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Im Sekretariat der Kriminalabteilung der New Yorker Polizei, im dritten Stock des Polizeipräsidiums, befindet sich eine große Kartothek mit Stahlfächern. Dort, unter tausenden ihresgleichen, wird eine kleine grüne Karte aufbewahrt, auf der in Maschinenschrift steht: Odell, Margaret. 184 West – 71. Straße, 10. Sept. Mord: Gegen elf Uhr abends erwürgt. Wohnung durchstöbert. Juwelen gestohlen. Leiche von Amy Gibson, Bedienerin, entdeckt.
Dies ist in ein paar dürren Worten die sachliche Feststellung eines der erstaunlichsten Fälle in der Kriminalgeschichte der Vereinigten Staaten, eines einzigartigen, widerspruchsvollen, genial ausgeführten Verbrechens, das viele Tage lang die besten Kräfte der Detektivabteilung und des Polizeipräsidiums völlig ratlos ließ. Jede Fährte, die die Untersuchung aufnahm, bewies anscheinend nur, daß niemand Margaret Odell ermordet haben konnte; aber die Leiche, die zusammengekrümmt auf dem großen, seidenbespannten Sofa in ihrer Wohnung lag, strafte diese groteske Mutmaßung Lügen.
Margaret Odell gehörte zur Halbwelt-Boheme des Broadway. Die beiden letzten Jahre vor ihrem Tod war sie die auffälligste, in einem gewissen Sinn populärste Erscheinung im Nachtleben der Stadt. Ihre Berühmtheit rührte zum Teil von Gerüchten über Liebesaffären in Europa mit einer oder zwei unbekannten Fürstlichkeiten her. Nach ihrem ersten Erfolg in dem Singspiel »Das Mädchen aus der Bretagne«, durch den sie überraschend schnell zum Star aufgestiegen war, hatte sie zwei Jahre auf Reisen verbracht. Ihr Presseagent beutete, wie man sich denken kann, diese Abwesenheit in vollem Umfange aus, um phantastische Berichte über ihre Eroberungen in Umlauf zu setzen.
Die Erscheinung der Odell trug viel dazu bei, ihren etwas zweifelhaften Ruf glaubhaft zu machen. Ich erinnere mich, daß ich sie einmal im Autler-Klub, dem bekannten nachmitternächtlichen Treffpunkt der Vergnügungssüchtigen, tanzen sah. Sie erschien mir damals als ein Wesen von ganz ungewöhnlichem Reiz, trotz ihres berechnenden und gierigen Ausdrucks. Sie war mittelgroß, schlank, graziös wie ein Panther, ihre Manieren erschienen mir etwas hochmütig, was sich vielleicht auf jene, gerüchtweisen Beziehungen zu europäischen Fürstlichkeiten zurückführen ließ. Sie hatte das typische Gesicht einer Kokotte, geschminkte Lippen, lange schmale Augen – wollüstig und voll dunkler Geheimnisse –, eines jener Gesichter, die die Gefühlswelt des Mannes beherrschen, sein Denken unterjochen und ihn zu verzweifelten Taten treiben können.
Margaret Odell erhielt den Spitznamen »Der Kanarienvogel« nach einer Rolle, die sie in einem Ballett gespielt hatte, in dem die Tänzerinnen als Vögel auftraten. Ihr war die Partie des Kanarienvogels zugefallen; ihr Kostüm aus weißem und gelbem Satin, ihr üppiges, leuchtend goldnes Haar, ihr rosig weißer Teint verliehen ihr in den Augen des Publikums einen außergewöhnlichen Reiz. Ehe noch vierzehn Tage vergingen – so überschwenglich war das Lob der Zeitungen, und so einwandfrei galt der Applaus des Publikums vor allem ihr – wurde das »Vogelballett« in ein »Kanarienballett« verwandelt, und Miß Odell war erste Solotänzerin. Die Einlage eines Walzers für sie und eines Songs gaben ihr dann weitere Gelegenheit, ihre Reize und ihr Talent spielen zu lassen.
Am Ende der Spielzeit hatte sie die »Follies« verlassen. In ihrer folgenden glänzenden Laufbahn in den Nachtlokalen am Broadway wurde sie allgemein »Der Kanarienvogel« genannt. So kam es, daß, nachdem man sie von brutaler Hand erwürgt in ihrer Wohnung gefunden hatte, das Verbrechen sofort bekannt und »der Mord an dem Kanarienvogel« genannt wurde.
Meine persönliche Teilnahme an der Untersuchung dieses Falles – oder, genauer gesagt, meine Rolle als Zuschauer – gehört zu den denkwürdigsten Begebenheiten meines Lebens. Zur Zeit des Mordes an Margaret Odell war John F. Markham Polizeichef in New York. Dort war damals gerade, als unmittelbare Folge des Alkoholverbots, eine gefährliche und höchst unerwünschte Art Nachtleben aufgekommen. Eine Menge wohlfinanzierter Kabaretts, die sich »Nachtklubs« nannten, waren am Broadway und in dessen Seitenstraßen eröffnet worden, und eine beängstigende Anzahl schwerer Verbrechen, für deren Brutplätze man diese übelbeleumdeten Zufluchtstätten hielt, lag vor.
Markham war wochenlang in den regierungsfeindlichen Zeitungen aufs schärfste angegriffen worden, weil das Polizeipräsidium mangels ausreichender Beweise außerstande war, gewisse Verbrecher aus der Atmosphäre dieser Unterwelt zu überführen. So hatte er – ungeachtet seiner übrigen Amtsgeschäfte – beschlossen, seine persönliche Arbeitskraft den unerträglichen Kriminalverhältnissen zu widmen, und er zeichnete sich durch seinen geradezu unheimlichen Erfolg bei den Untersuchungen aus. Die Anerkennung jedoch, die ihm hierfür ausgesprochen wurde, war ihm im höchsten Grade peinlich. Denn als Mann vor ausgeprägtem Ehrgefühl schrak er davor zurück, der Kredit für Leistungen anzunehmen, die nicht voll und ganz seine eigenen waren. Tatsache ist nämlich, daß Markham lediglich die Rolle eines Mitarbeiters in den meisten seiner berühmten Kriminalfälle spielte. Das Lob für deren Lösung gebührte einem der nächsten Freunde Markhams Dieser aber verbat sich ausdrücklich, öffentlich genannt zu werden.
Dieser Mann war ein junger Aristokrat, für den ich aus Gründen der Anonymität den Namen Philo Vance gewählt habe. Vance war ein Mensch von erstaunlichen Fähigkeiten. Er war Kunstmaler in kleinem Stil, begabter Pianist und gründlich bewandert in allen Fragen der Ästhetik und Psychologie. Er war Amerikaner, hatte jedoch eine sorgfältige Erziehung in Europa genossen. Er verfügte über ein recht beträchtliches Einkommen und verbrachte viel Zeit mit der Erledigung seiner gesellschaftlichen Pflichten. Er war damals noch nicht fünfunddreißig und sah sehr gut aus. Leute, die ihn nur flüchtig kannten, hielten ihn für einen Snob. Ich aber stand ihm sehr nahe, und so war ich leicht imstande, den wirklichen Menschen in ihm zu schätzen. Ich wußte, daß sein Zynismus und seine Distanziertheit nicht Pose waren, sondern einer sensitiven und einsamen Natur entsprangen.
Im allgemeinen hielt sich Vance von den Angelegenheiten der Welt absichtlich fern. Er betrachtete das Leben wie sich ein leidenschaftsloser, aber innerlich amüsierter Zuschauer eine Theatervorstellung ansieht. Seine lebhafte intellektuelle Neugier trieb ihn, sich an Markhams Kriminaluntersuchungen zwar aktiv, jedoch inoffiziell, gewissermaßen als »amicus curiae«, zu beteiligen.