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Sonnabend, 15. Sept., 10¼ Uhr vormittags
»Da scheint mir«, sagte Vance, »letzten Montag ein mitternächtliches Konklave der Liebhaber stattgefunden zu haben. Mannix war da, und er sah Cleaver, Cleaver sah Lindquist, und Lindquist sah Spotswood ...«
»Hm, aber niemand sah Skeel!« brummte Heath, der zurückgekommen war. »Sagen Sie mal, Mister Vance, was ist denn mit der Krankenschwester, die Sie um elf hierhaben wollten?«
»Sie macht mir Sorgen«, gestand Vance, »besonders, da ich nicht das leiseste Verlangen habe, sie kennenzulernen. Ich hoffe immer noch auf eine Offenbarung.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, als Swacker dem Polizeichef meldete, der Doktor Lindquist wünsche ihn dringend zu sprechen. Die Situation war ergötzlich. Markham lachte laut auf, Heath aber sah Vance mit verständnislosem Staunen an.
»Keine Hexerei, Sergeant«, lächelte Vance. »Der Doktor wurde sich gestern abend darüber klar, daß wir ihn auf einer falschen Aussage ertappen würden. So entschloß er sich, mit einer persönlichen Erklärung zuvorzukommen. Einfach, nicht?«
Als Doktor Lindquist eintrat, sah man sofort, daß er unter großem Druck stand.
»Ich bin gekommen«, sagte er, während er sich setzte, »um Ihnen die Wahrheit über Montag nacht zu sagen.«
»Die Wahrheit ist immer willkommen«, sagte Markham ermutigend.
Doktor Lindquist verneigte sich zustimmend.
»Ich bedauere außerordentlich, daß ich bei unserer ersten Unterredung nicht diesen Kurs einschlug. Aber damals hatte ich mir die Angelegenheit nicht genug überlegt, und nachdem ich mich einmal auf eine falsche Aussage festgelegt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als dabei zu verharren. – Tatsache ist, daß ich Montag nacht zu der erwähnten Zeit nicht in meinem Sanatorium war. Ich blieb bis halb elf zu Hause. Dann ging ich zum Haus von Miß Odell, wo ich kurz vor elf ankam. Ich stand draußen auf der Straße bis halb zwölf, und dann ging ich wieder heim.«
»Diese Aussage werden Sie wohl etwas erweitern müssen.«
»Ich bin mir darüber klar.« Doktor Lindquist zögerte, sein weißes Gesicht verzerrte sich. Er preßte die Hände fest zusammen.
»Ich wußte, daß Miß Odell mit einem Mann namens Spotswood zum Nachtessen und später ins Theater gegangen war. Der bloße Gedanke daran raubte mir die Ruhe. Spotswood war es, der mir die Zuneigung der Miß Odell entzogen hatte. Seinetwegen hatte ich mich zu der Drohung gegen das Mädchen hinreißen lassen. Als ich nun in der Nacht zu Hause saß und meine Gedanken immerfort um diesen Punkt kreisten, kam plötzlich der Entschluß über mich, die Drohung wahrzumachen. Weshalb nicht diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen? Und weshalb nicht Spotswood in das Unheil mit einschließen? ...«
Lindquist wurde zusehends erregter, während er sprach. Die Nerven um seine Augen fingen an zu zucken. Die Schultern bebten wie Schüttelfrost.
»Vergessen Sie nicht, Sir, ich hatte Furchtbares ausgestanden. Mein Haß auf Spotswood hatte meine Vernunft überrannt. Ich wußte selber kaum, was ich tat. Ich handelte unter einem unwiderstehlichen Zwang, steckte meinen Revolver in die Tasche und eilte nach dem Haus. Ich dachte, Miß Odell und Spotswood würden bald aus dem Theater heimkommen. Ich beabsichtigte, in die Wohnung einzudringen und meinen Plan auszuführen ... Von der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich sie beide ins Haus eintreten. Es war gegen elf Uhr. Aber als ich nun Auge in Auge meinem Plan gegenüberstand, zögerte ich. Ich schob meine Rache noch etwas auf. Ich spielte mit meinen Gedanken und zog eine Art wahnsinniger Befriedigung aus dem Spiel. Ich wußte, daß die beiden in meiner Hand waren ...«
Seine Hände zitterten. Das nervöse Zucken um seine Augen wurde stärker.
»Wohl eine halbe Stunde stand ich da, wartete und starrte auf das Haus. Als ich grade ins Haus treten wollte, um die Tat zu begehen, kam ein gewisser Mr. Cleaver vorbei und sah mich. Ich dachte, er wolle bei Miß Odell vorsprechen, und so sagte ich ihm, daß sie bereits Besuch hätte. Daraufhin ging er weiter. Ich wartete, bis er um die Ecke war. Während ich noch wartete, kam Spotswood aus dem Haus und stieg in ein Taxi, das grade vorbeigefahren kam ... Mein Plan war vereitelt, ich hatte zu lange gezaudert ... Plötzlich war mir, als sei ich aus einem furchtbaren Traum erwacht. Ich war am Zusammenbrechen. Ich weiß kaum, wie ich den Heimweg fand ... Das ist alles, was geschehen ist, so wahr Gott mir helfe!«
Lindquist sank erschöpft in den Stuhl. Die Erregung, die ihn während des Sprechens angefeuert hatte, war wie ausgebrannt. Gleichgültig und schlaff saß er da, röchelte leise und fuhr sich ein paarmal mit einer leeren Bewegung beider Hände über die Stirn. Er war nicht mehr vernehmungsfähig. Markham schickte nach Tracy, um Lindquist nach seiner Wohnung bringen zu lassen.
»Akute Erschöpfung durch Hysterie«, kommentierte Vance. »In einem Jahr wird er in einem Irrenhaus stecken.«
»Das ist mir völlig egal, Mister Vance«, sagte Heath mit einer Ungeduld, die jede Begeisterung für den Gegenstand der anomalen Psychologie ausschloß. »Mich interessiert einzig, wie all diese Geschichten zusammenhängen.«
Markham nickte. »Unbestreitbar liegt all diesen Aussagen eine gewisse Wahrheit zugrunde.«
»Aber achte, bitte, darauf«, bemerkte Vance, »daß diese Geschichten keinen von ihnen als möglichen Täter ausschließen. Diese Erzählungen passen in den Zeitangaben vollkommen zueinander, und trotzdem hätte jeder von den dreien Montag nacht in die Wohnung gekonnt. Mannix zum Beispiel konnte von der Wohnung Nummer zwei hereinkommen, ehe Cleaver zur Tür kam und lauschte. Er konnte Cleaver weggehen sehen, als er selber aus der Wohnung der Odell kam. Cleaver hätte um halb zwölf mit dem Doktor sprechen können, dann zum Ansonia-Hotel gehen, kurz vor zwölf zurückkehren, in die Wohnung eindringen und sie grade in dem Moment wieder verlassen, als Mannix die Flurtür der Miß Frisbee öffnete. Der reizbare Doktor schließlich hätte, nachdem Spotswood weggefahren war, hereinkommen und nach einem Aufenthalt von zwanzig Minuten, ehe noch Cleaver zurückkam, wieder weggehen können ... Die Tatsache also, daß die Zeitangaben so fein zueinanderpassen, entlastet keinen von den dreien.«
»Und«, fügte Markham hinzu, »dieser Ausruf ›O mein Gott‹ konnte sowohl von Mannix als von Lindquist stammen, vorausgesetzt natürlich, daß Cleaver ihn wirklich hörte.«
»Selbstverständlich hat er ihn gehört«, sagte Vance. »Irgendwer hat gegen Mitternacht in der Wohnung die Gottheit angerufen. Cleaver hat nicht genug Sinn fürs Dramatische, um ein so aufregendes Zitat zu fabrizieren.«
»Aber wenn Cleaver die Stimme tatsächlich hörte«, protestierte Markham, »dann ist er doch ohne weiteres außer Verdacht.«
»Ganz und gar nicht, mein lieber Alter. Er konnte den Ausruf gehört haben,« als er gerade die Wohnung verließ, und dadurch entdeckt haben, daß während seiner Anwesenheit jemand in der Kleiderkammer versteckt war. Weißt du, es kann der zu Tode erschrockene Skeel gewesen sein, der nun auf den Schauplatz trat.«
»Abgesehen davon natürlich«, wandte Markham sarkastisch ein, »daß Skeel mir nicht grade einen besonders religiösen Eindruck macht.«
»Ach das!« Vance zuckte die Achseln. »Das ist sogar ein Punkt zugunsten meiner Behauptung. Irreligiöse Leute rufen Gott viel öfter an als Christen. Die einzig wahren Theologen sind bekanntlich die Atheisten.«
Swacker trat ein und legte ein Blatt mit Maschinenschrift auf Markhams Schreibtisch.
»Der Architekt hat soeben seinen Rapport telefoniert.« Markham überflog ihn, er war sehr kurz.
»Nichts von Belang. Wände und Mauern solid. Kein überflüssiger Platz. Keine Geheimgänge.«
»Bedauerlich, lieber Sergeant«, seufzte Vance. »Lassen Sie die Kintopp-Idee fallen.«
Heath knurrte und wandte sich an Markham. »Ginge es nicht, daß Anklage gegen Skeel erhoben wird, nachdem wir nun beweisen können, daß die Seitentür offen war?«
»Es könnte glücken. Der Hauptknüppel im Wege wäre, daß wir nachweisen müßten, wie diese Tür ursprünglich aufgeriegelt und dann wieder versperrt wurde. Abe Rubin, Skeels Verteidiger, würde sich sicher auf diesen Punkt versteifen. Es ist wohl besser, noch eine Weile zuzusehen, was sich entwickelt.«
Etwas »entwickelte« sich sofort. Swacker trat ein und meldete Markham, daß Snitkin ihn dringend zu sehen wünsche.
Sichtbar aufgeregt trat Snitkin ein, gefolgt von einem verhutzelten, schäbig angezogenen Männchen, das sehr eingeschüchtert war. Der Detektiv hatte ein kleines, in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen in der Hand, das er mit triumphierender Miene auf den Tisch des Polizeichefs legte.
»Die Juwelen des Kanarienvogels«, meldete er. »Ich habe sie kontrolliert. Nach der Liste, die mir das Dienstmädchen gab, fehlt nicht ein Stück!«
Heath trat eilig hinzu, aber Markham machte bereits mit nervösen Fingern das Päckchen auf. Ein Häufchen blendender Schmucksachen lag vor uns: verschiedene Ringe von exquisiter Arbeit, drei fabelhafte Armbänder, ein Anhänger mit einem Strahlenmuster von Brillanten, eine herrlich geschmiedete Lorgnette. Die Steine waren alle groß und von ungewöhnlichem Schliff.
Markham sah fragend auf, und Snitkin erklärte:
»Dieser Mann namens Potts fand sie. Er ist Straßenkehrer und gibt an, er hätte sie in einem der eisernen Papierkörbe beim Bügeleisenhochhaus in der 23. Straße gefunden. Er will sie gestern nachmittag entdeckt und nach Hause mitgenommen haben. Aber dann ist ihm angst geworden, und so hat er die Sachen heute morgen aufs Polizeipräsidium gebracht.« Mr. Potts zitterte.
»Das is' so, das is' so!« versicherte er furchtsam in seinem New-Yorker Proletarierjargon, »ich guck rein, immer, wenn ich so'n Bündel find ... Ich hab's nicht schlecht gemeint, als ich die Dinger nach Hause mitnahm ... Hab sie nicht behalten wollen. Ich bin die ganze Nacht vor Sorge wachgelegen, und heut morgen, sobald ich Zeit hatte, hab ich sie auf die Polizei gebracht.«
Er war am Zusammenbrechen.
»Schon gut, schon gut«, begütigte Markham ihn freundlich. »Sie brauchen keine Angst zu haben.« Dann sagte er zu Snitkin: »Lassen Sie den Mann gehen, schreiben Sie nur seine Adresse auf.«
Vance hatte die Zeitung, in die die Schmucksachen eingewickelt waren, studiert.
»Sagen Sie mir erst noch, lieber Mann«, fragte er, »ist das die gleiche Zeitung, in die Sie die Sachen eingewickelt fanden?«
»Ja, Sir. Dieselbe. Ich hab nix angerührt.«
»Danke schön.«
Mr. Potts, höchst erleichtert, schob mit Snitkin ab.
»Das Bügeleisenhochhaus steht am Madison Square, dem Stuyvesant Club grade gegenüber«, bemerkte Markham stirnrunzelnd.
Vance deutete auf den linken Rand der Zeitung. »Du siehst, daß dieser ›Herald‹ von gestern morgen hier drei Eindrücke hat. Sie kommen offenbar von den Stiften an einem hölzernen Zeitungshalter, wie sie in Lesezimmern von Klubs benutzt werden.«
»Sie haben ein gutes Auge, Mr. Vance«, nickte Heath.
»Da muß ich sofort nachsehen«, entschied Markham. Er läutete nach Swacker. »Im Stuyvesant Club lassen sie die Zeitungen eine ganze Woche im Fach liegen.«
Er beauftragte Swacker, den Zeitungssteward des Klubs ans Telefon zu rufen. Die Verbindung war sofort da. Nach einem fünfminütigen Gespräch hängte Markham den Hörer wieder an und sah Heath verdutzt an.
»Der Klub hält zwei Exemplare des ›Herald‹. Und beide Exemplare der gestrigen Morgenausgabe sind dort im Halter.«
»Hat uns Cleaver nicht mal gesagt, daß er außer einem Rennblatt nur den ›Herald‹ liest?« fragte Vance unvermittelt.
»Ja, ich erinnere mich. Immerhin, die beiden Klubexemplare des ›Herald‹ sind nachweisbar ...« Er wandte sich an Heath. »Haben Sie festgestellt, welchen Klubs Mannix angehört?«
»Aber sicher!« Heath nahm sein Notizbuch heraus und blätterte. »Er ist Mitglied im Kürschnerklub und in der ›Kosmopolis‹.«
Markham schob ihm den Fernsprecher hin. »Sehen Sie, was Sie 'rausfinden können.«
Heath war eine volle Viertelstunde an der Arbeit.
»Fehlanzeige«, meldete er schließlich. »Im Kürschnerklub benutzen sie keine Halter, und in der ›Kosmopolis‹ bewahren sie die Nummern vom vorigen Tag nicht auf.«
»Und wie steht's mit Mister Skeels Klub, Sergeant?« fragte Vance lächelnd.
Heath maß ihn mit einem langen Blick. Aber bevor er antworten konnte, trat Swacker aufgeregt ins Zimmer:
»Tony Skeel ist in der Leitung, Sir, und verlangt mit Ihnen zu sprechen!«
Markham gab sich einen Ruck.
»Hier, Sergeant«, sagte er schnell, »gehen Sie an den Nebenanschluß und hören Sie mit.« Er nickte, Swacker verschwand und stellte die Verbindung her. Etwa eine Minute lang hörte Markham Skeel an. Dann erklärte er sich nach einer kurzen Verhandlung bereit, auf einen Vorschlag, den ihm Skeel offenbar gemacht hatte, einzugehen.
»Mich dünkt, daß Skeel sich nach einer Audienz sehnt«, sagte Vance. »Ich habe es mit ziemlicher Sicherheit erwartet.«
»Ja, er kommt morgen früh um zehn hierher.«
»Er deutete dir wohl an, daß er weiß, wer den Kanarienvogel umgebracht hat?«
»Ja. Genau das. Er versprach mir, morgen die ganze Geschichte zu erzählen.«
»Dieser Bursche ist der einzige, der dazu in der Lage ist«, murmelte Vance.
»Aber Mister Markham«, sagte Heath, der immer noch mit ungläubiger Miene am Telefon saß, »ich sehe nicht ein, warum Sie ihn nicht heute noch herbringen lassen.«
»Wie Sie ja gehört haben, Sergeant, bestand Skeel darauf, daß das Interview morgen sein soll, und drohte sogar mit Stillschweigen, wenn er zu irgend etwas gezwungen wurde. Es ist wohl besser, ihn nicht von vornherein störrisch zu machen. Wir könnten uns viel verderben, wenn ich einen Druck auf ihn ausübte. Und morgen paßt es mir gut. Es wird dann hier ganz still auf dem Amt sein. Und zur Sicherheit haben Sie ja einen Mann, der dem Skeel nicht von den Fersen geht.«
»Sie haben recht, Sir. Der ›Stutzer‹ ist empfindlich. Er kann stumm wie 'ne Auster sein, wenn's ihm paßt«, sagte Heath gefühlvoll.
»Ich werde Swacker für morgen früh hierherbestellen, damit er Skeels Aussagen nachschreibt«, fuhr Markham fort. »Und Sie werden einen von Ihren Leuten an den Fahrstuhl setzen müssen, denn der Liftführer hat Sonntags frei. Außerdem postieren Sie einen Mann draußen im Anmeldezimmer und einen zweiten in Swackers Büro.«
Vance dehnte sich elegant und erhob sich.