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Ein Besucher ohne Namen

Dienstag, 11. Sept., 11½ Uhr vormittags

Heath kehrte mit dem Tagestelefonisten zurück, einem blassen, mageren Jüngling mit Namen Spively. Spivelys glattes schwarzes Haar war mit Pomade nach rückwärts gestriegelt. Er trug ein schwarzes, stark gestutztes Schnurrbärtchen. Sein Auftreten war übertrieben elegant, in einem schokoladebraunen, stark auf Taille geschnittenen Anzug, Stiefeln mit Stoffeinsatz und einem rosa Hemd mit gleichfarbigem steifem Umlegekragen. Er schien nervös. Während er Platz nahm, fingerte er die Bügelfalte seiner Hose ab.

Markham schoß sofort aufs Ziel los.

»Sie saßen gestern bis zehn Uhr abends am Telefon. Stimmt das?«

Spively schluckte und nickte mit dem Kopf. »Ja.«

»Um wieviel Uhr ist Miß Odell ausgegangen?«

»Gegen sieben; ich hatte gerade wegen ein paar belegten Broten ins Restaurant geschickt ...«

»Ging sie allein aus?« schnitt Markham ab.

»Nein. Ein Kavalier holte sie ab.«

»Kennen Sie diesen ›Kavalier‹?«

»Ich habe ihn ein paarmal zu Besuch bei Miß Odell gesehen, aber ich weiß nicht, wer er ist.«

»Wie sah er aus?« fragte Markham ungeduldig.

Obwohl Spively fahriger als Jessup beschrieb, stimmte seine Schilderung des Begleiters mit Jessups Beschreibung des Mannes, der Miß Odell nach Haus gebracht hatte, überein. Sicher hatte ein und derselbe Mann Miß Odell um sieben abgeholt und sie gegen elf heimgebracht.

»Nun«, sagte Markham in schärferem Ton, »wünsche ich zu wissen, wer sonst zwischen sieben und zehn bei Miß Odell vorgesprochen hat.«

Die Frage verwirrte den Jüngling.

»Ich ... ich ... verstehe nicht«, stotterte er, »sie war doch aus.«

»Jemand muß gekommen sein. Der Betreffende ist irgendwie in die Wohnung gelangt und war darin, als Miß Odell nach Hause kam.«

»Guter Gott!« rief Spively aus. »Sooo ist sie also umgebracht worden! Man hat ihr aufgelauert ...!« Er riß sich zusammen. »Aber während ich Dienst hatte, ist niemand in die Wohnung gelangt«, platzte er mit Nachdruck heraus. »Niemand! Ganz bestimmt niemand. Ich bin nicht vom Tisch aufgestanden.«

»Könnte nicht jemand vom Seiteneingang reingekommen sein?«

»Was – – –?« kam es erschreckt. »War da offen? Der Hausmeister riegelt doch immer um sechs zu.«

»Und haben Sie nicht aus irgendeinem Grund aufgeriegelt? Denken Sie nach!«

»Nein, gewiß nicht, Sir.« Der Jüngling schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sicher, daß niemand von der Straße reinkam, nachdem Miß Odell ausgegangen war?«

»Sicher – ganz sicher. Ich sage ja, ich habe die ganze Zeit am Telefon gesessen, und kein Mensch hätte vorbeigekonnt, ohne daß ich es merkte. Es kam nur eine einzige Person und fragte nach ihr ...«

»Aha! Es hat also jemand vorgesprochen«, fuhr Markham heraus. »Wann war das? Und was geschah? Rütteln Sie Ihr Gedächtnis zusammen!«

»Es war ja nichts Wichtiges«, versicherte der Jüngling eingeschüchtert. »Nur ein Kavalier. Der ist reingekommen und hat nach ihr gefragt und an ihrer Tür geschellt und ist dann gleich wieder weggegangen.«

»Kümmern Sie sich nicht darum, was wichtig ist oder nicht!« Markhams Ton war kalt und abweisend. »Wann war das?«

»Gegen halb zehn.«

»Und wer war der Mann?«

»Ein junger Kavalier. Ich hab' ihn öfter zu ihr kommen sehen. Ich weiß nicht, wie er heißt.«

»Sagen Sie ganz genau, was vorfiel!«

Spively schluckte heftig und befeuchtete seine Lippen.

»Ja, ja ... es war so«, stotterte er mit Anstrengung, »er kam rein und ging durch den Hausflur, und ich sagte zu ihm: ›Miß Odell ist nicht daheim‹ ... aber er ist weitergegangen und hat gesagt: ›Na, ich schelle mal bei ihr, sicher ist sicher.‹ Grade dann kam ein Anruf, und so ließ ich ihn vorbei ... Er hat dann geschellt und an die Tür geklopft, aber niemand hat geantwortet ... Und dann ist er wiedergekommen und hat gesagt: ›Sie hatten recht‹ ... Und dann hat er mir noch einen halben Dollar hingeworfen und ging fort.«

»Sie haben ihn tatsächlich fortgehen sehen?« Markhams Stimme klang ziemlich enttäuscht.

»Klar. Ich sah, wie er wegging. Er stoppte in der Haustür, steckte eine Zigarette an, machte dann die Tür auf und ging nach dem Broadway zu.«

»›Blatt um Blatt entblättert sich die Rose‹«, kam die friedvolle Stimme von Vance. »Eine sehr reizvolle Situation.«

Markham war noch nicht gesonnen, seine Hoffnung auf den Besucher um halb zehn Uhr ganz aufzugeben.

»Beschreiben Sie diesen Mann«, verlangte er.

Spively richtete sich auf und antwortete mit einem Enthusiasmus, der zeigte, daß er von dem Besucher genau Notiz genommen hatte:

»Er sah gut aus, nicht alt, vielleicht dreißig. Er trug einen Frack und Lackschuhe und ein gefälteltes Seidenhemd.«

»Was? Was?« fuhr Vance dazwischen. »Ein Seidenhemd zum Frack?! Das ist ja ganz außerordentlich.«

»Oh, ein Haufen Kavaliere tragen sie«, erklärte Spively mit herablassendem Stolz. »Sie sind schick, besonders zum Tanzen.«

»Was Sie nicht sagen!« Vance schien sprachlos. »Darum muß ich mich doch mal kümmern ... Und sagen Sie noch eines: als dieser Gent mit dem gefältelten Seidenhemd unter der Haustür stehenblieb, steckte er sich da eine Zigarette an? Nahm er sie aus einem Zigarettenetui, lang, flach, viereckig, gehämmertes Silber? Steckte es etwa in der unteren Westentasche?«

Der schöne Jüngling starrte Vance sprachlos an.

»Woher wissen Sie ...?« platzte er heraus.

»Furchtbar einfach!« Vance legte sich wieder bequem auf dem Sofa zurecht. »Lange flache Zigarettenetuis aus gehämmertem Metall in der unteren Westentasche gehören unbedingt zum gefältelten Seidenhemd und Abendanzug.«

Markham schnitt wütend die Erörterung ab und forderte Spively auf, zu der Beschreibung zurückzukehren.

»Er trug sein Haar glatt zurückgekämmt«, fuhr der Jüngling fort, »es war lang und nach der letzten Mode geschnitten. Und er hatte einen kleinen gewichsten Schnurrbart. Eine große Nelke steckte in seinem Rockaufschlag. Er hatte weiße Wildlederhandschuhe an.«

»Phantastisch!« murmelte Vance. »Ein Gigolo.«

Markham runzelte die Stirn.

»War der Mann klein oder groß?«

»Ungefähr meine Größe«, erklärte Spively, »und ziemlich schlank.«

»Das Problem also«, bemerkte Vance leichthin, nachdem Markham den Telefonisten entlassen hatte, »bleibt nach wie vor: ›Wie ist der Henker der schönen Margaret hier hereingekommen?‹«

»Der Kerl kann schon früher am Nachmittag hereingekommen sein«, polterte Heath hervor. »Sagen wir, als die Seitentür noch offenstand. Womöglich hat ihn die Odell selber eingelassen und hielt ihn versteckt, während der andere kam und sie zum Essen abholte.«

»Sieht danach aus«, gab Markham zu. »Bringen Sie das Dienstmädchen noch einmal her; wir wollen sehen, was wir hierüber erfahren können.«

Als die Mulattin erschien, fragte Markham sie nach ihren Beschäftigungen im Laufe des vorigen Nachmittags. Wir erfuhren, daß sie gegen vier zu Besorgungen ausgegangen und gegen halb sechs zurückgekommen war.

»Hatte Miß Odell Besuch, als Sie zurückkamen?«

»Nein, Sir«, kam es prompt. »Sie war allein.«

»Erwähnte sie etwa, daß jemand da war?«

»Nein, Sir.«

»Könnte jemand hier versteckt gewesen sein, als Sie um sieben weggingen?«

»Wo könnte sich denn hier jemand verstecken?« fragte die Mulattin erstaunt und ein wenig erschrocken und sah sich im Zimmer um.

»Im Badezimmer, in einer der beiden Garderoben, unterm Bett, hinter den Fenstervorhängen«, suggerierte Markham.

»Nein«, sagte Amy Gibson nach einer Weile kopfschüttelnd. »Nein, nein ... Ich war ein halbes dutzendmal im Badezimmer ... Ich holte Miß Odells Abendkleid aus der Garderobe im Schlafzimmer ... Als es dunkel wurde, zog ich selbst die Fenstervorhänge runter ... Und das Bett ist so niedrig, daß sich niemand darunterzwängen kann.«

Ich sah mir das Bett an und bemerkte, daß das stimmte.

»Und das Kleidergelaß hier im Wohnzimmer?« fragte Markham hoffnungsvoll. Aber wieder schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Da war niemand drin, Sir«, sagte sie. »Ich habe dort meinen Hut und Mantel geholt, als ich mich zum Fortgehen fertigmachte. Ich habe sogar noch, ehe ich wegging, eines von Miß Odells Kleidern dort aufgehängt.«

»Und sind Sie absolut sicher«, wiederholte Markham, »daß niemand in diesen Räumen versteckt sein konnte, während Sie hier waren?«

»Absolut, Sir.«

»Erinnern Sie sich, ob der Schlüssel an der Tür innen oder außen steckte, als Sie die Tür öffneten, um Ihren Hut zu holen?«

Amy Gibson sah gedankenvoll nach dem Kabinett.

»Er steckte außen, wie immer«, verkündete sie nach kurzer Überlegung. »Ich erinnere mich, weil der Chiffon an dem Kleid, das ich weghängte, sich am Schlüssel verfing.«

»Sie sagten, daß Sie den Namen des Gentleman, mit dem Miß Odell gestern zu Nacht speiste, nicht kennen. Wissen Sie vielleicht die Namen von andern Männern, mit denen sie auszugehen pflegte?«

»Miß Odell hat mir gegenüber nie Namen erwähnt, sie war sehr diskret«, sagte die Mulattin. »Sie wissen ja, Sir, ich war nur tagsüber hier, und die Herren ihrer Bekanntschaft kamen gewöhnlich am Abend.«

»Hat sie zu Ihnen von jemandem gesprochen, vor dem sie Angst hatte? Oder von jemandem, den sie aus irgendeinem Grunde fürchtete?«

»Das nicht – – aber da war ein Mann, von dem sie loszukommen versuchte. Ein schlechter Kerl, ich hätte ihm nicht über den Weg getraut. Ich warnte Miß Odell vor ihm, aber sie kannte ihn seit langem, und ich vermute, daß sie früher mal ziemlich verliebt in ihn war.«

»Woher wissen Sie das?«

»Eines Tages, vor ungefähr einer Woche«, erklärte die Bedienerin, »als ich nach dem Mittagessen hierherkam, war dieser Mann mit ihr im Nebenzimmer. Sie hatten mich nicht kommen hören, weil die Portieren zugezogen waren. Er verlangte Geld von ihr, und als sie ihn abschieben wollte, drohte er ihr. Da sagte sie etwas, dem ich entnahm, daß sie ihm öfters zuvor Geld gegeben hatte. Ich machte mich absichtlich bemerkbar, und da hörten sie auf, davon zu reden. Gleich darauf ging er weg.«

»Wie sah der Mann aus?« fragte Markham lebhaft.

»Ziemlich schlank, nicht sehr groß, ungefähr dreißig. Er hatte ein hartes Gesicht, eigentlich hübsch, und so blaßblaue Augen, die einen schaudern machen. Sein Haar war immer mit Pomade zurückgekämmt, und er hatte einen blonden Schnurrbart mit spitzen Enden.«

»Aha!« sagte Vance. »Unser Gigolo.«

»Ist dieser Mann seitdem hiergewesen?«

»Ich weiß nicht, Sir. Nicht, wenn ich hier war.«

»Schön. Das ist alles.«

Die Mulattin ging.

»Sie hat uns nicht viel geholfen«, klagte Heath.

»Was?!« rief Vance. »Meines Erachtens hat sie verschiedene strittige Punkte aufgeklärt.«

»Die wären?« fragte Markham.

»Wir wissen nun, daß niemand hier versteckt lag, als die Gute gestern hier um sieben wegging. Wir wissen ferner, daß sich augenscheinlich irgend jemand selbst in dem Kleidergelaß einschloß – Beweis: der wandernde Schlüssel – und daß dieses Versteckspiel erst anfangen konnte, nachdem die Abigail gegangen war oder – genauer gesagt – nach sieben Uhr abends.«

»Was ich nicht verstehen kann, Mr. Vance«, sagte Heath, »ist, wieso der Kerl, der in der Garderobe versteckt war, sie nicht genau sowie die übrige Wohnung durchstöbert hat.«

»Bravo!« rief Vance aus. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Sergeant. Wissen Sie was? Der nette Anblick der Kleiderkammer läßt die Vermutung zu, daß jener Rohling, der hier tobte, einfach deshalb diese Kammer nicht durchsuchen konnte, weil sie von innen abgeschlossen war und er sie nicht aufbrachte.«

»Halt! Halt!« protestierte Markham. »Dann behauptest du ja, daß gestern nacht hier zwei Unbekannte waren ...«

»Weh und Ach!« seufzte Vance. »Ich weiß. Und dabei können wir nicht einmal einen nachweisen. Peinlich, was?«

»Jedenfalls wissen wir jetzt«, brachte Heath zum Trost vor, »daß der Stutzer mit den Lackschuhen gestern abend um halb zehn vermutlich der Liebhaber der Odell war und früher Geld von ihr bezog.«

»Und was hilft das?« fragte Vance. »Fast jede moderne Delila hat ihre geizigen Liebhaber.«

»Derartige Burschen sind gewöhnlich Gauner von irgendeiner Sorte, Berufsverbrecher, Sie verstehen. Nachdem ich weiß, daß diese Sache hier von einem Berufsverbrecher verübt wurde, läßt es mich natürlich nicht kalt, daß der Kerl gestern abend hier rumschnupperte ...«

»Sie sind also überzeugt, daß diese Arbeit, wie Sie es nennen, von einem Zünftigen getan wurde?« fragte Vance mild.

Heath antwortete wegwerfend: »Hat der Halunke nicht vielleicht Handschuhe getragen? Wußte er nicht mit dem Kaltmeißel umzugehen? Glauben Sie mir, das war ein gerissener Fachmann!«


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