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Donnerstag, den 13. September, vormittags
Als wir am nächsten Morgen um zehn Uhr zusammen auf dem Dachgarten Kaffee tranken, sagte Vance zu mir:
»Eine Frau mag noch so verschwiegen sein, sie hat immer jemanden, dem sie ihr Herz ausschüttet. Die weibliche Natur kommt ohne Beichtvater nicht aus. Entweder ist's die Mutter oder der Liebhaber oder ein Priester oder ein Arzt; meistens aber spielt die Busenfreundin die Rolle der Vertrauten. Mutter und Priester kommen bei dem Kanarienvogel nicht in Betracht. Ihr Liebhaber, der elegante Skeel, war ihr Feind. Den Arzt können wir auch ausschließen, denn das Mädchen war zu gescheit, um sich so einem Gesellen wie Lindquist anzuvertrauen. Die Busenfreundin also bleibt uns. Und heute suchen wir sie auf.«
Er zündete sich eine Zigarette an, und wir erhoben uns. »Aber erst müssen wir bei Mr. Benjamin Browne in der Siebenten Avenue vorsprechen.«
Benjamin Browne, der bekannte Bühnenfotograf, hatte sein Atelier im Herzen des Theaterdistrikts. Als wir den Empfangsraum betraten, wäre ich vor Neugier nach dem Grund dieses Besuchs schier geborsten. Vance schritt sofort zu dem Schreibtisch, hinter dem eine junge Dame mit hochrotem Haar und geschminkten Augen saß. Er verbeugte sich in seiner würdevollen Form, zog eine ungerahmte Fotografie aus der Tasche und legte sie der Empfangsdame vor.
»Ich bin mit der Aufführung eines Singspiels beschäftigt, Mademoiselle«, sagte er, »und möchte mit der jungen Dame, die dieses Bild von sich auf meinem Büro ließ, in Verbindung treten. Leider habe ich ihre Visitenkarte verlegt. Aber da die Fotografie den Aufdruck der Firma Browne trägt, dachte ich mir, daß Sie vielleicht so liebenswürdig wären, in der Kartothek nach zusehen und mir zu sagen, wer die Dame ist und wo ich sie erreichen kann.«
Mit unschuldiger Miene steckte er schnell eine Fünf-Dollar-Note unter die Ecke des Löschblatts. Die Empfangsdame sah ihn neckisch an. Mir war, als könne ich den Anflug eines Lächelns an ihren Mundwinkeln entdecken. Ohne weiteres nahm sie die Fotografie und verschwand durch eine Seitentür. Zehn Minuten später kehrte sie zurück und reichte Vance das Bild. Auf die Rückseite hatte sie Namen und Adresse geschrieben.
»Diese junge Dame ist Miß Alys La Fosse und wohnt im Belafield Hotel.« Sie lächelte. »Sie sollten wirklich nicht so achtlos mit den Adressen Ihrer Bewerberinnen sein. Irgendein armes Ding könnte dadurch ein Engagement verlieren.« Nun ging ihr Lächeln in ein leises Lachen über.
»Mademoiselle«, erwiderte Vance ernst, »in Zukunft werde ich mich dieser Warnung entsprechend verhalten.«
Mit einer würdevollen Verbeugung ging er hinaus.
»Alle Hochachtung!« sagte er, als wir wieder auf die Straße traten. »Ich hätte mich als Impresario maskieren sollen. Mit einem Goldknauf am Spazierstock, einem steifen Hut und einem rosa Hemd. Die Lady war felsenfest davon überzeugt, daß ich mich in einen Liebeshandel stürze ... Ein hübscher, smarter Rotkopf das!«
An der Straßenecke trat er in einen Blumenladen, wählte ein Dutzend Rosen und adressierte sie an Benjamin Brownes Empfangsdame.
»Und nun laß uns zum ›Belafield‹ schlendern und um eine Audienz mit Alys bitten.«
Unterwegs erklärte Vance:
»Bereits an jenem ersten Morgen, als wir den Tatort besichtigten, war ich überzeugt, daß die Schuldfrage nie mit den elefantenhaften Polizeimethoden gelöst werden könne. Als ich diese Fotografie halb versteckt unter dem Wust auf dem Schreibtisch sah, sagte ich mir: ›Aha, die Busenfreundin der dahingegangenen Margaret!‹ und steckte mir, als der breite Rücken des Sergeanten abgekehrt war, das Bild in die Tasche. Es war sonst keine Fotografie in der ganzen Wohnung, und diese da trug die übliche sentimentale Unterschrift ›Ewig dein, Alys‹. Natürlich radierte ich das aus, ehe ich die Fotografie der alles durchschauenden Sybille bei Brownes zeigte ...«
Das Belafield war ein kleines, sehr teures Hotel in der Dreißigsten Straße. Vance sandte seine Karte zu Miß La Fosse und erhielt den Bescheid, daß sie ihn in fünf Minuten empfangen würde. Aus den fünf Minuten waren dreiviertel Stunden geworden, als ein glänzend uniformierter Hotelpage uns in die Räume der Lady geleitete.
Die Natur hatte Miß Alys La Fosse mit vielen Reizen bedacht, und jene, die die Natur vergessen hatte, hatte Miß La Fosse selber ergänzt. Sie war blond und schlank. Ihre großen blauen Augen waren lang bewimpert. Sie hatte mit großer Sorgfalt Toilette gemacht.
»So, Sie sind Mr. Vance!« girrte sie. »Ich habe Ihren Namen oft in den Zeitschriften gelesen.«
Vance schauderte leise.
»Und dies ist Mr. Van Dine«, sagte er liebenswürdig.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Ich bin sicher, daß Miß La Fosse diesen Satz in einem Theaterstück gesprochen hatte; sie machte eine eindrucksvolle Zeremonie aus der Aufforderung. »Ich vermute, Sie sprechen geschäftlich vor. Vielleicht wünschen Sie, daß ich auf einem Wohltätigkeitsbasar der Gesellschaft auftreten soll. Aber meine Zeit ist furchtbar in Anspruch genommen, Mr. Vance.«
»Leider«, entgegnete Vance in seiner besten Salonmanier, »habe ich keinen Basar zu veranstalten, der durch Ihre reizende Gegenwart begnadet werden könnte. Ich komme in einer viel ernsteren Angelegenheit zu Ihnen. Sie waren eine sehr nahe Freundin von Miß Margaret Odell –«
Die bloße Erwähnung des Namens brachte Miß La Fosse sofort in Harnisch. Die affektierte Eleganz war im Nu vergessen. Ihre Augen blitzten, sie warf den Kopf wütend zurück.
»Hören Sie mal! Was bilden Sie sich eigentlich ein! Ich habe nichts zu sagen. Scheren Sie sich raus mitsamt Ihrem Kompagnon!«
Vance nahm ruhig sein Zigarettenetui heraus.
»Erlauben Sie, daß ich rauche? Und darf ich Ihnen eine anbieten? Sehr duftiger Tabak! Ich lasse mir meine Zigaretten direkt durch einen Agenten in Konstantinopel importieren.«
Das Mädchen fauchte. Aus dem Modepüppchen war ein Marktweib geworden.
»Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, oder ich werde den Hausdetektiv holen!«
»Wenn Sie das tun, Miß La Fosse, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie zum Verhör auf das Polizeipräsidium gebracht werden«, sagte er kühl, indem er sich in den Sessel zurücklehnte und seine Zigarette ansteckte.
Langsam hängte sie den Hörer wieder an und drehte sich um.
»Was ist los? Wenn ich auch die Margot gekannt habe, was geht Sie das an? Wie gehören Sie denn überhaupt ins Bild?«
Vance lächelte.
»Leider passe ich überhaupt nicht rein. Aber es scheint im großen ganzen, daß kein Mensch reinpaßt. Tatsächlich ist man gerade dabei, einen armen Dussel zu verhaften, weil er Ihre Freundin ermordet haben soll, und der paßt auch nicht ins Bild ... Ich bin mit dem Polizeichef nah befreundet und werde über alles auf dem laufenden gehalten. Die Polizei ist fieberhaft tätig. Es ist schwer vorauszusagen, welcher Fährte sie als nächster nachspüren wird. Ich dachte mir deshalb, daß ich Ihnen durch einen freundschaftlichen kleinen Schwatz einen Haufen Unannehmlichkeiten ersparen könnte ... Natürlich, wenn Sie es vorziehen, dann werde ich Ihren Namen weitergeben, und Sie werden von den Beamten verhört werden. Ich kann Ihnen jedoch verraten, daß man bis jetzt amtlich noch nichts von Ihnen weiß. Und wenn Sie vernünftig sind, dann sehe ich keinen Grund, weshalb die Polizei von Ihren Beziehungen zu Miß Odell hören sollte.«
Vance hatte wohlmeinend gesprochen. Das Mädchen sah ihn scharf an.
»Wollen Sie jetzt eine von meinen Zigaretten nehmen?« fragte er versöhnlich.
Mechanisch nahm sie eine Zigarette.
»Wer soll denn da verhaftet werden?« fragte sie mit unbewegtem Gesicht. Sie musterte Vance, wie um festzustellen, wie weit sie ihm trauen könne.
»Ein Bengel namens Skeel. Albern, nicht wahr?«
»Den? Diesen kümmerlichen Gauner? Der hat ja nicht Murr genug, 'ne Katze zu ersäufen.« Ihr Ton verriet Ekel und Verachtung.
»Ganz meine Meinung. Aber das ist schließlich kein Grund, ihn auf den elektrischen Stuhl zu schicken.«
Vance lehnte sich vorwärts und lächelte verbindlich.
»Miß La Fosse, wenn Sie fünf Minuten mit mir reden und vergessen wollen, daß ich ein Fremder bin, dann gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß das Polizeipräsidium nichts von Ihnen erfährt. Ich verspreche Ihnen, die Quelle jeder Auskunft, die Sie mir gütigst geben wollen, zu vergessen.«
Das Mädchen schwieg. Sie versuchte, Vance einzuschätzen. Sie sagte sich wohl, daß sie nun, nachdem ihre Freundschaft mit dem Kanarienvogel bekannt war, nichts mehr verlieren könne, wenn sie Vance vertraute.
»Schaun Sie mal her. Mir ist gesagt worden, ich soll mich nicht in die Sache einlassen. Sonst riskier ich, daß ich wieder beim Ballett rumhupfen kann, und das ist kein Leben für so'n junges Ding mit feineren Geschmäckern.«
»Infolge mangelnder Diskretion meinerseits wird Sie dieses Unglück niemals befallen«, versicherte Vance ernst. »Wer sagte Ihnen denn, daß Sie sich nicht einlassen sollten?«
»Mein – – – Verlobter«, gestand sie etwas kokett. »Er hat Angst, es könnte einen Skandal geben, wenn ich als Zeugin in den Prozeß reinkäme.«
»Ich kann seine Gefühle wohl verstehen«, nickte Vance sympathisch. »Und wer, wenn ich fragen darf, ist dieser glücklichste der Männer?«
»Na, hören Sie, Sie sind aber richtig!« Sie machte ihm ihr Kompliment. »Aber meine Verlobung ist ja nicht publik.«
»Seien Sie nicht hart«, bat Vance. »Sie wissen, daß ich den Namen leicht ausfindig machen kann. Das sind doch ganz einfache Nachfragen! Und wenn Sie mich dazu treiben, die Auskunft woanders einzuholen, dann würde mein Versprechen, Ihren Namen geheimzuhalten, natürlich hinfällig sein.«
Miß La Fosse erwog diesen Punkt.
»Das stimmt, das können Sie leicht rausfinden – – – Dann kann ich es Ihnen genau so gut selbst sagen ... Aber ich verlasse mich auf Ihr Wort, daß Sie mich in Schutz nehmen.« Sie riß die Augen auf und gab Vance einen hinschmelzenden Blick. »Ich weiß, Sie werden mich nicht verraten.«
»Aber meine teure Miß La Fosse!« Vances Ton war schmerzlich überrascht.
»Also – mein Verlobter ist Mister Mannix, der Chef der großen Pelzimportfirma ... Sehen Sie ...« – sie wurde plötzlich zutraulich –, »Luki ... das ist Mister Mannix ... ist mit der Margot gegangen. Darum will er nicht haben, daß ich mich reinmische. Er sagt, dann würde die Polizei ihn belästigen, sein Name käme in die Zeitung, und das könnte ihm geschäftlich schaden.«
»Das verstehe ich durchaus«, murmelte Vance. »Und wissen Sie zufällig, wo Mister Mannix Montag nacht war?«
Das Mädchen sah verdutzt aus.
»Natürlich weiß ich das! Er war ja hier bei mir, von halb elf bis zwei Uhr morgens. Wir sprachen über ein neues Singspiel. Er hat nämlich Geld drin stecken und wollte, daß ich die Hauptrolle in dem neuen Singspiel spiele.«
»Dann wird's sicher ein Erfolg!« Vance sprach mit entwaffnender Freundlichkeit. »Waren Sie Montag abend allein zu Haus?«
»Nee!« Die Idee schien sie zu amüsieren. »Ich war in den ›Scandals‹, ging aber früh weg. Ich wußte, daß Luki ... daß Mister Mannix zu mir kommen wollte.«
»Ich hoffe, er wußte das Opfer zu schätzen, das Sie ihm dadurch gebracht haben.« Mir schien, daß Vance durch dieses unerwartete Alibi von Mannix enttäuscht war. Es war so eindeutig, daß weitere Fragen über den Punkt vergeblich schienen. Er wechselte deshalb das Thema.
»Was wissen Sie über einen Mister Charles Cleaver? Er war ein Freund von Miß Odell.«
»Ah, ›Pop‹, der ist richtig. Ein netter Kerl.« Das Mädchen schien erleichtert, daß das Gespräch diese Wendung genommen hatte. »Er war schwer in die Margot verknallt. Sogar nachdem sie ihn Mister Spotswood zuliebe über Bord geworfen hatte, war er ihr noch treu. Das kann man wohl sagen! Er lief ihr ständig nach und schickte Blumen und Geschenke. Manche Männer sind halt so. Der arme alte Pop! Er hat mir sogar Montag nacht telefoniert, ich möchte doch die Margot anrufen und noch ein paar Leute zusammentrommeln. Wenn ich es nur getan hätte, dann wär sie vielleicht noch am Leben ... Eine komische Welt, nicht wahr?«
»Oh, furchtbar komisch!« Vance rauchte ruhig. Ich mußte seine Selbstbeherrschung rundheraus bewundern. »Um wieviel Uhr hat Sie denn Mister Cleaver angerufen?« Nach seiner Stimme hätte niemand die Frage für wichtig gehalten.
»Warten Sie mal ...«, sie spitzte sehr niedlich ihre Lippen. »Es war genau zehn Minuten vor zwölf. Ich erinnere mich, daß die kleine Glockenuhr auf dem Kaminsims gerade zwölf schlug, so daß ich den Pop zuerst gar nicht gut verstehen konnte. Und, sehen Sie, ich habe meine Uhr immer zehn Minuten vorgestellt, damit ich nicht zu meinen Verabredungen zu spät komme.«
Vance verglich die Uhr mit der seinen.
»Ja, sie geht zehn Minuten vor ... Na, und was ist aus der Partie geworden?«
»Ach, ich hatte ja so viel über das Singspiel zu konferieren. Und Mister Mannix wollte in dieser Nacht nichts von anderen Leuten wissen ... Es war also nicht meine Schuld, nicht wahr?«
»Ganz und gar nicht«, versicherte Vance. »Arbeit kommt vor dem Vergnügen, besonders so wichtige Arbeit wie die Ihrige ... Und nun gibt es da noch einen Mann, über den ich Sie fragen wollte. Dann werde ich Sie nicht weiter belästigen. Wie standen denn die Dinge zwischen Miß Odell und Doktor Lindquist?«
Miß La Fosse wurde richtig verstört.
»Er war wahnsinnig in die Margot verliebt, und sie machte ihn noch toller. Er war eifersüchtig wie ein Verrückter. Und einmal, wissen Sie, da hat er ihr sogar gedroht, daß er sie und sich selber totschießen wolle. Na, ich habe die Margot sehr gewarnt. Aber sie hat keine Angst vor ihm gehabt ... sehr unvorsichtig von ihr ... Ach ... glauben Sie vielleicht, er könnte ... halten Sie es wirklich für möglich ...?«
»Und sonst gab es niemand, der in Betracht käme?« unterbrach Vance. »Irgend jemand, vor dem sie sich fürchten mußte?«
Miß La Fosse schüttelte den Kopf.
»Nein, Margot kannte nicht viele Männer. Sie wechselte nicht oft, wenn Sie wissen, was das heißt. Es gab niemand sonst, außer Mister Spotswood natürlich. Mit ihm war sie Montag aus. Ich wollte haben, daß sie mit mir in die ›Scandals‹ gehen sollte, daher weiß ich das.«
Vance erhob sich und reichte ihr die Hand. Aber Miß La Fosse entließ uns nicht, ohne ihn nach dem Mörder zu fragen. Vance versicherte ihr, daß niemand den Mörder kenne. Nachdem er ihr nochmals seine Verschwiegenheit beteuert hatte, sagte sie uns liebenswürdig adieu.