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Die Gerüchte über den ledigen Herrn und den Zweck seiner Ankunft wanderten von Munde zu Munde und wurden, je weiter sie reichten, nur um so wunderbarer, denn ein Gerücht nimmt bei seinen Auf- und Abwanderungen, ungleich dem rollenden Steine im Sprüchwort, einen ziemlichen Antheil von Moos mit. Zuvorderst erschien das Absteigen des genannten Herrn am Wirthshausthore als ein aufregendes und anziehendes Schauspiel, welches kaum genug bewundert werden konnte, und zog einen Haufen Müßiggänger zusammen, die eben erst durch den Schluß des Wachsfigurencabinets und die Beendigung der Hochzeitfeierlichkeiten so zu sagen außer Beschäftigung gekommen waren und jetzt die Ankunft des Fremden für wenig anderes, als für eine besondere Fügung der Vorsehung betrachteten, weßhalb sie dieselbe mit den lebhaftesten Aeußerungen der Freude begrüßten.
Ohne an der allgemeinen Stimmung Theil zu nehmen, sondern mit der gebeugten und entmuthigten Miene eines Mannes, der über eine getäuschte Hoffnung in stiller Zurückgezogenheit nachzudenken wünscht, stieg der ledige Herr ab und hob Kit's Mutter mit einer düsteren Höflichkeit aus dem Wagen, welche auf die Zuschauer einen ungemein kräftigen Eindruck machte. Sobald dieß geschehen war, bot er ihr den Arm und führte sie in das Haus, während mehrere behende Kellner als Plänkler voraneilten, um den Weg rein zu machen und die Gäste nach dem Zimmer, welches für ihre Aufnahme bereit war, zu führen.
»Jedes Zimmer ist recht,« sagte der ledige Herr, »wenn es nur gleich zur Hand ist; weiter verlange ich nichts.«
»Gleich hier, Sir, wenn Sie gefälligst diesen Weg spazieren wollen.«
»Wäre vielleicht dem Herrn dieses Zimmer gefällig?« fragte eine Stimme, während eine kleine Seitenthüre in der Nähe des Stiegenhauses rasch aufflog und ein Kopf zum Vorschein kam. »Er ist ganz willkommen hier, so willkommen wie Blumen im Mai und Kohlen um Weihnachten. Wäre Ihnen dieses Zimmer nicht gefällig, Sir? Erweisen Sie mir die Ehre, hereinzuspazieren. Ich bitte, mir diese Gunst zu erzeigen.«
»Barmherziger Himmel!« rief Kit's Mutter, in höchstem Erstaunen zurückfahrend. »Wer hätte auch das gedacht?«
Sie hatte allerdings auch einigen Grund, erstaunt zu sein, denn die Person, welche die huldvolle Einladung erließ, war Niemand anders, als Daniel Quilp. Die kleine Thüre, aus welcher er seinen Kopf herausstreckte, befand sich dicht neben dem Speiseschrank des Gasthauses; und dort stand er, sich mit grotesker Höflichkeit verbeugend, so ganz behaglich, als ob es die Thüre seines eigenen Hauses wäre, die Hammelskeulen und die gebratenen kalten Vögel durch seine unmittelbare Nachbarschaft vergiftend, und wie der böse Genius der Kellner aussehend, der aus seinen unterirdischen Gründen heraufgestiegen war, um irgend ein Unheil zu stiften.
»Wollen Sie mir die Ehre angedeihen lassen?« fragte Quilp.
»Ich ziehe es vor, allein zu sein,« versetzte der ledige Herr.
»Ah, so!« entgegnete Quilp.
Und so sprechend zog er sich mit einem Rucke wieder zurück und klappte die kleine Thüre hinter sich zu, wie eine Figur in einer Schwarzwälderuhr, wenn die Stunde schlägt.
»Erst gestern Abend noch, Sir,« flüsterte Kit's Mutter, »habe ich ihn in Klein-Bethel getroffen.«
»Wirklich?« versetzte ihr Reisegefährte. »Wann kam dieser Mensch hier an, Kellner?«
»Diesen Morgen mit der Nachtpost,« versetzte der Kellner.
»Hum! Und wann geht er wieder?«
»Das kann ich in der That nicht sagen, Sir. Die Zimmermagd hat ihn eben erst gefragt, ob er ein Bett wünsche, Sir. Als Antwort schnitt er Gesichter gegen sie und wollte sie dann küssen.«
»Ersuchen Sie ihn, daß er zu mir komme,« sagte der ledige Herr. »Sagen Sie ihm, es würde mich freuen, ein paar Worte mit ihm zu sprechen. Aber hören Sie, ich lasse bitten, daß er sogleich komme!«
Der Kellner machte über diesen Auftrag große Augen, denn der ledige Herr hatte bei dem Anblick des Zwerges nicht nur eben so viel Erstaunen, als Kit's Mutter, an den Tag gelegt, sondern sich auch, da er keine Furcht vor ihm hatte, durchaus nicht die Mühe gegeben, seinen Abscheu und Widerwillen gegen ihn zu verbergen. Er entfernte sich jedoch und kehrte alsbald mit dem Gegenstande seiner Sendung zurück.
»Ihr Diener, Sir,« begann der Zwerg. »Ich habe Ihren Boten auf dem halben Wege getroffen. Ich dachte. Sie würden mir erlauben. Ihnen mein Kompliment zu machen. Hoffentlich befinden Sie sich wohl – sehr wohl, ohne Zweifel.«
Es erfolgte eine kurze Pause, während welcher der Zwerg mit halbgeschlossenen Augen und gerunzeltem Gesichte auf Antwort wartete. Da er keine erhielt, so wandte er sich an die zweite Person, die ihm näher bekannt war.
»Christophs Mutter?« rief er. »Ach, diese gute Dame, diese würdige Frau, und so gesegnet in ihrem ehrlichen Sohne! Wie befindet sich Christophs Mutter? Ist ihr der Orts- und Luftwechsel gut bekommen? Und ihre kleine Familie und Christoph? Gedeihen sie? Blühen sie? Wachsen sie zu würdigen Bürgern heran, wie?«
Da Quilp seine Stimme mit jeder folgenden Frage zu einer höheren Note stimmte, so endigte er mit einem schrillen Gequieke, worauf er seine gewöhnliche schüchterne Miene wieder annahm, die, mochte sie nun natürlich oder erkünstelt sein, die Wirkung hatte, allen Ausdruck von seinem Gesicht zu verbannen und dasselbe, so ferne man es als einen Index seiner Stimmung oder Meinung betrachtete, zu einem völlig weißen Blatte zu machen.
»Herr Quilp,« sagte der ledige Herr.
Der Zwerg hielt die Hand an sein großes Ohr und copirte das Bild der gespanntesten Aufmerksamkeit.
»Wir haben uns schon früher getroffen – –«
»Gewiß!« rief Quilp mit einem Kopfnicken. »Oh, gewiß, Sir. Solch eine Ehre und solch ein Vergnügen – es ist beides, Christophs Mutter, es ist beides – läßt sich nicht so bald vergessen. Nein, in keinem Falle!«
»Ihr erinnert Euch vielleicht, daß ich an dem Tage, als ich in London ankam und das Haus, an welchem ich anfuhr, leer und verlassen fand, von einigen der Nachbarn an Euch gewiesen wurde, und daß ich Euch sogleich besuchte, ohne mir Zeit zur Ruhe oder Erfrischung zu gönnen?«
»Wie Hals über Kopf das war, und doch, welch eine ernste und kräftige Maßregel!« entgegnete Quilp, in der Weise seines Freundes, des Herrn Sampson Braß, mit sich selber sprechend.
»Ich fand Euch,« fuhr der ledige Herr fort, »ganz unbegreiflicher Weise, im Besitze alles dessen, was so kürzlich noch einem andern Manne gehört hatte, und diesen Anderen, der bis zur Zeit, als Ihr Euch seines Eigenthums bemächtigtet, für wohlhabend gehalten wurde, plötzlich bis zum Bettler verarmt und von Haus und Herd vertrieben.«
»Wir hatten für unser Verfahren eine Vollmacht, mein guter Sir,« versetzte Quilp; »wir hatten unsere Vollmacht. Sprechen Sie nicht von vertreiben. Er ging aus eigenem Antrieb. Verschwand in der Nacht, Sir.«
»Gleichviel,« sagte der ledige Herr gereizt. »Er war fort.«
»Ja, er war fort,« entgegnete Quilp mit derselben zum Zorne stachelnden Ruhe. »Kein Zweifel daran, daß er fort war. Es handelte sich also nur noch um die Frage, wohin? – Eine Frage, die bis zur Stunde noch nicht gelöst ist.«
»Was muß ich aber von Euch denken,« erwiederte der ledige Herr, indem er ihn mit strengen Blicken betrachtete, »von Euch, der Ihr – augenscheinlich damals durchaus nicht geneigt, mir Auskunft zu geben, ja sogar alle mögliche Pfiffe und Schliche brauchend, um meinen Nachforschungen auszuweichen – jetzt meinen Tritten nachschleicht.«
»Ich schliche Ihnen nach?«
»Etwa nicht?« entgegnete sein Frager, fast bis zur Wuth aufgebracht, »Wart Ihr nicht vor wenigen Stunden noch sechzig Meilen von hier in der Kapelle, in welcher diese gute Frau hier den Gottesdienst zu besuchen pflegt?«
»So, sie war also auch dort?« versetzte Quilp vollkommen unbewegt. »Nun, da könnte ich wohl, wenn ich grob sein wollte, sagen: wie kann ich wissen, daß Sie nicht meinen Tritten nachschleichen? Ja, ich war in der Kapelle. Aber was weiter? Ich habe in Büchern gelesen, daß Pilgrime zur Kirche zu gehen pflegten, ehe sie ihre Reise antraten, um eine glückliche Rückkehr zu erflehen. Das waren weise Leute! Reisen sind immer sehr gefährlich – besonders auf der Außenseite der Kutschen. Räder fliegen ab, Pferde werden scheu, Kutscher fahren zu schnell und die Kutschen stürzen um. Ich besuche immer die Kirche, ehe ich eine Reise unternehme. Es ist in der That stets das Letzte, was ich bei solchen Anlässen thue.«
Es gehörte kein sonderlich großer Scharfsinn dazu, um zu entdecken, daß in diesen Worten Quilps die größte Lüge lag, obgleich in dem Ausdrucke, welchen er seinem Gesichte, seiner Stimme und seinem ganzen Benehmen gab, die ruhige Festigkeit eines Märtyrers der Wahrheit hervorzuleuchten schien.
»Im Namen alles dessen, was berechnet ist, einen Menschen toll zu machen,« rief der unglückliche ledige Herr, »habt Ihr nicht aus irgend einem selbstsüchtigen Grunde mein Vorhaben zu dem Eurigen gemacht? Wißt Ihr nicht, zu welchem Ende ich hierher gekommen bin? Und wenn Ihr es wißt, könnt Ihr mir keinen Schlüssel an die Hand geben?«
»Sie meinen wohl, ich sei ein Hexenmeister, Sir?« versetzte Quilp mit einem Achselzucken. »Wenn dieß der Fall wäre, so faßte ich mein eigenes Glück in's Auge, um es machen zu können.«
»Ah! ich sehe, wir haben uns nichts mehr zu sagen,« entgegnete der Andere, indem er sich ungeduldig auf ein Sopha warf, »Seid so gut, uns zu verlassen.«
»Stehe zu Diensten,« erwiederte Quilp. »Ganz zu Diensten. Christophs Mutter, meine gute Seele, leben Sie wohl. Angenehme Reise – zurück, Sir. Hem!«
Mit diesen Abschiedsworten und einem fast unbegreiflichen Grinsen auf seinen Zügen, das aus jeder häßlichen Grimasse, deren Menschen oder Affen fähig sind, zusammengesetzt schien, entfernte sich der Zwerg langsam und machte die Thüre hinter sich zu.
»Oho!« sagte er, als er auf seinem eigenen Zimmer anlangte und sich mit in die Seite gestemmten Armen aus einen Stuhl setzte. »Oho! steht es so, mein Freund! In der That!«
In großer Lust kichernd und sich für den Zwang, den er eben erst seinen Zügen auferlegt hatte, schadlos haltend, daß er sie in alle nur erdenkliche Varietäten der Häßlichkeit verzerrte, schaukelte sich Herr Quilp in seinem Stuhle und zu gleicher Zeit sein linkes Bein streichelnd, vertiefte er sich in gewisse Betrachtungen, deren Hauptinhalt wir hier mittheilen müssen.
Erstlich faßte er die Umstände in's Auge, welche ihn hieher zu kommen veranlaßt hatten; sie bestanden nämlich aus folgenden. Er hatte den Abend zuvor in dem Bureau des Herrn Sampson Braß eingesprochen und, in Abwesenheit dieses Gentleman und seiner gelehrten Schwester, Herrn Swiveller getroffen, der gerade in diesem Augenblick mit einem Glas warmen Genever-Grogs den Aktenstaub hinunterschwemmte und seinen Thon (wie man zu sagen pflegt) etwas reichlich anfeuchtete. Da aber der Thon, an sich betrachtet, durch zu vieles Anfeuchten einen etwas schwachen und unsicheren Zusammenhang erhält, gerne, ehe man sich's versieht, zusammenbricht, Eindrücke nur schwach aufbewahrt und keine Kraft oder Stätigkeit seiner Eigenschaften zeigt, so befand sich auch Herrn Swivellers Thon, der eine beträchtliche Menge Flüssigkeit in sich gesaugt hatte, in einem sehr losen und schlüpfrigen Zustande, denn die verschiedenen Ideen, welche ihm eingeprägt waren, verloren sehr schnell ihren bezeichnenden Charakter und gingen gegenseitig in einander über. Es ist in diesen Verhältnissen bei dem menschlichen Thone keine ungewöhnliche Erscheinung, daß er vor allen Dingen seine Klugheit und seinen Scharfsinn ungemein hoch anschlägt, und Herr Swiveller, der sich insbesondere um dieser Eigenschaften willen hoch schätzte, ersah die Gelegenheit, um anzudeuten, daß er sonderbare Entdeckungen hinsichtlich des im Hause wohnenden ledigen Herrn gemacht habe, die er übrigens in seinem eigenen Busen zu bewahren entschlossen sei, und weder Folter noch Schmeichelei solle ihn je veranlassen, dieselben zu enthüllen.
Herr Quilp belobte diesen Entschluß höchlich, und da er zu gleicher Zeit bemüht war, Herrn Swiveller zu gleichen Winken zu stacheln, so hatte er bald heraus, daß der ledige Herr im Gespräche mit Kit gesehen worden, und daß dieß das Geheimniß sei, welches nie an den Tag kommen sollte.
Aus dieser Mittheilung folgerte Herr Quilp augenblicklich, daß der Miethsmann des Herrn Braß dasselbe Individuum sein müsse, welches ihn besucht hatte, und da er durch weitere Nachfragen seine Voraussetzung bestätigt fand, so war es nicht schwer, zu dem Schlusse zu kommen, daß der Zweck und Gegenstand dieses Verkehrs mit Kit zweifelsohne die Wiederauffindung seines alten Klienten und des Kindes sei. Brennend vor Begier, zu erfahren, was vorgehe, entschloß er sich, Kits Mutter als diejenige Person, welche seinen Kunstgriffen am wenigsten gewachsen war, zu umkrallen und sie zu den Mittheilungen zu verlocken, die er wünschte. Er verabschiedete sich daher plötzlich von Herrn Swiveller und eilte nach ihrem Hause. Die gute Frau war ausgegangen, weßhalb er, wie Kit bald nachher gleichfalls that, Nachforschungen anstellte, in deren Folge er von einer Nachbarin nach der Kapelle gewiesen wurde. Er begab sich sofort dahin, um ihr nach dem Schlusse des Gottesdienstes aufzulauern.
Er hatte kaum eine Viertelstunde in der Kapelle gesessen und mit innerem Lachen über den Spaß, daß er überhaupt hier wäre seine Augen fromm gegen die Decke geheftet, als Kit anlangte. Der Zwerg war so wachsam wie ein Luchs, und es bedurfte daher nur eines Blickes, um ihn zu belehren, daß Herr Nubbles senior in Geschäften kam.
Dem Anscheine nach, wie wir gesehen haben, ganz in Andacht vertieft und eine völlige Theilnahmlosigkeit heuchelnd, beobachtete er das Benehmen des Letztern auf's Genaueste, und als sich dieser mit seiner Familie entfernte, schoß er hintendrein. Er verfolgte sie bis zu dem Hause des Notars, wo er von einem der Postillone den Bestimmungsort des Wagens erfuhr, und da er wußte, daß in dem nächsten Augenblicke aus einer benachbarten Straße eine Nachteilpost nach demselben Orte abfahren würde, so eilte er unverzüglich nach dem Postbureau und nahm einen Sitz oben auf der Kutsche. Nachdem die Wagen im Laufe der Nacht zu verschiedenenmalen an einander vorbeigefahren waren, je nachdem sie länger oder kürzer Halt machten, oder ihre Geschwindigkeit wechselte, erreichten sie fast gleichzeitig die Stadt. Quilp ließ die Chaise nicht aus den Augen, mischte sich unter den Volkshaufen, erfuhr die Absicht des ledigen Herrn nebst deren Vereitelung, und nachdem er sich in Besitz alles dessen gesetzt hatte, was ihm zu wissen wesentlich war, eilte er nach dem Wirthshause voraus, hielt die bereits mitgetheilte Besprechung und schloß sich sodann in dem kleinen Zimmer ein, in welchem er hastig alle Vorgänge recapitulirte.
»Steht es so, mein Freund?« wiederholte er, indem er gierig an seinen Nägeln biß. »Ich werde beargwöhnt und bei Seite geworfen, und Kit ist der vertraute Agent, nicht wahr? Ich werde ihn, fürchte ich, bei Seite schaffen müssen. Wenn wir sie diesen Morgen getroffen hätten,« fuhr er nach einer gedankenvollen Pause fort, »so wäre ich auf dem Punkte gewesen, einen ziemlich guten Anspruch nachzuweisen. Ich hätte meinen Nutzen dabei finden können. Wären diese psalmirenden Heuchler, der Junge und seine Mutter, nicht, so könnte ich diesen ungestümen Herrn so gemächlich in mein Netz ziehen, als unsern alten Freund – unsern wechselseitigen Freund, ha, ha! – und die glattwangige, rosige Nell. Im schlimmsten Fall ist es eine goldene Gelegenheit, die nicht versäumt werden darf. Finden wir sie nur erst auf, so werden sich auch Mittel bieten, Ihnen etwas von Ihrem überflüssigen Gelde abzuzapfen, mein Herr, so lange es noch Gefängnisse, Riegel und Schlösser gibt, um Ihren Freund oder Verwandten wohlbehalten aufzubewahren. Ich hasse dieses tugendhafte Volk!« sagte der Zwerg, ein Glas Branntwein hinunterschüttend und mit den Lippen schmatzend; »ha! ich hasse sie sammt und sonders!«
Dies war durchaus keine leere Prahlerei, sondern ein wohlüberlegtes Zugeständniß seiner wahren Gefühle; denn Herr Quilp, der Niemand liebte, war allmälig so weit gekommen. Jedermann, der nahe oder ferne mit seinem zu Grunde gerichteten Klienten in Verbindung stand, zu hassen: – den alten Mann, weil es demselben gelungen war, ihn zu täuschen und seiner Wachsamkeit zu entgehen – Nell, weil sie der Gegenstand von Frau Quilps Mitleid und beständigen Selbstvorwürfen war – den ledigen Herrn wegen seiner unverhüllten Abneigung gegen ihn – auf's Tödtlichste aber Kit und seine Mutter aus den bereits berührten Gründen. Außer jenem allgemeinen Gefühl des Hasses, welches von seiner heißen Gier, sich durch diese veränderte Sachlage zu bereichern, unzertrennlich gewesen wäre, haßte sie also Quilp auch insbesondere.
In dieser liebenswürdigen Stimmung belebte Herr Quilp sich selbst und seinen Groll mit noch mehr Branntwein, und dann wechselte er sein Quartier, indem er sich nach einem obscuren Bierhause zurückzog, wo er, durch dessen Abgeschiedenheit geschützt, alle möglichen Nachforschungen anstellte, die zur Entdeckung des alten Mannes und seiner Enkelin führen konnten. Aber Alles umsonst. Nicht die mindeste Spur, nicht der geringste Aufschluß war zu erzielen. Sie hatten nächtlicherweile die Stadt verlassen; Niemand hatte sie gehen sehen, Niemand war ihnen begegnet, kein Kutscher, Kärrner oder Frachtfuhrmann hatte Reisende gesehen, die ihrer Beschreibung entsprachen; Niemand war mit ihnen zusammengetroffen, oder hatte von ihnen gehört. Als er sich endlich überzeugt hatte, daß zur Zeit alle seine Bemühungen nutzlos wären, so stellte er zwei oder drei Kundschafter auf, denen er für den Fall zuverlässiger Nachrichten große Belohnungen versprach und kehrte des andern Morgens mit der Eilpost nach London zurück.
Herr Quilp freute sich einigermaßen, als er gelegentlich beim Hinaufsteigen auf das Kutschendach bemerkte, daß Kits Mutter allein im Innern des Wagens saß, denn diesem Umstande verdankte er für den Verlauf der Reise vielen Spaß, sofern ihre einsame Lage ihn in den Stand setzte, sie mit vielen außerordentlichen Plackereien zu erschrecken. So hing er sich zum Beispiel mit Lebensgefahr an der Seite der Kutsche herunter und stierte mit seinen großen Glotzaugen, die ihr um so schrecklicher vorkamen, da das Kinn zu oberst stand, in den Wagen hinein, sie stets auf diese Weise von einem Fenster zu dem andern scheuchend. Wenn des Pferdewechsels wegen Halt gemacht wurde, so glitt er rasch hinunter und steckte den Kopf mit einem unheimlichen Schielen durch das Fenster: und durch solche sinnreiche Qualen brachte er es so weit, daß Frau Nubbles steif und fest glaubte, Herr Quilp repräsentiere und verkörpere in seiner Person jene böse Macht, welche so nachdrücklich in Klein-Bethel angegriffen wurde, und die jetzt, aus Veranlassung ihrer Versündigungen in Astley's Theater und in dem Austernladen, juble und tanze.
Kit, dem die Rückkehr seiner Mutter brieflich gemeldet worden war, wartete auf sie bei dem Postbureau, und man denke sich sein Erstaunen, als er über die Schulter des Kutschers – wie irgend einen ihn verfolgenden Dämon, der nur seinen eigenen Augen sichtbar war – Quilps wohlbekannte Gestalt wegschielen sah.
»Wie geht's, Christoph?« krächzte der Zwerg von dem Kutschendache herunter. »Alles in Ordnung, Christoph. Die Mutter innen.«
»Ei, wie kam der her, Mutter?« flüsterte Kit.
»Ich weiß nicht, wie oder warum er kam, mein Lieber,« versetzte Frau Nubbles, als sie unter Beihülfe ihres Sohnes aus dem Wagen stieg; »aber er hat mich diesen ganzen gesegneten Tag in Einem fort aus allen meinen sieben Sinnen hinausgeschreckt.«
»Hat er?«
»Ja, du würdest gar nicht glauben,« entgegnete seine Mutter; »aber sage kein Wort zu ihm, denn ich bin steif und fest überzeugt, daß er kein menschliches Wesen ist. Bst! wende dich nicht nach ihm um, weil er sonst merkt, daß ich von ihm spreche; aber eben jetzt schielt er im vollen Glanze der Kutschenlaterne nach mir her – ganz entsetzlich!«
Kit kehrte sich, trotz der Einschärfung seiner Mutter, rasch nach ihm um. Herr Quilp schaute ganz vergnüglich nach den Sternen und schien in Betrachtung des Himmelsgewölbes vertieft zu sein.
»O, er ist die arglistige Creatur!« rief Madame Nubbles. »Aber komm, und sprich ja um Alles in der Welt kein Wort mit ihm.«
»Pah, Unsinn! Ja, ich will mit ihm sprechen, Mutter. Ich sage, Sir –«
Quilp that, als führe er zusammen, und sah sich lächelnd um.
»Ich frage, Sir, ob Sie meine Mutter in Frieden lassen wollen?« sagte Kit. »Wie können Sie sich unterstehen, eine arme, verlassene Frau, wie sie, zu plagen und sie elend und melancholisch zu machen, als ob sie nicht schon Anlaß genug dazu hätte, ohne Sie? Schämen Sie sich nicht vor sich selbst, Sie kleines Ungeheuer?«
»Ungeheuer?« sprach Quilp mit einem Lächeln zu sich selber. »Der häßlichste Zwerg, den man irgendwo für einen Penny zu sehen kriegt – Ungeheuer – ah!«
»Wenn Sie wieder Ihre Unverschämtheit an ihr auslassen,« nahm Kit wieder auf, indem er die Schachtel auf die Schulter nahm, »so lassen Sie sich's gesagt sein, Herr Quilp, daß es zu schlimmen Auftritten zwischen uns kommt. Sie haben kein Recht, so zu handeln, denn ich weiß, daß wir uns nie in Ihre Angelegenheiten mengen. Es ist nicht das erstemal, daß es vorgekommen ist, und wenn Sie meine Mutter je wieder vexiren und erschrecken, so werden Sie mich zwingen, Sie tüchtig durchzuprügeln, obschon es mir um Ihrer Zwerggestalt willen leid thun würde.«
Quilp antwortete keine Sylbe, trat aber so nahe an Kit heran, daß seine Augen nur zwei oder drei Zolle von Kit's Gesicht abstanden, faßte ihn fest in's Auge, zog sich ein wenig zurück, ohne seinen Blick abzuwenden, trat wieder näher und wieder zurück, und so ein halbdutzendmal, wie ein Kopf in einer Zauberlaterne. Kit pflanzte sich fest auf, als erwarte er einen unmittelbaren Angriff; da er jedoch fand, daß es bei dem Geberdenspiele blieb, so schlug er ihm ein Schnippchen und ging weiter. Seine Mutter zog ihn, so schnell als sie konnte, mit sich fort, sah aber alle Augenblicke, trotz der Neuigkeiten, welche ihr Erstgeborner von dem kleinen Jakob und dem Nesthäkchen erzählte, ängstlich über die Schulter zurück, um Gewißheit einzuziehen, ob ihr Quilp nicht folge.