursula hätte sich in der Verzweiflung ein Leid gethan, wenn nicht der Zittermann plötzlich heulend und jammernd erschienen wäre, und sie nun das christliche Mitleid nicht genöthigt hätte, sich des Lebenden mit gleicher Güte anzunehmen, wie sie bisher des Todten sich angenommen.«
»Spottet ihrer nicht!« sagte Eitel, indem sie ihm einen leichten, scherzhaften Schlag auf die Hand gab. »Wir sind ihr Beide Dank schuldig. Hat sie mich nicht gütig aufgenommen in ihrem Hause und gleich von Anfang an unser Bündniß, unser beiderseitiges Glück im Auge gehabt? Wer war's, der Eurer rühmend immer bei mir gedachte, der sich immer bescheidentlich entfernte, wenn Ihr zu uns in's Frauengemach tratet! Die gute Frau Ursula! Hat sie eine Schwäche für Muskablüt, so kann man ihr das verzeihen. Der selige Heinz war immer nahe dran, in seinem eignen Fett zu ersticken, das hat sie von Muskablüt nicht zu befürchten. Gebt acht, sie werden so gut ein Paar, wie wir! Das sagt nur dem Muskablüt von mir, Pater Clarus, wenn Ihr ihn bei Seite ziehn könnt, und fügt noch hinzu, ich sey überzeugt, die schöne Jüdin, die ihr Netz noch über das Leben hinaus nach ihm ausgebreitet, habe ihm gewiß irgend ein reiches Schmuckstück, vielleicht ein Säckel mit Goldgulden und Turnosen dabei, zum Andenken hinterlassen.«
»Ganz ohne Grund ist die Sache nicht!« hob wiederum der Stadtschreiber an. »Ich überraschte ihn eines Morgens, als er etwas Glänzendes putzte und gegen die Sonne hielt. Er verbarg es schnell und wollte mich überreden, es sey ein zinnernes Schaustück gewesen, welches er einst von einem Fräulein in Schwaben als einen Talisman, der ihm, wenn er nur gewollt, die Pforte ihrer Wohnung eröffnet, erhalten habe. Aber ein wohlbestellter Stadtschreiber von Limburg weiß Demantstein von Zinn ebensogut zu unterscheiden, wie eine ächte Urkund von einer falschen. Laß dem Narren seine Weis'! dacht' ich. Du hast wichtigere Dinge zu thun, du stehst jetzt auf Freiersfüßen.
Du mußt richten den Liebespfeil,
Daß er trifft ihr Herz in Eil'!«
Er sah mit schalkhaftem, zärtlichen Lächeln zu Eitel auf. Diese stimmte, sich und den zwei Männern zur Erheitrung, ein Lied an.
»Auf allen Wegen
Uns kommt entgegen
Der Schalk Amor;
Wer ahnt' es nur,
Daß er den Bogen
Schon aufgezogen,
Wenn erst ein Blick
Sein Bild giebt zurück?
Er weiß zu berücken
In lockenden Blicken,
Er zeigt sich so treu;
Doch gleich ist's vorbei.
Der Pfeil losgeschwungen
In's Herz ist gedrungen,
Und welcher Gewinn? –
Schalk Amor sitzt drin!«
»Und mit diesem Stückchen laßt uns scheiden, Pater Clarus!« fuhr die schöne Sängerin fort. »Ihr habt dem Schalk Amor freilich abgeschworen auf Euer Lebelang und Euch den Terminirsack erwählt zum Schätzlein auf der weiten Wandrung. Aber Euern Freunden gönnt Ihr doch das Liebesglück, und wenn Ihr auch nicht selbst bei unsrer Hochzeit seyn könnt, so sendet Ihr uns gewiß Eure guten Wünsche.«
»So gewiß ich meinen Terminirsack bei meinem ersten Besuche in Limburg aus der Küche der Frau Stadtschreiberin wohl zu füllen gedenke,« versetzte, noch einmal den wiederholt dargebotenen Becher leerend, der Bettelmönch. »Lebt denn Beide wohl auf fröhliches Wiedersehn! Bis hierher habe ich Euch das Geleit gegeben, aber nun treibt mich's auch zurück nach der lieben Stadt Frankfurt, wo mancher gute Freund jetzt in Noth und Jammer sitzen mag, und wohl eines tröstlichen Zuspruchs vom Pater Clarus bedarf. Laßt uns noch eins anstoßen, Domine Stadtschreiber! Es läßt sich nicht fröhlicher scheiden, als bei Sang und Becherklang. Den Sang gab Eure Liebste, den Klang gebt Ihr. Sanct Franciscus gesegne Euch die Reise!«
Mit diesen Worten warf der Bettelmönch den Zwerchsack behend über die Schulter, winkte noch einmal lächelnd dem Brautpaar und trat dann in dem gewohnten rüstigen Schritte seiner herkömmlichen Fußwandrungen, den Rückweg, der ihn den Gipfeln der blauen Berge entgegenführte, an. Er schritt neben dem rieselnden Bächlein hin, er wandte sich nicht eher nach seinen bisherigen Gefährten um, als an einer Stelle, wo der Weg seitwärts in einen Grund führte, wo sie gleich durch den vorspringenden Wald seinen Blicken ganz entzogen wurden. Hier grüßten sie einander noch einmal durch fröhliche, lebendige Gebehrden, dann war der Pater verschwunden, und Herr Gensbein gebot den Dienern nun auch Alles schleunig zu ihrer Weiterreise zu rüsten.
Indessen hatte sich die Sonne zum Saume der Gebirge gesenkt. Breite, weithingreifende Schatten lagerten sich in's Thal, der Wald sah düstrer herüber, die Berggipfel zeigten sich schärfer im abendlichen Lichte. Drei sanftschreitende Rosse, für das Brautpaar und die Dienerin bestimmt, wurden herbeigeführt. Des Stadtschreibers Blicke aber hingen an schön Eitel, deren Angesicht, von den Strahlen der scheidenden Sonne umflossen, ihm in reizender Verklärung erschien.
» Me Hercle!« rief er, hingerissen von Liebe und Entzücken, »ich bin ausgezogen nach Scherz und Tand, und habe einen Schatz gehoben, der nun mein ganzes Leben verherrlicht. Euch soll auch Freude werden in Hülle und Fülle, und wenn es heißt: Herz, was begehrst du? so soll das liebe Herz gleich befriedigt seyn. Haltet auch eine Stadtschreiberin von Limburg für nichts Geringes! Bürger und Volk sind Euch unterthan und Ihr tauscht mit keiner Patricierfrau in dem reichen Frankfurt!«
Da schweifte zufällig sein Blick nach dem nahen Waldrande, der die Wiese begränzte. Zwei dunkle, verhüllte Mannsgestalten traten eben aus dem Gebüsche am Kreuzwege. Die eine winkte ihm mit einer hoch erhobenen Pergamentrolle, die andre nahm ein kurzes Beil unter dem Mantel hervor und hieb in drei Schlägen drei Spähne von einem nahen Baum. Dann zogen sie sich langsam wieder in das Gebüsch zurück.
Nur Herr Gensbein hatte die zwei Männer und ihr seltsames Beginnen bemerkt. Seine Braut, die Dienerin und die Knechte wandten der Gegend, wo sie erschienen waren, den Rücken. Er erblaßte, denn er erkannte in ihnen Boten der heimlichen Vehm, denen er, als ein beeidigter Freischöff des furchtbaren Gerichtes, ohne Zögerung Folge zu leisten verpflichtet war. Welche häßliche Störung in dieser Stunde zärtlicher Geselligkeit.
»Ich muß Euch verlassen,« sprach er hastig und verlegen zu schön Eitel. »Doch beunruhigt Euch nicht deshalb. Noch vor Nacht seht Ihr mich wieder und Ihr mögt bis dahin friedlich unter dem Geleite der Diener nach dem Flecken Camberg ziehn, wo Ihr in dem Hause meines wackern Freundes, des Rathmanns Schütz, die gastlichste Aufnahme finden werdet. Die Pflichten eines Stadtschreibers von Limburg sind mannigfach. Ihr müßt Euch schon daran gewöhnen, mich manchmal, wie einen Kobold, plötzlich verschwinden und wiederkehren zu sehn. Gehabt Euch wohl, Herzliebste mein! Mein Herz bleibt bei Euch zurück.«
Er drückte die Hand der erstaunten Eitel an seine Lippen und eilte, ohne ihre Antwort zu erwarten, dem nahen Walde zu, dessen Dickicht ihn bald vor den Blicken der Braut und der Diener, die ihm folgten, verbarg. Ohne sich dieses Räthsel erklären zu können, schwang sich die, auf eine so wunderliche Weise verlassene Sängerin auf das bereit stehende Roß und war noch nicht von ihrem Erstaunen zurückgekommen, als sie im Grauen der Dämmerung den Flecken Camberg erreichte, hier vor dem Hause des Rathmanns Schütz hielt, und in der That von diesem, als die Braut des Herrn Johannes Gensbein, auf das Freundlichste bewillkommt wurde. –
Ungefähr eine Stunde Wegs von der Stelle, wo das reisende Brautpaar gerastet hatte, und so unerwartet getrennt worden war, lag tief im Walde die einsame Wohnung eines Köhlers. Hier führte nur selten einen Wandrer sein Weg vorüber, und der Mann, der in dieser Einöde haus'te, hatte sich, nachdem die Pest auch in seine Hütte gedrungen und Weib und Kind von seiner Seite gerissen, von allem geselligen Umgang mit den Nachbarn in den umliegenden Dörfern zurückgezogen. Sein Aufenthalt, mitten im düstern, hohen Walde, selten von einem Strahle der Sonne heimgesucht, nährte die Schwermuth, der er sich gern ergab. Sein einförmiges Tagewerk war die einzige Aufgabe seines Lebens geworden, und in diesem Treiben schritt er, ohne seiner müde zu werden, seinem Ziele zu. Aber seit dem gestrigen Abende war es regsam, war es lebendig in seiner Wohnung geworden. Noch spät hatte er ein stürmisches Klopfen, ein wildes Rufen an der Thüre vernommen. Drei verirrte Wandrer begehrten Einlaß. Es waren Galeazzo, Joffriede und Regina, die endlich, nachdem sie in allen Richtungen das Gebirg durchirrt hatten, hier anlangten. Der Wahnsinnige war in einen Zwiespalt mit der Idee, die ihn bisher beherrscht, gerathen. Bald dünkte er sich in dem heimathlichen Welschlande, Orangendüfte weheten ihm entgegen, Kastanienwälder umgaben ihn; dann wiederum dünkte ihn diese Natur eine andre; dann sprach er mit wilden Verwünschungen von einer Zaubermacht, die seine Wege verwirre, die den Nord und den Süd untereinander mische, die er erst bezwingen könne, wenn die Blutflecken und die schwarzen Brandmale von seinen Händen entfernt wären. Wo ein Quell sich zeigte, wo ein Bächlein vorüber rieselte, blieb er stehn und wusch und rieb, aber seinem Blicke begegneten fort und fort die Blutflecke und die Brandmale. In einsamen Hütten, selbst einmal in einer Berghöhle hatten die Frauen die Nächte hingebracht, während Galeazzo immer vor den Eingang sich gelagert und seinen wüsten, quälenden Träumen hingegeben gewesen. Joffriede fühlte, wie ihre Kräfte von Augenblick zu Augenblick sanken. Fiebergluth brannte in Kopf und Händen, eisige Schauer durchzuckten ihr Inneres. Mit der letzten, gewaltsamen Anstrengung hatte sie die Wohnung des Köhlers erreicht. Kaum betrat sie das Gemach, welches der Mann, der bei seiner Armuth keine Räuber zu fürchten hatte, ohne Zögern geöffnet, so sank sie kraftlos und ohnmächtig zur Erde. Nur ein schlechtes Lager von trocknen Kräutern und Moos fand sich in der Hütte, und hier mußte Diejenige, deren Kindheit auf seidnen Polstern geruht, deren Jugend von Glanz und Huldigungen geschmeichelt, ohne Hoffnung, wenn auch nicht ohne Liebe, in Elend und Entbehrung dem wahrscheinlich nahenden Tode entgegenschmachten.
Regina stand neben der Kranken, hielt ihre glühende Hand gefaßt und lauschte ängstlich auf die schwachen Odemzüge, die sich mühesam ihrer Brust entrangen. Wenn sie starb, was hatte das unglückliche Mädchen zu erwarten, welche entsetzliche Zukunft mit dem wahnsinnigen Galeazzo, gegen den Joffriede bisher stark und schützend aufgetreten, dämmert vor ihr empor! Und dann fühlte sie sich auch von einer unerklärlichen, mächtigen Neigung zu der beklagenswerthen Kranken ergriffen. Es war mehr, als Mitleid, was sie empfand; sie konnte, wenn sie jene Gattung des Wohlwollens, welche sich Frau Gisela durch ihre sanfte Güte gewann, abrechnete, dieses Gefühl mit ihrer Liebe zu der mütterlichen Freundin vergleichen. Galeazzo stand lange unbeweglich im Eingange der Hütte und betrachtete die Fieberkranke mit finstern Blicken. Dann schritt er hinaus und kehrte die Nacht hindurch, die Joffriede in einem wilden Wechsel von Phantasieen hinbrachte, nicht wieder. Regina suchte die Kranke zu beruhigen und zu erquicken, wie sie vermochte. Sie redete ihr freundlich, sanft und zärtlich zu, und oft gelang es ihr, den Fieberwahn, der sie ungemein ängstigte, zu zerstreuen. Die Kranke schien dann auf Augenblicke zur Besinnung zu kommen, lächelte ihre Pflegerin an und drückte ihr die Hand. Die Erquickungen, welche Regina bieten konnte, beschränkten sich auf den einfachen Vorrath des Waldbewohners, auf Haferbrod, süßen Meth, Milch und frisches Quellwasser.
Als endlich nach einer Nacht, die dem Mädchen unerträglich lang dünkte, der Morgen erschien, sank Joffriede in einen tiefen Schlaf, während dessen sie so schwach athmete, daß Regina oft von dem entsetzlichen Gedanken, sie sey gestorben, ergriffen wurde. Dieser Schlaf dauerte bis zum Mittage. Von Zeit zu Zeit öffnete Galeazzo die Thüre, blickte ungeduldig herein und fragte: ob sie noch nicht weiter reisen könnten? Er glaube nun gewiß den rechten Weg in die Gebirge der Heimath zu erkennen, der Zauber scheine seine Macht verloren zu haben und ihn nicht mehr verwirren zu können. Mit dem Eigenthümer der Waldwohnung gerieth er in einen heftigen Streit. Er wollte diesem den Eintritt in seine eigene Hütte verwehren, aber der Mann schob ihn so kräftig bei Seite, schwang den Schürbaum so drohend nach dem seltsamen Gaste, daß dieser finster zurücktrat und, sich seinen wilden Wahnbildern wieder hingebend, nun in einiger Entfernung von der Hütte am Rande des Waldes in unruhiger Bewegung auf und niederschritt.
Joffriede war erwacht. Sie erkannte Reginen, die neben ihr stand und ihr einen kühlenden Trunk darreichte; sie hatte ihre Besinnung wieder erlangt, aber sie fühlte sich sehr schwach, sie ahnete das Heranrauschen des Todesengels, der ihr in wenigen Stunden die Dornenkrone eines schmerzerfüllten Lebens vom Haupte nehmen würde.
»Regina,« sagte sie mit leiser Stimme, »wenn die Sonne dieses Tages sinkt, verlischt auch das Licht meines Lebens. Zu deinen Armen werde ich sterben, ich werde wähnen, den letzten Seufzer an der Brust meines Kindes auszuhauchen, und das würde ein süßes Hinüberschlummern seyn, wenn ich mit meinem Gotte versöhnt wäre. So aber kann ich nicht sterben, ich kann nicht, mit schwerer Sünde beladen, vom Leben scheiden. Wie der Wandrer in der Wüste nach einem Labetrunke, schmachte ich nach Entsündigung durch einen geweihten Diener der Kirche. Ich muß beichten. Wo ist der Mann, dem diese Hütte angehört? Er soll mir einen Priester holen, daß ich diesem den Abgrund meiner Seele eröffne, daß ich dich seinem Schutze übergebe. Ja, Regina, du sollst deine Eltern wiedersehn! Sage deinem Vater, daß meine Liebe, daß die Liebe der Geißlermeisterin Joffriede dir geworden, daß sie schirmend zwischen dich und den unseligen Galeazzo getreten.«
Der Hüttenbewohner trat eben aus einem kleinen Nebengemache, wo er mit einem häuslichen Werke beschäftigt gewesen. Joffriede winkte ihn an ihr Lager. Sie brachte ihm ihr Anliegen vor, sie gab ihm Geld, um ihn willfähriger zu machen und trug ihm zugleich auf, im nächsten Orte ein Pferd zu kaufen, auf dem sich, wenn sie gestorben wäre, Regina mit dem Priester entfernen könne. Der Mann, den selbst das Unglück schwer geprüft, zeigte sich zu Allem erbötig. Er gelobte, auf Joffrieden's weiter ausgesprochenes Verlangen, das Mädchen, selbst gegen Galeazzo in Schutz zu nehmen und betheuerte, den tollen Menschen mit seinem Schürbaum zu unterwerfen, wenn er sich nicht anders zur Ruhe geben wolle. Aber vor Abend könne er nicht versprechen heim zu seyn und den Priester mit sich zu führen. Das nächste Pfarrdorf liege auf anderthalb Stunde Weges entfernt im Gebirge und der Weg selbst biete manche Hindernisse. Übrigens könnten sich die Frauen bis dahin unter Schloß und Riegel gegen Galeazzo verwahren. Die Thüre sey von starkem Eichenholze, durch die kleinen Fenster vermöchte kaum ein Kind, geschweige ein Mann Eingang zu finden. Der Köhler verließ, nachdem er noch einige Worte des Trostes und der Hoffnung zu Joffrieden gesprochen, die Hütte. Gleich hinter ihm schob Regina, die sich jetzt, wo ihrem Schicksale eine zweifelhafte Wendung bevorstand, von erhöhetem Entsetzen vor Galeazzo ergriffen fühlte, den schweren Riegel vor.
Wie träge schlichen jetzt die Stunden, in denen bald die Lebensflamme Joffrieden's hell wieder aufleuchtete, bald zum Verlöschen zusammenschwand, vorüber! Lichte Augenblicke wechselten mit Phantasieen, die aber, bei den abnehmenden Kräften der Kranken, nicht zu stürmischen Ausbrüchen stiegen. Aus vielen Dingen, die sie in diesem Zustande laut werden ließ, konnte Regina auf frühere, seltsame Verbindungen zwischen ihr und dem Herrn vom Rhein, auf ihre Herkunft, auf ein wunderliches Gemisch außerordentlicher Verhältnisse, in denen sie gelebt, schließen. Immer aber sprach sie mit Abscheu, mit tief empfundner Reue über ihre Verirrung zu den Geißlern, über den frevelhaften Stolz, der sie gedrängt, sich zu einer Meisterin dieser unseligen Genossenschaft aufzuschwingen, der sie zu einer blutdürstigen Verfolgerin so vieler andern gemacht. Kehrte ihr Bewußtseyn zurück, so verlangte sie dringend nach dem Geistlichen, so fragte sie ängstlich nach der Tageszeit und ob doch nicht schon der Abend über die Berge hereindämmre und den Tod bringe?
Einigemale ließ sich Galeazzo von Außen an den Fenstern der Hütte sehn. Wenn er aber die leichenblasse Joffriede, die dem Tode schon verfallen schien, erblickte, dann wandte er sich zusammenschaudernd ab, schritt wieder am Waldsaume auf und nieder und dachte in seinem Wahnsinne, wenn sie gestorben wäre, so würde für ihn und Reginen erst das rechte freudige Leben in diesem Waldgebirge, wo kein Dritter die Herrschaft dann mit ihnen theile, angehen. Eine entsetzliche Angst vor dem Tode, ein unbezwinglicher Abscheu vor der Sterbenden hatte sich seiner bemächtigt. Wann er durch das Fenster in die Hütte blickte, dünkte es ihn, tausend bleiche bekannte Gestalten tauchten im wilden Wechsel um das Lager der Kranken empor: jene unglücklichen Juden, die er in Basel und Straßburg verbrannt, so mancher Andre, den seine Hand mörderisch getroffen, und unbeweglich stand am Fuße des Lagers das blutige Gespenst des Knechts, den er, bei dem versuchten Raube in jener Nacht, erschlagen. Trieb es ihn dann wieder zum rastlosen Auf- und Niederwandeln am Waldsaume hin, so schien es ihm, als wären die Blutflecken an seinen Händen zu Blutquellen geworden, aus denen unaufhörlich Blut nieder träufele und die er vergebens mit Gras und Moos zu verstopfen, mit einem Stück von seinem Gewande zu verbergen suchte. Das Blut drang allenthalben durch. Es schwamm um ihn, es schien sich zu einem Meere bilden zu wollen, das ihn zu verschlingen drohte. In dieser entsetzlichen Beängstigung bemerkte er nicht mehrere schwarz verhüllte Männer, die aus dem entgegengesetzten Dickicht des Waldes hervortraten, ihn und sein Treiben aufmerksam beobachteten und dann, mit einer übereinstimmenden Gebehrde, als seyen sie nun ihrer Sache gewiß, wieder hinwegeilten.
Indessen war der ehrliche Köhler, den die sterbende Frau und das hülflose Mädchen innig dauerten, gewissenhaft bemüht gewesen, den erhaltenen Auftrag auszuführen. Allein er fand den Pfarrherrn des Dörfchens, zu dem er seine Schritte gelenkt, nicht zu Hause; er konnte nur die Bitte, diesen gleich nach seiner Heimkehr in seine entlegene Wohnung zu senden, hinterlassen, und begab sich dann mit dem glücklich erkauften Pferde, besorgt um seine zwei weiblichen Gäste, eilig auf den Rückweg. Aber so sehr er auch seine Schritte beschleunigte, so brach völlige Dunkelheit ein, ehe er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Da vernahm er hinter sich auf dem Bergpfade den raschen Gang, das keuchende Odemholen eines Wandrers. Er wandte sich um und erblickte einen Mönch, der einem jener strengen Orden angehörte, deren Regel eine beständige Verhüllung des Angesichts gebot. Der Mönch schien ihm, indem er an die sterbende, auf Beichte und Absolution harrende Frau in seiner Hütte dachte, von Gott gesandt. Er richtete sogleich sein Anliegen an ihn, er fand hier eine Theilnahme, die seine Erwartung übertraf. Der Zufall hatte ihn mit dem grauen Büßenden von der Ingelheimer Au zusammengeführt, den Vaterangst und Vatersehnsucht hinauf in die Gebirge trieb. Oder vielmehr war es nicht der Zufall, sondern die Nemesis, die, von Galeazzo schwer gereizt, ihm den Gegner auf den Fersen nachsandte. Noch weilte eine Spur von Leben in dem Knechte, den der Geißlermeister, zum Tode getroffen, auf dem Lagerplatze der ersten Nachtruhe zurückgelassen, als der graue Büßende, in der Verfolgung des Räubers seines Kindes, diese Stelle erreichte und von Menschenliebe bei dem Sterbenden zurückgehalten, diesen durch eine stärkende Arznei, welche er bei sich führte, auf kurze Zeit der Bewußtlosigkeit entriß. Er erfuhr nun, nachdem er die Pflicht seines heiligen Amtes an dem Unglücklichen vollzogen, wohin sich Galeazzo mit den beiden Frauen gewandt, daß dieser in dem wunderlichen Wahne lebe, er wandle in den Gebirgen seiner Heimath, und entschlossen sey, hier seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Er blieb bei dem Sterbenden bis zu dessen letztem Odemzuge. Dann wanderte er hinauf in das Gebirg, verfolgte aufmerksam jede Spur, die er von den drei Wandrern auffand, bis er nun endlich nach mehrtägigem Umherirren mit dem Köhler zusammentraf, dessen Mittheilung ihn mit der schönen Hoffnung erfüllte, die Tochter wiederzusehn, sie von ihrem schrecklichen Bedränger zu befreien und ihn zugleich berief, einer beklagenswerthen Kranken, die seinem Herzen einst nahe gestanden, das letzte Stündlein zu erleichtern.
Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte, damit weder der letzte Wunsch der Sterbenden, noch ihre Absicht, Reginen zu schützen, vereitelt würde. Sie gelangten zu dem hochgelegenen Thale, das die Wohnung des Köhlers enthielt; sie waren eben im Begriff, das Dickicht zu verlassen, als ihnen hinter einem Seitengebüsch hervor zwei verhüllte Männer in den Weg traten, sie, ohne zu sprechen, forschend betrachteten und dann, ohne sie weiter aufzuhalten, vorübergehn ließen.
»Das sind seltsame Nachtvögel!« sagte leise der Köhler zu dem Mönch, der mit allen seinen Gedanken schon bei Reginen war. »Wir haben hier, wie die Sage geht, in der Nähe unter der großen Linde am Kreuzwege ein Freiding des heimlichen Gerichts und ich glaube wohl, daß diese Raben in das Nest gehören. Die heilige Jungfrau schütze uns vor ihnen! Wohl Dem, der ein reines Gewissen hat!«
Sie sahen in der Dämmerung, welche auf dem freien Raume vor der Hütte das Sternenlicht verbreitete, eine dunkle Mannsgestalt mit hastigen Schritten am Walde auf- und niederwandeln. Der Köhler stieß einen Kienspahn in den Meiler, der hier glimmte, deutete mit dem aufflammenden Holze nach dem einsamen Nachtwandrer und sprach:
»Das ist der tolle Mensch, der die armen Weiber genug beängstigt haben mag. Nehmt den Spahn und geht nun hinein in die Hütte. Ich stelle mich indessen mit dem Schürbaum zur Wacht und der müßte einen harten Kopf und Arm und Bein von Felsengestein haben, der mir hier durchdränge!«
Er schlang den Zaum des Pferdes, das er mit sich führte, um den Thürpfosten, er blieb, während der Mönch in das Innere der Wohnung trat, zurück und hütete den rastlos auf- und niederwandernden Galeazzo.
»Gelobt sey Jesus Christus!« mit diesem Segensgruße erschien der graue Büßende im Gemache der Kranken. Er sprach ihn mit dumpfer Stimme, er warf nur einen raschen forschenden Blick über die Frauen und befestigte dann schweigend die Kienfackel an der Wand. Bei dem Tone seiner Stimme war, von wunderlicher Erinnerung ergriffen, Regina zusammengefahren. Die Kranke schrack aus einem fieberhaften Schlummer auf. Sie öffnete ihre Augen, sandte einen matten, sterbenden Blick auf den Mönch und winkte ihn an ihr Lager. Mit ängstlich pochendem Herzen trat Regina, um die Beichte der Unglücklichen nicht zu stören, in den fernsten Winkel der Hütte. Der Anblick des grauen Büßenden, seine Stimme, sein blitzendes Auge riefen jenen Abend, wo ein Pater desselben Ordens aus der Zuschauermenge im Lateran freundliche, hoffnungsreiche Worte zu ihr gesprochen, in ihr zurück, mahnten sie an ihre frühere Rettung aus der Gewalt Galeazzo's, an die Erzählung Salentin's von dem grauen Mönche auf der Rheininsel. Ihr ganzes Innere war stürmisch bewegt. Sie sandte verstohlene Blicke nach dem Mönch, sie sah die hohe Gestalt sich jetzt beugen und an dem Lager Joffrieden's niederknieen. Kein Zweifel! Es war derselbe fromme Bruder, dessen Schicksal in einer geheimnißvollen Beziehung mit dem ihrigen zu stehn schien, den Salentin als einen wunderbaren, räthselhaften Freund ihrer Liebe bezeichnete. Noch ein Blick des lebendigsprechenden Auges, das Edle seiner Bewegungen hatten Reginen's frohe Vermuthung bestätigt. Aber so fest nun auch ihr Vertrauen auf nahe Hülfe, auf die Anwesenheit eines Freundes stand, so bemächtigten sich jetzt Gedanken andrer Art ihrer Seele. Wenige Schritte von ihr lag eine Sterbende, ein unglückliches Wesen, das vielfach geirrt haben mochte, aber gewiß auch schwer gebüßt hatte. Von mitleidiger Theilnahme, von tiefer Rührung durchdrungen von einer geheimnißvollen Neigung zu der Bedauernswürdigen ergriffen, knieete das Mädchen im Winkel der Hütte nieder und betete für die Scheidende.
Diese hatte indessen flüsternd und in abgebrochenen Sätzen, wie es ihre sinkende Kraft erlaubte, ihr Inneres erleichtert. Nichts blieb dem Beichtiger verborgen, als ihr Name, der, wie sie sagte, nicht zur Schmach ihres alten Geschlechtes aus seiner Vergessenheit erstehen solle, als die Namen derjenigen, die bedeutungsvoll in ihr Leben getreten waren oder deren Glück durch ihre Verirrungen gestört worden. Der Mönch drang nicht in sie, durch ein solches Geständniß ihre Beichte zu vervollständigen. Wer kannte besser, als er, die Verhältnisse ihrer Jugend, die Leidenschaften, welche diese stürmisch verheert? Ach, und in den Entdeckungen, die er vernehmen mußte, lag auch für ihn so mancher schmerzliche Vorwurf, so manche anklagende Wahrheit, die er anerkennen mußte, die ihm jetzt Vieles in einem milden Lichte erscheinen ließ!
Er ergriff die Hand der Sterbenden, er fühlte, daß sie erkaltete. Da neigte er sich ganz zu ihr hinab, da sprach er in seinem natürlichen, sanften Tone zu ihr:
»Dir ist verziehen, Richardis von Falkenstein. Die Sünde ist von dir genommen: im Namen Gottes und der heiligen Jungfrau spreche ich dich frei.«
Diese Stimme schien die Sterbende noch einmal von der Pforte des Grabes zurückzurufen. Sie öffnete die Augen, sie erhob sich mühesam mit dem Oberleibe, sie sah den Mönch mit brechendem Auge an und sagte mit erlöschender Stimme:
»Meinrad – du bringst mir die Versöhnung mit Gott?«
»Ich bin sein geweihter Priester,« erwiederte der büßende Mönch; »gehe heim in Frieden, Richardis!«
»Meinrad,« hob wieder zurücksinkend und kaum vernehmlich noch einmal die Sterbende an, »noch Eins, auf daß ich ruhig scheide! Wo ist meine – wo ist unsre Tochter?«
Der Mönch kämpfte einen kurzen Kampf. Dann deutete er auf Reginen und sagte ebenso mild, wie früher:
»Du hast sie in den letzten Tagen deines Lebens um dich gehabt, du warst vielleicht ihr Schutzengel: dort kniet sie nieder und betet für das Heil deiner Seele.«
Da fuhr Joffriede empor, da breitete sie beide Arme nach dem Kinde, dessen Nähe sie ahnungsvoll berührt hatte, hin; da leuchteten ihre Augen, wie von Himmelsglanz umweht, da bebten ihre Lippen, da wollte sie sprechen – aber der Todesengel nahm den Ruf nach der Tochter von den bleichen Lippen, er verlöschte den Himmelsglanz der Augen, er streckte die müden Glieder der Erkaltenden auf das Lager, von dem kein Sturm der Erde, kein schmerzliches Erwachen wieder in's Leben ruft, nieder.
Schweigend drückte der Mönch die Augen zu, die ihm einst Liebe gestrahlt, deren süßen Versuchungen er nicht hatte widerstehn können. Es war noch ein bittrer Kelch, den ihm das Leben bot. Er lag knieend vor der Todten, er sah in das bleiche, aber nun ruhig gewordene Antlitz, aus dessen Zügen noch immer die Spuren jener Schönheit, die sein Herz mit unseliger Leidenschaft erfüllt, nicht verschwunden waren – die Tage eines schmeichelnden Wahnes, eines frevelhaften Glücks stiegen in hundert wechselvollen Bildern vor seiner Erinnerung auf. Aber die Wirklichkeit, die Gegenwart sprach zu vernehmlich, um nicht das Gedächtnis jener Zeit zu verdrängen. Da ruhete die Mutter in den unauflöslichen Banden des Todesschlummers, dort knieete die Tochter und betete für die Todte, und die Mutter hatte erst im letzten Odemzuge die lang entbehrte Mutterfreude wieder empfunden und die Tochter wußte nicht, daß diejenige, für die ihr Gebet zum Himmel stieg, ihre Mutter war. Alles was vom Himmel zu liebevoller Vereinigung bestimmt gewesen, hatte die Sünde von einander geschieden und die Buße hatte das Werk der Sünde fortgesetzt, und der Vater stand auch fremd der Tochter gegenüber, mit dem Herzen voll Liebe, das sie nicht erkennen durfte. Es war ein Augenblick der schwersten Buße für den lange Büßenden.
Da wurde die Thüre der Hütte hastig geöffnet, mit verstörtem Angesichte trat der Köhler herein, schlug, als er bemerkte, daß der Tod hier seine Erndte gehalten, ein Kreuz über die Leiche und raunte dem Mönche zu:
»Es ist nicht geheuer draußen, ehrwürdiger Herr! Der Wahnsinnige wandert nicht mehr am Raine auf und nieder. Er ist nirgends zu erblicken. Ich vernahm ein seltsames Geräusch, wie von Ringenden, dann ein tiefes Stöhnen, dem drei seltsam lautende Schläge folgten, dann Rauschen im Gebüsch – und nun ward Alles still, so still, als ob auch draußen der Tod aufgeräumt hätte, wie hier. Bei Sanct Niklas! Die Nacht ist keines Menschen Freund. Kommt mit mir, laßt uns sehen, was vorgegangen ist! Wo solche schwarze Gestalten spuken, wie die, welche uns begegneten, da prophezeihe ich mir nichts Gutes.«
Unwillkührlich, tief in seinen Gedanken versunken, folgte der graue Büßende dem Waldbewohner. Düstre Wolken hatten indessen den Himmel bedeckt, undurchdringliche Finsterniß lag auf der Waldung. Der Köhler riß einen Kienbrand aus dem Meiler vor seiner Hütte und leuchtete dem Mönch nach jener Gegend, wo Galeazzo früher gewandelt, vor. Alles war still, der Italiener nirgends zu sehn. Da stieß der Köhler plötzlich mit dem Kopf an einen nieder reichenden Gegenstand. Er prallte zurück, er hob die Kienfackel in die Höhe, um dieses seltsame Hinderniß zu erkennen – entsetzlicher Anblick! da hing Galeazzo am Aste einer Eiche, eine Pergamentrolle unter den Arm geklemmt, in dem Stamme zu seinen Füßen waren die bedeutungsvollen drei Spähne ausgehauen.
»Den haben die Heimlichen gerichtet!« stammelte, scheu um sich blickend, der Waldbewohner. »Drei Tage und drei Nächte wird er hängen, dann kehren sie wieder, ihn zu begraben. Kommt mit! Laßt uns in die Hütte zurückkehren. Es ist nicht gut, sich in die Händel der Wissenden zu mischen. Ich begleite Euch morgen frühe in die Ebene hinab. Dort will ich bei einem Vetter weilen, bis die heimliche Vehm ihr Werk vollendet und den Gerichteten an einem Kreuzwege eingescharrt hat.«
So groß war der Eindruck, den in jener Zeit die fast unumschränkte Macht dieses in geheimnißvollem Dunkel waltenden Gerichtes auf jedes Gemüth übte, daß selbst der sonst unerschrockene Mönch von der Ingelheimer Au nicht wagte, dem Gerichteten näher zu treten oder den Aufenthalt bei seiner Leiche zu verlängern. Er warf noch einen Blick auf das verzerrte Angesicht des Unglücklichen, dessen Verbrechen vielleicht mehr geistige Verirrungen, als Werke absichtlicher Bosheit gewesen, dessen Tod durch ein seltsames Verhängniß mit dem Heimgange derjenigen in eine Stunde verflochten war, die auf demselben blutigen Pfade, wie er, gewandelt und geirrt, aber, durch die ahnungsvolle Nähe ihres Kindes wunderbar getroffen, sich vor ihrem Tode dem wahren Geiste der Liebe und Versöhnung zugewandt hatte.
Wie die Büßerin es in der Beichte verlangt, so wurde sie im Laufe der Nacht von den beiden Männern still an der Umzäunung der Hütte begraben. Regina stand an der Gruft. In die fallenden Erdschollen mischten sich ihre Thränen, die sie, ohne es zu wissen, um eine Mutter weinte. Der Tod Galeazzo's und die Art desselben wurden ihr verschwiegen. Man sagte ihr, der Geißlermeister sey wahrscheinlich, durch irgend einen Wahn verleitet, tiefer in den Wald gedrungen und irre dort umher, ohne den Rückweg finden zu können. Damit der entsetzliche Anblick seiner Leiche sie nicht erschrecke und eines Andern belehre, trat man schon im ersten Dämmergrauen des Tages die Reise in die Ebene an. Regina mußte das erkaufte Pferd, das sie der Sorgfalt Joffrieden's verdankte, besteigen, der graue Mönch leitete es, während der Köhler, rasch voranschreitend, den Weg zeigte. So gelangten sie beim Aufgange der Sonne auf einen Vorsprung des Gebirgs, wo sich ihnen eine ausgebreitete Aussicht nach der Ebene des Mains und Rheins, nach fernen Bergen, die nach und nach wie blaue Riesenhäupter aus dem Morgennebel emporstiegen, bot. Regina erkannte den Wohnort ihrer Pflegeeltern, sie hob die Arme nach dieser Gegend, sie nannte entzückt den Namen der geliebten Stadt. Die Blicke des grauen Büßenden ruheten mit wehemüthigem Ausdruck auf ihr, eine Thräne trübte ihren Glanz. Er hatte, seit dem Gebete, das er am Grabe Joffrieden's gesprochen, noch nicht das herrschende Schweigen unterbrochen, er antwortete auch jetzt auf alle Fragen des Mädchens nur mit einem ernsten Kopfschütteln, mit einer verneinenden Gebehrde der Hand. Regina gewöhnte sich nun an dieses Schweigen, das sie für einen Theil seiner Gelübde hielt, und wandte sich an den Köhler, der ihr gern jede erwünschte Auskunft gab. Wie fühlte sie sich beruhigt, wie von schöner Hoffnung belebt, als sie vernahm, daß sie selbst ohne bedeutende Anstrengung bis zum Mittage bei denjenigen, die ihrer gewiß mit Angst und Liebe gedachten, seyn könne! Die Freude der mütterlichen Freundin, Salentin's Entzücken, des alten Herrn wohlwollendes Entgegenkommen – Alles stand schon so beglückend vor ihrer Seele, daß sie in einen frohen Ausruf über dieses nahe Wiedersehn ausbrach. Schweigend ergriff der Mönch wieder den Zügel des Pferdes und lenkte es mit einem tiefen Seufzer den Bergpfad nach der Ebene hinab. Als sie den Fuß des Gebirges erreichten, trennte sich der gastfreie Waldbewohner von ihnen. Regina's Dank begleitete ihn. Er war ihr als ein guter Geist ihres Lebens erschienen, dessen treuer Redlichkeit die sterbende Joffriede den Trost der Religion und sie selbst den Beistand eines Freundes verdankte, der, so räthselhaft und geheimnißvoll sein ganzes Wesen auch war, sich doch als einen wohlwollenden, starken Beschützer bewährt hatte.
Schweigend durchzogen sie die weite Ebene, deren Wohnstätten größtentheils von der Pest verödet lagen. Die Sonne hatte bald ihre Mittagshöhe erreicht, als sie, etwa noch eine Stunde von dem Ziele ihrer Reise entfernt, am schattigen Saume eines Wäldchens rasteten. Ein Quell sprudelte hier aus kühlem Grunde auf. Der Mönch schöpfte in ein hölzernes Gefäß, das er bei sich führte, Wasser und brachte es Reginen. Sie führte es mit zitternder Hand zum Munde; sie hätte so gern von Salentin, von jenen Eröffnungen, die er auf der Ingelheimer Au erhalten, von ihrer Überzeugung, der Meister Lukas und ihr Begleiter seyen eine und dieselbe Person, gesprochen; allein das strenge Schweigen, welches der graue Büßende beobachtete, machte sie ängstlich und schüchtern.
Nach einem kurzen Aufenthalte zogen sie weiter. Sie gelangten bald an das Ufer eines Flüßchens, das an dieser Stelle zu reißend schien, um den Durchgang zu gestatten. Nirgends zeigte sich eine Brücke oder nur ein hölzerner Steeg. Da vernahmen sie von einer tiefer liegenden Stelle des Ufer's eine Stimme, die sie bedeutete, herabzukommen, und die ganz gefahrlose Furth, die hier hinüber führt, zu benutzen. Es war ein kleiner, wohlbeleibter Bettelmönch, der bereits mit aufgeschürzter Kutte durch das Flüßchen watete, aus dessen Munde diese Ermahnung kam. Er harrte der Wandrer am jenseitigen Ufer, und als hier Regina erschien, bot er ihr frohlachend die Hand, schüttelte und drückte sie und rief aus:
»Sey mir gegrüßt, Mägdlein aus dem Hause eines edlen Patriciergeschlechtes! Aber welches wunderliche Schicksal führt dich hinaus in diese wüste, wilde Welt, die der Drache in der Gestalt der Pest, welche die Teufel in der Gestalt der Geißler durchziehn? Bei meinem heiligen Schutzpatron, eher hätte ich in dieser tollen Zeit dem schlimmsten Diebe auf freiem Felde zu begegnen vermuthet, als dir! Ist Junker Salentin etwa verloren gegangen und hilft ihn dir der fromme Pater suchen?« fügte er mit einem plumpen Scherze, einen bedeutungsvollen Blick auf Reginen's Begleiter werfend, hinzu. »Dabei kann auch Bruder Clarus helfen, er kennt ja seinen Salentinum von Jugend auf und meint's herzlich gut mit Euch Beiden.«
Regina erröthete, aber sie war dem wohlwollenden Pater Clarus immer geneigt gewesen und konnte ihm nicht grollen. In wenigen Worten theilte sie ihm das Ereigniß, welches sie aus dem Hause der Pflegeeltern entfernt, und die glückliche Wendung, welche ihr Schicksal durch den Beistand des grauen Büßenden genommen, mit. Während Pater Clarus seinen zornigen Eifer gegen die Geißler und Galeazzo in's Besondre in heftigen Verwünschungen ergoß, betrachtete ihn Regina's Begleiter mit großer Aufmerksamkeit. Endlich schien er einen Entschluß, über den er bisher nachgesonnen, gefaßt zu haben. Er führte den Barfüßer zur Seite und sprach dort lange und angelegentlich mit ihm. Pater Clarus kehrte zu Reginen zurück, der graue Mönch blieb mit untergeschlagenen Armen in einiger Entfernung stehn.
»Dein bisheriger Begleiter läßt dich grüßen und nimmt Abschied von dir,« sagte der Bettelmönch, indem er den Zügel des Pferdes, auf dem Regina saß, um seinen Arm schlang. »Seine Gelübde erlauben ihm nicht, ferner einen Weg mit dir zu wandeln. Ich werde dich in's Haus deiner Pflegeeltern zurückbringen. Komm, Mägdlein! Heut' harret meiner bei dem alten Herrn vom Rhein ein so freudiger Willkomm, wie er mir lange nicht geworden, und gewiß auch ein reicher Segen für meinen Terminirsack!«
Regina sah sich, während ihr Pferd sie schon weiter trug, bestürzt nach dem grauen Büßenden um. Er erhob die Arme gegen sie, er winkte ihr einen Gruß zu, er breitete beide Hände wie segnend nach ihr hin und eilte dann, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, nach einer entgegengesetzten Richtung fort. Die Blicke des Mädchens verfolgten ihn, so lange sie ihn erreichen konnten, und, als er endlich hinter einer Waldecke verschwand, blieb in ihrer Seele ein wehemüthiges Gefühl, eine Trauer, wie um den Verlust eines Freundes, der ihrem Herzen sehr nahe gestanden, zurück.
Diese tiefe Rührung verließ sie erst, als sie sich in den Mauern der lieben Heimath befand, als hundert wohlbekannte Gegenstände sie freudig zu begrüßen und willkommen zu heißen schienen.
Der Anblick der großen Brandstätte, die Begegnung so manches Unglücklichen, der hier sein Elend zur Schau trug, mischten bittre Empfindungen in dieses heitre Gefühl. Als sie aber das Haus der Pflegeeltern unversehrt erkannte, als sie mit stürmisch klopfendem Herzen näher kam, als sie Frau Gisela mit Imagina im Fenster liegend, Salentin, an der Hand des alten Herrn aus der Hausthüre tretend, erblickte: da versanken alle traurige Bilder in Vergessenheit, da bemächtigte sich die reinste Freude, die schöne Hoffnung bald beglückter Liebe ihres jugendlichen Gemüthes. Ein Schrei allgemeiner Überraschung sagte ihr, daß man sie wahrgenommen habe. Im nächsten Augenblicke befand sie sich in den Armen derjenigen, die sie schmerzlich betrauert hatten, die ihre Wiederkehr auf den Gipfel des Entzückens versetzte.
Der Wind spielte schon mit gelben Blättern, herbstliche Nebel brachte der Morgen und der Abend, als eines Nachmittags vom rechten Rheinufer ein Kahn, der, außer den Schiffern, eine kleine Gesellschaft von vier Personen enthielt, nach der Ingelheimer Au abstieß. In jenen vier Personen erkennen wir den alten Herrn vom Rhein, seinen Sohn Salentin, dessen nun verlobte Braut Regina und den wunderlichen Felician, der jetzt, nach so vielen Irrfahrten und Abentheuern, sich ein Plätzchen der Ruhe im Hause seines wiedergefundenen alten Gönners gesichert. Die Reisenden stiegen schweigend an's Land. Ein Wink des alten Herrn beschied die Schiffer zurückzubleiben. Eine trübe Spannung schien sich aller bemächtigt zu haben. Während Salentin voranschritt und seine Begleiter in das Innere der Insel führte, unterbrach Niemand die Stille, die drückend auf der kleinen Gesellschaft lag. Felician lächelte oft wunderlich vor sich hin; aber aus diesem Lächeln sprach eine tiefe Rührung, eine Weichheit, die bei einem andern in Thränen zerflossen wäre. So langten sie bei der Hütte des Meister Lukas an. Sie war leer, ringsum herrschte Stille. Das Grün, das einst das Innere der Hütte geschmückt hatte, zeigte sich welk; die Vögel, deren Gesang das Leben des Vereinsamten erheitert, waren fort, nirgends ließen sich jene zahme Hausthiere sehn, von denen es einst auf dem Wiesengrunde der Insel gewimmelt. Da schlug mit schwacher Stimme hinter der Hütte ein Hund an.
»Probus!« rief mit bewegter Stimme Salentin und eilte nach der Stelle, wo er den Hund vermuthen durfte. Die Übrigen folgten ihm. Hinter der Hütte fanden sie denjenigen, den sie suchten. Hier lag auf einer Rasenbank ausgestreckt der graue Büßende, oder vielmehr seine sterbliche Hülle. Die Seele hatte sich in ein freudigeres Leben aufgeschwungen. Zu seinen Füßen sahen sie ein offnes Grab, das er sich wahrscheinlich selbst gegraben. Sein Haupt war frei, die Kaputze zurückgeschlagen, die Larve, die der Welt den Anblick seiner entsetzlichen Krankheit verbergen sollen, lag neben ihm am Boden. Aber dieses bleiche, noch immer schöne und edle Antlitz zeigte keine Spur der verabscheuten Übels, dessen Fluch der arme Meister Lukas getragen, ohne in der Wahrheit von ihm heimgesucht worden zu seyn. Das war die schreckliche Buße, die er sich selbst auferlegt, daß er vor der Welt ein Elender, Verabscheuungswürdiger scheinen wollte, ohne es zu seyn, daß er eine Kluft zwischen sich und die Menschheit legte, die Niemand zu überschreiten wagte, daß er bei einem Herzen voll Liebe zu den Menschen, weil er einmal an den heiligsten Empfindungen der Menschheit gesündigt, jeder Gemeinschaft mit ihnen entsagte.
Bald wußte nun Regina, wie nahe ihr der Todte gestanden. Sie hatte ihren Retter in ihm verehrt, jetzt beweinte sie den Vater. Während Salentin und Felician, der nun erkannte, wie es gekommen, daß er bei jener Beichte auf dem jüdischen Begräbnißplatze durch den Beichtiger so lebhaft an seinen alten, theuern Herrn erinnert worden sey, sich bereiteten, dem Todten den letzten Liebesdienst zu erweisen, führte der Herr vom Rheine die Braut seines Sohnes in das Innere der Hütte und entdeckte ihr Alles, was nicht, nach dem Willen des geschiedenen Freundes, verschwiegen bleiben sollte. Aber Regina ahnte doch, daß jene seltsame Neigung zu Joffrieden, das diese räthselhafte Zärtlichkeit der unglücklichen Frau tiefer in ihr Leben eingriffen, als Herr Hanns vom Rhein, obgleich auf ihre Frage sich verwirrend, gestehn mochte.
Indessen hatten die Männer draußen ihr trauriges Werk vollbracht. Als sie den Hügel, der den Büßenden deckte, gerundet, legte sich der alte Hund, der bisher ruhig ihrer Arbeit zugesehen darauf, verschloß die Augen und war durch nichts zu bewegen, seinen Platz zu verlassen. Sie versammelten sich zu einem andächtigen Gebet um das Grab. Die Tochter sprach es von frommer Begeistrung ergriffen. Dann bat sie, man möge sie einige Augenblicke auf der Ruhestätte des Vaters allein lassen. Was die Liebe einem kindlichen Herzen einflößt, was aus einem schuldlosen Gemüthe mächtig zum Himmel dringt, das sandte sie jetzt in einsamer, ungestörter Andacht für den Vater und auch für die Mutter zu Gott empor. Heiter und gefaßt erschien sie wieder bei den Ihrigen. Der Abend dämmerte, die Zeit der Abfahrt war gekommen. Als nun Felician, auf des alten Herrn Geheiß, den Hund vom Grabe seines Herrn gewaltsam fortreißen wollte, damit er nicht hier ohne Nahrung verschmachte, da fand er, daß auch der alte Probus den Zoll der Natur gezahlt, daß er, treu bis in den Tod, seinen Gebieter nur eine kurze Frist überlebt. Felician scharrte ihn zu den Füßen seines Herrn ein, wo er so oft geruht, wo er so oft seine liebevolle Anhänglichkeit kund gegeben. Dann kehrten Diejenigen, die ängstlich und besorgt gekommen, trauernd in die Heimath zurück. –
Nach dem Verlaufe der Trauerzeit wurden Salentin und Regina ein glückliches Gattenpaar. Die Erinnerungen an Regina's Eltern verloren nach und nach im Vollgenusse eines schönen Familienglücks ihre trübe Bedeutung. Man gedachte selten ihrer irdischen Leiden und Verirrungen, man sprach lieber von ihnen als beglückten Seligen, die Gottes Liebe gütig aufgenommen und die nun freudig auf das Glück ihrer Kinder herniederblickten.
Eitel Glockenklang, die schöne Sängerin, gefiel sich recht wohl in der Würde und dem Ansehn einer Limburger Stadtschreibersfrau. Als sie in alle Geheimnisse ihres Gatten eingeweiht war, grollte sie auch diesem nicht mehr, wenn er sie manchmal in der Nacht, auf ein dreimaliges Klopfen an der Hausthüre, plötzlich verließ; es dünkte sie sogar rühmlich, die Ehehälfte eines Freischöffen und Beisitzers des gefürchteten heimlichen Gerichtes zu seyn. Was sie von Muskablüt und der Wittwe des Frankfurter Stadtkochs Heinz vorhergesagt, traf ein. Noch einige Tage früher, als Salentin und Regina, standen beide vor dem Altare der Sanct Bartholomäus Kirche, um ihren Bund durch den Segen des Priesters heiligen zu lassen. Wenn nun auch Muskablüt durch seine Verbindung mit Frau Ursula das Amt ihres seligen Mannes nicht erben konnte, da er sich immer mehr mit dem Genusse von Leckerbissen, als ihrer Zubereitung abgegeben, so wurde er doch durch sie Bürger der alten freien Reichsstadt. Er fing an großen Aufwand zu machen und erbauete ein stattliches Haus auf dem Roßbühl, so daß wir wohl vermuthen dürfen, er habe sich für die durch Cheyle ihm bereitete Todesangst mit dem reichen Inhalte der Truhe, die ihm zum Sarg werden sollte, entschädigt.
Die wenigen Juden, die von dem Brande und der Metzelei der Geißler übrig geblieben, verkaufte noch in demselben Jahre Kaiser Carl der Vierte, »mit Haus und Hof, eignem und ererbtem Gute, in und außerhalb der Ringmauern, wie das Namen haben mag,« um fünfzehntausend zweihundert Pfund Heller an einen edlen Rath. Ein merkwürdiges Zeichen der Zeit, das schlagender spricht, als Alles, was wir von ihren Mißbräuchen, von ihren Vorurtheilen und Verirrungen berichteten!