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Die große Insel hat etwas von der Selbständigkeit eines Kontinents. Ankommenden Schiffen scheint sie von der Einfahrt nach Kandia entgegenzuschweben, von hier aus gesehen merkwürdig flach, wie ein Präsentierbrett des Außerordentlichen. Dieses Außerordentliche spürt jeder bei der Ankunft sofort, trotz Staub, verlaustem Federvieh, Provinzlern, »Beserlpark« und Sonntagsmusik, spürt es an der Fertiggelebtheit der ganzen Landschaft. Hier ist altedles Menschenreich. Wo immer der spät eingenistete, artfremde, schäbige Alltag abgekratzt wird, zeigt sich schon wenige Fuß unter ihm der Boden durchdrungen von »towering grace«: ragender Anmut. Quaderngefügte Paläste, Pergolen, Gymnasien, Wasserwerke, Bibliotheken, Arenen, Theater kommen zutag; Hülsen eines einst über drei Kontinente hinstrahlenden Lebens. Noch ein Jahrtausend nach dem gewaltsamen Ende steht sein farbiger Abglanz an jüngerer Völker Horizont.
Kreta ist stets ein Sagenbrennpunkt beinahe ohnegleichen gewesen, und Sir Arthur Evans gräbt dort Märchen über Märchen aus. Zu Anfang, vor dreißig Jahren, galt das, trotz Schliemann, zünftiger Fachmeinung noch immer für ein Unternehmen, auf nichts gegründet als Phantasiegespinst, aufgeblasen von romantischen Fabulierern. Sir Arthur aber war ein zäher Laie und las so praktisch begeistert, wie Schliemann seinen Homer, von Jugend an in Kingsleys Fairy tales von der Geburt des Zeus in der diktäischen Grotte. Wie er als Stier Europa dort befruchtet, die Minos einen Herrn der Welt gebiert, vom Labyrinth und seinem Architekten Dädalus, dem ersten Vogelmenschen, vom Minotaur, von Theseus und Ariadne mit dem roten Faden – wohl auch vom Tod des Zeus. Der verblüffende Anspruch der Kreter, auf dem Monte Jukta das Grab des obersten Griechengottes zu besitzen, schuf ihnen zuerst den Ruf der Unwahrhaftigkeit: »Alle Kretenser sind Lügner.«
Obwohl in der diktäischen Grotte uraltes Kultgerät, seltsame Linearschrift und Weihgeschenke sich fanden, stieß Evans mit gutem Instinkt lieber gleich in den Kern der Legende hinein, dort, wo er unter wehenden Kornfeldern das »weitbewohnete« Knossos, die minoische Hauptstadt, vermutete und das Labyrinth.
Bald kamen Paläste frei, die weiten Flügel über Land geworfen; Innenhöfe von der Größe des Markusplatzes, glatt poliert wie Tanzsäle, mit Marmorsitzen und Brunnen, werden enterdet. In Bronzeangeln schwingen die mächtigen Tore, mit Metallschlössern und Schlüsseln versperrbar, oder Schiebetüren verbinden Badezimmer mit Boudoirs; Schlafräume sind durchwegs der Morgensonne zu gelegen. Die innere Haupttreppe des Ostflügels mit ihren Säulen und Balustraden führt durch fünf Stockwerke nach oben in den Zentralhof, nach unten mündet sie in Säulenkolonnaden und Wandelgänge, auf daß sich die Menschen hier im Freien und doch geschützt ergehen könnten. Achtzig Fuß lange Säulenhallen wechseln mit raffiniert intimer Raumkunst; ein oblonges Gemach teilen Säulen aus edlem Material, um ihre Basen laufen Alabasterbänke, wohl einst von Kissen bedeckt, bilden gemütliche Ecken mit rosigen Stehlampen und »Kopenhagner« Porzellan. Blaues und grünes Email, Gold und Bergkristall verkleiden die Wände des Thronsaals. Fast unübersehbar sind die Anlagen für Speicher, Vorräte, Banken, Safes, Sekretariate.
Starkes Gefälle im Terrain gab den großen, unbekannten Architekten Gelegenheit, hydraulische Künste in verzweigten Wasserleitungs- und Kanalisationsanlagen zu üben; die Terrakottaröhren, mit feinem Zement ausgekleidet, funktionieren heute noch ohne Fehl. Alle Einrichtungen, vom Waschkasten abwärts, wirken mustergültig »englisch«. Dies aber gehört bereits dem rein Zivilisatorischen an, auch jene weiten zementierten Terrassen, von denen vielleicht wirklich die ersten Flieger starteten, denn bisher haben alle Funde derart lächerlich genau mit der Tradition gestimmt, daß niemand besonders erstaunt wäre, enthielten die bisher leider unentzifferten Bibliotheken auch darüber bestätigenden Bericht. Doch all das bleibt lediglich als Kuriosum zu werten, ist internationale Zivilisation, die aber können wir momentan besser als irgend jemand sonst.
Wer hingegen »chinesisch«, »persisch«, »mexikanisch«, »ägyptisch« sagt, meint ein ganz bestimmtes Formengut, unverwechselbar und unvergeßlich, wenn erst einmal erfaßt. So sagte man »minoisch« auf den ersten Blick und durfte es beglückenderweise sagen, denn arm an wahrhaft echten Formen ist die Welt.
Auch zu Phästos, im Süden der Insel, also abliegend von Knossos, ergrub die italienische Mission einen ganz ähnlichen Palast, den Evansschen Entdeckungen ebenbürtig, ihnen in einem überlegen: der Riesentreppe. Aus Sandstein, dreizehneinhalb Meter breit, steigt sie in edler Flucht zu den Propyläen hinauf. Leider erwies sich Phästos als völlig ausgeraubt. Um so feinere Funde ergab die Königsvilla zu Hagia Triada und der sogenannte »kleine Palast«, denn es gehörte zum Lebensstil um 2000 v. Chr., sich außerhalb der Metropolen für das Weekend auf dem Lande reizvoll-intim anzubauen. Das also waren die Herrensitze. In Gournia entdeckte dagegen eine Amerikanerin, Miß Boyd, auch eine ganze kleinbürgerliche Villenstadt. Die Häuser, meist zwei- bis dreistöckig mit zwölf bis achtzehn Wohnräumen, gleichen englischen Cottages, die Einrichtung war der königlichen im Stil verwandt, wenn auch bescheidener.
Menschliche Siedlungen gehen auf der Insel bis ins XII. Jahrtausend v. Chr. zurück, wie sich aus den sechsundzwanzig Fuß hohen Scherbenresten ergibt. Schon im V. Jahrtausend exportierte man fleißig eine handpolierte schwarze Tonware nach Ägypten, die sich in Gräbern der ersten Pyramidenzeit findet. Zum England der Ägäis wurde Kreta in der Mitte des dritten Jahrtausends, seine Gipfelblüte liegt um 1600, das Ende zwischen 1450 und 1400 v. Chr. Das Reich zerstört, die Paläste in Flammen, so geht die minoische Welt in ihrer Glorie jäh und gewaltsam zugrunde, denn alle Macht lag in der Kriegsflotte, bestimmt, Handel und Häfen zu schützen. Ihr Versagen brachte Tod. Wie ein spätes Echo der Katastrophe, von der die brandgeschwelten Palastwände zu Knossos und Phästos berichten, sind die Worte Ramses III., in Fels gegraben zu Medinet-Habu: »Die Inseln aber waren ruhelos, verstört untereinander.«
Wer diese erobernden Seevölker waren, ob artfremd oder von ähnlicher Mittelmeerrasse, abgetrieben vom Festland und selber fliehend vor einer Welle nordischer Wanderung, ist unbekannt. Wie aber jene fernen, geheimnisvollen Zauberwesen: die Minoer, selber waren, das wissen wir, bis an die Spitzen ihrer Nägel und Locken hin, genau. An den Wänden der Paläste wandeln sie als lebensgroße Gestalten, schwingen im Reigen durch den »Korridor der Prozession«, auf Miniaturfresken lachen und plaudern sie in Gruppen, sehen vom Altan den Sportfesten zu, stehen als Fayencefigürchen im heiligen Schrein. Damen, Damen, nichts als Damen, wie an der Riviera, überbekleidet, onduliert, in Stöckelschuhen, dazwischen ab und zu ein fast nackter Jüngling, Typus Leichtgewichtsathlet oder Eintänzer, glatt rasiert, mit dem Torso einer roten Raubameise. Weit und breit kein »ehrwürdiger Greis«. Die Sorte ist in Frauenreichen nicht geschätzt.
Männer erscheinen fast durchweg subaltern beschäftigt, als Pagen, Mundschenken, Flötenbläser, Feldarbeiter, Matrosen. Kein einziger König, Priester, Heros; was man anfangs, fast automatisch, auf halb abgeblätterter Freske für einen Herrscher hielt, entpuppte sich schließlich als weiblich. Immer sind Frauen Königinnen, Priesterinnen, Göttinnen, Herrinnen, – nie Dienerinnen. Es war ein ungemein gepflegter, graziöser Frauentyp von selbstsicherer Unabhängigkeit der Haltung, in feinster Harmonie mit seiner Umwelt. Gazellengliedrig, diademgelockt, mit groß aufgeblühten, wimpernbeschwingten Augen, Näschen wie von Igeln, beweglich-fein und ganz leicht aufgebogen. Ihre Appartements sind luxuriös eingerichtet, mit Badezimmern und allem modernen Komfort versehen. Beim Nationalsport, der heute noch die iberische Halbinsel, damals das ganze Mittelmeergebiet erfüllte: dem Stierkampf, trugen sie absatzlose Schnürstiefel und ganz kurze Sportröcke, bei Gartenfesten dagegen Schühchen mit Louis XV.-Absätzen, Panniers, lange Mieder, weite Hüte und gepuffte Ärmel. Daß aber sogar die »große Göttin« von Kreta ebenso onduliert und auf Modeschau angezogen ist in ihren Heiligtümern, wirkt reichlich toll. Noch toller allerdings die große Mutter in Sporthosen, der neueste Fund, soeben publiziert und von Evans beschrieben, während diese Seiten in Druck gehen. Die Göttin war Patronesse aller nationalen Sportfeste, hatte als solche in der Arena ihren Schrein, wie eine »Fürstenloge«. In diesem stand während des sportlichen Kampfes ihre Gold-Elfenbein-Figurine mit nackten Armen und Beinen, der Sporthose eines Traininganzugs und einer Art goldenem Lumberjackett. Dies der »großen Mutter« neuester Aspekt.
Sie war die alleinige Gottgestalt, verehrt neben den Symbolen von Kreuz, Doppelaxt, Baum. Auf Kreta findet sich kein einziges männliches Idol, übrigens bis zur Bronzezeit auch in der ganzen Ägäis nicht. Nur auf manchen frühen Gemmen erscheint neben der weiblichen Gottheit zuweilen ein zwergisches Wesen, daktylenhaft, halb Spinnenmännchen, halb Sohn. Wie es in der minoischen Welt ausschließlich eine weibliche Gottheit gibt, so auch nur Priesterinnen in ihrem Dienst. Auf dem berühmten Sarkophag von Hagia Triada werden die Opfer und Kulthandlungen von Frauen ausgeführt, Männer sind bloß Musiker und Ministranten. In Kreta spielten die Frauen offenbar eine ebenso wichtige Rolle wie in Ägypten, und es mag gelegentlich zutage kommen, ist erst einmal die Schrift lesbar geworden, daß sie nicht nur in der Religion herrschten, daß vielmehr die Führung des Staates gleichfalls zum großen Teil in ihren Händen lag. Von der »Prozession der Königin« ist leider nur ein Teil erhalten. Er zeigt die Zahlung eines Tributes, die Abordnung wird von zwei Frauen in reichen Gewändern empfangen. Klidemus überlieferte auch, daß die Krone auf Ariadne überging, die später nach der Versöhnung mit Theseus einen Friedensvertrag zwischen Kreta und Athen schloß. Die ersten lesbaren Gesetze an der Wand von Gortyna sind erst aus später griechischer Zeit (VII. Jahrhundert), also bereits patriarchal, doch mit starken Resten älterer, mutterrechtlicher Bräuche, wie dem matrilokaler Ehe. Lykien als alte Kolonie hat seine Frauenherrschaft sicher von dem »lieben Mutterland«, wie Kreta hieß, mitgebracht, denn Minoer, Lykier, Karer, Lydier, auch alles, was die Griechen Pelasger und wir Mittelmeerrasse nennen, scheint eines Stammes zu sein, dessen Urheimat jetzt im nördlichen Afrika gesucht wird, eine Menschenart, den weißen Berbern und hellen Mauren ähnlich.
»Im Aufgang dieser ägäischen Zivilisation sendet die Frau durch die Religion hin ein so strahlendes Licht, daß männliche Gestalten ganz ignoriert und Schatten bleiben,« sagt Professor Mosso. Nach ihm hat der kretische Kult zweifellos bis zum Ende seinen gynaikokratischen Charakter bewahrt. Lange nach dem Sturz der minoischen Macht fanden die von Norden her eindringenden griechischen Stämme noch immer eine einzige große Göttin, fremdartig, feierlich gepflegt, in ihren kleinen Schreinen vor und ließen von ihr, die sie Rhea nannten, das Zeuskind gebären und in Kreta erziehen, ließen den gealterten Zeus aber – nun kommt das Sonderbare – dort auch sterben. Die Insel trägt das Grab des höchsten griechischen Gottes, der nur als vergänglicher Sohn der ewigen Mutter gilt. So stark ist die Bodenseele geblieben.