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Es ist nun an der Zeit, daß wir Kit eine Weile mit seinen Gedanken und Erwartungen allein lassen und die Erlebnisse der kleinen Nell weiter verfolgen. Wir nehmen zu diesem Ende den Faden der Erzählung dort wieder auf, wo wir ihn in einem früheren Kapitel unterbrochen haben.
Auf einer jener Abendwanderungen, wo sie den zwei Schwestern in demüthiger Entfernung folgte, indem sie in ihrer Sympathie mit denselben und in ihrer Ueberzeugung, daß die Prüfungen der beiden Mädchen mit ihrer eigenen Geisteseinsamkeit in einiger Verwandtschaft stehen müßten, einen Trost fühlte, der ihr solche Zeitabschnitte zu Augenblicken entzückten Genusses umschuf, obgleich die sanfte Wonne, welcher sie sich dabei hingab, von jener Art war, welche in Thränen lebt und stirbt – auf einer jener Wanderungen, zu der ruhigen Stunde der Dämmerung, wo der Himmel, die Erde, die Luft, das gekräuselte Wasser und der Ton ferner Glocken Verwandtschaftsrechte mit den Gefühlen des einsamen Mädchens ansprachen und ihr beruhigende Gedanken einhauchten, keineswegs aber solche, wie sie die Kinderwelt mit ihren harmlosen Freuden kennt – auf einem jener Spaziergänge, in welchen sie allein Lust und Erleichterung von ihrer Sorge empfand, war das Licht in der Dunkelheit hingestorben, der Abend zur Nacht geworden, und noch immer weilte das junge Wesen in der Finsterniß. Fühlte sie ja Geselligkeit in der heiteren Stille der Natur, während Zungenlärm und blendendes Kerzenlicht eine wahre Verödung für sie gewesen wären!
Die Schwestern hatten sich bereits nach Hause begeben, und sie war allein, sie erhob ihre Augen zu den glänzenden Sternen, die so mild von den weiten Welten der Luft herunterschauten, und während sie hinsah, fand sie, wie immer neue Sterne vor ihren Blicken auftauchten, fort und fort, bis das ganze unermeßliche Firmament von glänzenden Sphären funkelte, die sich immer höher und höher in dem unermeßlichen Raum erhoben, unendlich an Zahl, wie in ihrem wandellosen und unverbrüchlichen Dasein. Sie beugte sich über den ruhigen Strom, und sah sie in derselben majestätischen Ordnung erglänzen, wie sie damals durch die angeschwellten Wasser der Taube Noah's erschienen sein mochten, als die Spitzen der Berge und das todte Menschengeschlecht um Millionen Klafter weiter unten lagen.
Die Kleine saß schweigend unter einem Baume kaum sich zu athmen getrauend in der Stille der Nacht und der sie begleitenden Wunder. Zeit und Ort waren ganz für Betrachtungen geeignet, und sie dachte in stiller Hoffnung – oder vielleicht besser, in stiller Ergebung – an die Vergangenheit, die Gegenwart und das, was ihr wohl noch bevorstehen mochte. Zwischen sie und den alten Mann hatte sich allmälig eine Scheidewand gelegt, die schwerer, als jeder frühere Kummer, zu tragen war. Jeden Abend und oft auch des Nachts war er abwesend, ohne daß er Jemand bei sich gehabt hätte; und obgleich sie wohl wußte, wohin er ging und welche Gründe ihn fortführten – nur zu wohl, denn sie ersah es aus den beharrlichen Eingriffen in ihre spärlich bestellte Börse und aus seinen hohlen Blicken – so wich er doch jeder Nachfrage aus, beobachtete eine starre Verschlossenheit und scheute sogar ihre Gegenwart.
Sie saß da und erging sich in kummervollen Gedanken über diesen Wechsel, gewissermaßen ihre ganze Umgebung mit denselben in Verbindung bringend, als eine ferne Kirchthurmuhr Neun schlug. Mit dem ersten Glockenschlag trat sie den Heimweg an und wandte sich gedankenvoll der Stadt zu.
Sie war bei einer kleinen hölzernen Brücke angelangt, die über den Strom nach einer über dem Wege liegenden Wiese führt, als sie plötzlich ein röthliches Licht bemerkte, und beim genauern Hinsehen konnte sie unterscheiden, daß es von einem Zigeunerlager herzukommen schien, dessen Mannschaft an einer Ecke unfern des Weges ein Feuer angemacht zu haben schien, um das sie herumsaß oder lag. Da sie zu arm war, um sich vor Zigeunern fürchten zu müssen, so änderte sie ihre Richtung nicht, was auch in der That nicht ohne großen Umweg möglich gewesen wäre, sondern geradeaus gehend, beschleunigte sie ihre Schritte.
Eine Regung schüchterner Neugierde veranlaßte sie, als sie sich dem Orte näherte, nach dem Feuer hinzusehen. Zwischen dem Feuer und ihr stand eine Gestalt, deren Umrisse so scharf gegen das Licht abstachen, daß sie plötzlich Halt machte. Dann nahm sie aber ihren Weg wieder auf, als wäre sie inzwischen mit sich zu Rathe gegangen und zu dem Schlusse gekommen, daß es nicht so sein könne, oder als hätte sie sich überzeugt, daß es nicht die Person sei, für welche sie die Gestalt gehalten hatte. In demselben Augenblick jedoch nahm das Gespräch am Feuer, von was es auch gehandelt haben mochte, wieder seinen Fortgang, und die Töne einer sprechenden Stimme – sie konnte die Worte nicht unterscheiden – klangen ihr so bekannt, wie ihre eigenen.
Sie wandte sich um und blickte zurück. Die Person, welche zuvor gesessen hatte, stand jetzt da, gegen einen Stock vorgebeugt, auf dem ihre Hände ruhten. Die Haltung war ihr nicht weniger bekannt, als vorhin die Stimme. Er war ihr Großvater.
Ihr erster Gedanke war, ihm zu rufen – ihr zweiter, sie möchte doch auch wissen, wer seine Gefährten seien, und welch ein Beweggrund sie zusammengeführt habe. Eine unbestimmte, trübe Ahnung stieg in ihr auf, und einem inneren Antriebe folgend, näherte sie sich der Stelle, ohne jedoch über das offene Feld zu gehen, indem sie blos an dem Gehege herankroch.
Auf diese Weise näherte sie sich dem Feuer auf einige Fuße und machte dann unter einigen jungen Bäumen Halt, von wo aus sie Alles sehen und hören konnte, ohne Gefahr zu laufen, bemerkt zu werden.
Es waren keine Weiber und Kinder da, wie sie es bei Gelegenheit ihrer Wanderschaft bei andern Zigeunerlagern gesehen hatte, sondern nur ein einziger Zigeuner – ein schlanker, athletisch gebauter Mann, der mit gekreuzten Armen in einiger Entfernung an einem Baume lehnte und unter seinen schwarzen Augenwimpern weg bald auf das Feuer, bald auf drei andere anwesende Männer schaute, ihr Gespräch mit achtsamem, aber halbverhehltem Interesse belauschend. Zu diesen letzteren gehörte ihr Großvater. In den anderen erkannte sie die Männer, welche in jener verhängnisvollen Gewitternacht im Wirthshause Karte spielten – den sogenannten Isaak List und seinen mürrischen Gefährten. Eines jener niedrigen, gewölbten Zigeunerzelte, die bei diesem Volke üblich sind, befand sich ganz in der Nähe, war aber leer, oder schien wenigstens leer zu sein.
»Ihr wollt also gehen?« sagte der beleibte Mann, der von dem Boden aus, wo er ganz gemächlich ausgestreckt lag, zu ihrem Großvater aufsah. »Vor einen Augenblicke noch hattet Ihr's ja gewaltig eilig. So geht, wenn Ihr wollt; Ihr seid hoffentlich Euer eigener Herr.«
»Jagt ihn nicht in Harnisch,« entgegnete Isaak List, der auf der anderen Seite des Feuers wie ein Frosch dahockte und sich in einer Weise aufgeschraubt hatte, daß er über Alles wegschielen zu können schien; »er hat's nicht gemeint so böse.«
»Ihr macht mich arm, plündert mich aus und treibt noch obendrein euren Spott mit mir,« sagte der alte Mann, indem er sich von dem Einen an den Andern wandte. »Ich werde noch wahnsinnig unter euch.«
Die gänzliche Schwäche und Unschlüssigkeit des grauhaarigen Greises bildete einen lebhaften Contrast mit den scharfen und verschmitzten Blicken Derjenigen, in deren Händen er sich befand, und schnitten der kleinen Horcherin tief in's Herz. Demungeachtet that sie sich aber Zwang an, um auf Alles, was vorging, achten und auf jeden Blick, auf jedes Wort merken zu können.
»Zum Teufel mit Euch, was wollt Ihr damit sagen?« rief der stämmige Mann, indem er sich ein wenig auf den Ellenbogen aufrichtete. »Euch arm machen? Ihr würdet uns arm machen, wenn Ihr könntet – oder etwa nicht? Aber so machen's diese winselnden, stümperhaften und erbärmlichen Spieler! Wenn einer verliert, so hält er sich für einen Märtyrer; ich habe aber nie gefunden, daß sie, wenn sie gewinnen, einen andern Verlierenden in dem gleichen Lichte betrachten. Und was das Ausplündern anbelangt!« rief der Kerl, indem er seine Stimme erhob – »Gott verdamme mich, was wollt Ihr mit einer so ungentlemanischen Sprache, als der Ausdruck ›Ausplündern‹ ist, sagen – he?«
Der Sprecher legte sich wieder der vollen Länge nach nieder und stampfte ein paarmal kurz und unwillig mit den Füßen, dadurch gleichsam einen weitern Ausdruck seiner unbegränzten Entrüstung an den Tag legend. Es war augenscheinlich, daß er den Eisenfresser und sein Freund den Friedensstifter spielte, unstreitig zu irgend einem besonderen Zwecke – oder vielmehr, es hätte jedem Andern, nur nicht dem schwachen, alten Manne in die Augen fallen müssen, denn es bestand ein offener Blickeswechsel zwischen den Beiden und dem Zigeuner, der dem Spaße seinen Beifall zugrinste, bis man seine weißen Zähne sehen konnte.
Der alte Mann stand eine kleine Weile hülflos unter ihnen und sagte dann zu seinem Gegner:
»Ihr habt eben selbst erst vom Ausplündern gesprochen, wie Ihr wißt. Ihr müßt nicht so ungestüm gegen mich sein. Ihr war't es – oder war't Ihr's nicht?«
»Nichts von Ausplündern in der gegenwärtigen Gesellschaft! Es herrscht Ehrenhaftigkeit unter – unter Gentlemen, Sir,« entgegnete der Andere, der wie es schien, nahe daran gewesen war, seinen Satz etwas ungeschickt mit »Schelmen« zu schließen.
»Behandelt ihn nicht hart, Jowl,« sagte Isaak List. »Es thut ihm leid, wenn er hat Anstoß gegeben. Nun macht weiter mit dem, was Ihr sagen wolltet – macht weiter.«
»Ich bin ein gutmüthiges, weichherziges, altes Lamm,« rief Herr Jowl, »daß ich in meinen Jahren so dasitze und Rath ertheile, während ich doch weiß, daß er nicht angenommen wird, und ich nur noch den Schimpf für meine Mühe habe. Aber so hab' ich's mein Lebenlang gehalten. Die Erfahrung ist nie im Stande gewesen, mein warmes Herz zu erkälten.«
»Ich sage Euch, es thut ihm sehr leid, oder etwa nicht?« stellte Isaak List vor; »und er wünscht, daß Ihr fortfahrt.«
»Wünscht er das wirklich?« versetzte der Andere.
»Ach,« stöhnte der alte Mann, indem er sich niederließ und hin und herrückte. »Fortgemacht, fortgemacht! Es ist umsonst, sich dagegen zu wehren; ich kann's nicht. Macht weiter.«
»Wohlan denn,« entgegnete Jowl, »so will ich fortfahren, wo ich stehen geblieben bin, als Ihr Euch so rasch auf die Beine halft. Wenn Ihr überzeugt seid, daß Euer Glück einen Wendepunkt nehmen muß, wie dieß auch gewiß der Fall, und Ihr findet, daß Ihr nicht Mittel genug habt, fort zu halten (da liegt eigentlich der Hase im Pfeffer, denn Ihr wißt ja selbst, daß Ihr nie Geld genug gehabt, um lange genug auszudauern), so verhelft Euch zu dem, was Euch absichtlich in den Weg gelegt zu sein scheint. Borgt es, sage ich, und wenn Ihr in eine Lage darnach kommt, so zahlt ihr es wieder heim.«
»Natürlich,« fiel Isaak List ein; »wenn die gute Dame, welche das Wachsfigurencabinet hält, Geld hat und es beim Zubettegehen in eine Blechkapsel thut, ohne daß sie verschließt die Thüre, weil sie sich fürchtet vor'm Feuer, so scheint es zu sein ein ganz leichtes Ding – möcht' sagen, eigentlich ein Wink der Vorsehung – wenn ich nicht wär' so religiös erzogen.«
»Ihr seht, Isaak,« sagte sein Freund, indem er immer eifriger wurde und sich näher an den alten Mann machte, zugleich aber auch dem Zigeuner zuwinkte, sich nicht darein zu legen; »Ihr seht, Isaak, Fremde gehn zu jeder Stunde des Tages aus und ein. Nichts würde wahrscheinlicher sein, als daß sich einer dieser Fremden unter dem Bett der guten Frau versteckt oder sich in dem Schrank eingeschlossen hat. Von Argwohn war keine Rede, oder er müßte ohne Zweifel das Ziel weit verfehlen. Ich würde ihm Revanche geben bis auf den letzten Heller, den er gebracht hat, wie groß auch der Betrag sein möchte.«
»Aber könntet Ihr's auch?« entgegnete Isaak List. »Ist Eure Bank auch stark genug?«
»Stark genug?« erwiderte der Andere mit der Miene der Verachtung. »Da, Musje, langt mir einmal die Büchse aus dem Stroh heraus.«
Die letzten Worte galten dem Zigeuner, der auf allen Vieren in das niedrige Zelt kroch und nach vielem Umherstören und Rasseln, mit einer Geldbüchse zurückkehrte, welche Jowl mit einem Schlüssel, den er auf seinem Leibe trug, öffnete.
»Seht Ihr dieß?« fragte er, indem er das Geld in seine Hand leerte und es wie Wassertropfen durch seine Finger in die Büchse zurückfallen ließ. »Hört Ihr es? Kennt Ihr den Klang des Goldes? Da stellt es wieder zurück – und sprecht mir nicht wieder von Banken, Isaak, bis Ihr selbst einmal eine aufthun könnt.«
Isaak List betheuerte, scheinbar mit großer Unterwürfigkeit, daß er nie den Credit eines Herrn von so allbekannter Ehrenhaftigkeit, wie Herr Jowl einer wäre, bezweifelt habe; sein Wunsch, daß die Büchse hervorgebracht werden möchte, sei auch keineswegs in seinen Zweifeln begründet gewesen, da er durchaus keine hege, sondern er habe sich nur an dem Anblick eines solchen Reichthums laben wollen; Mancher möge vielleicht meinen, daß dieß ein sehr unwesentliches und träumerisches Vergnügen sei, für einen Mann aber in seinen Umständen werde es die Quelle außerordentlichen Vergnügens, welches nur durch dasjenige übertroffen werden könnte, wenn er es wohlbehalten in seinen eigenen Taschen hätte. Obgleich Herr List und Herr Jowl nur unter sich sprachen, so war es doch merkwürdig, daß beide kein Auge von dem alten Mann verwandten, der, die Blicke auf das Feuer geheftet, brütend dasaß, aber doch allem, was sie sprachen, eifrig zuhorchte, wie man leicht aus einer, gewissen unwillkürlichen Bewegung seines Kopfes, oder einem jeweiligen krampfhaften Zucken seines Gesichtes entnehmen konnte.
»Mein Rath,« sagte Jowl, indem er sich mit unbekümmerter Miene wieder niederlegte, »ist einfach; und daß ich ihn gegeben habe, ist Thatsache. Ich handle als ein Freund. Warum sollte ich auch einem Manne zu den Mitteln verhelfen, womit er mir vielleicht meine ganze Habe abgewinnt, wenn ich ihn nicht als meinen Freund betrachtete? Ich muß freilich sagen, daß es eine Narrheit ist, so auf das Beste anderer Leute bedacht zu sein; aber 's ist einmal mein Charakter und ich kann's nicht ändern. Macht mir darum keinen Vorwurf, Isaak List.«
»Ich Euch machen einen Vorwurf?« versetzte die angeredete Person. »Nicht um die ganze Welt, Herr Jowl. Ich wollte nur, ich könnt's so weit bringen, zu sein so freigebig wie Ihr. Auch sagt Ihr da richtig, er könnt's ja zurückbezahlen, wenn er gewinnt; und wenn er verliert –«
»Man braucht dieß durchaus nicht in Rechnung zu ziehen,« entgegnete Jowl. »Aber angenommen, es wäre der Fall (obgleich es ganz unwahrscheinlich ist, wenn ich mich anders auf das Umschlagen in Glücksspielen verstehe) – ei, ist's dann nicht besser, anderer Leute Geld zu verlieren, als sein eigenes? Will's doch meinen.«
»Ah!« rief Isaak List ganz entzückt; »welche Lust, zu gewinnen! Welch' ein Genuß, das Geld zu streifen vom Tisch – die schönen, blanken, gelben Vögel – zu fahren damit in die Tasche! Was ist's für eine Köstlichkeit, zu haben endlich den Triumph, und zu denken, daß man nicht hat gekehrt um, sondern daß man ihm ging entgegen auf dem halben Wege! Der – doch Ihr wollt nicht daran, alter Herr?«
»Ich will's thun,« sagte der alte Mann, der jetzt aufgestanden war und etliche Schritte wegeilte, aber eben so rasch wieder umkehrte. »Es soll mein sein – jeder Penny.«
»Wohl, das ist brav,« rief Isaak, indem er aufsprang und ihn auf die Schulter klopfte; »und ich respektire Euch dafür, daß in Euch ist noch geblieben so viel junges Blut. Ha, ha, ha! Joe Jowl bereut's halbwegs, daß er Euch hat gerathen. Jetzt ist das Lachen auf unserer Seite. Ha, ha, ha!«
»Er giebt mir Revanche, vergeßt's nicht,« sagte der alte Mann, indem er mit der runzligten Hand auf Jowl deutete; »erinnert Euch – er setzt Stück auf Stück, bis hinunter auf das letzte in der Büchse, mögen es ihrer viel oder wenige sein. Erinnert Euch dessen!«
»Ich bin Zeuge,« entgegnete Isaak. »Ich will sehen, daß es geht ehrlich her.«
»Ich habe mein Wort gegeben,« sagte Jowl mit erkünsteltem Streben, »und muß es also halten. Wann soll dieser Handel ausgeglichen werden? Ich wünschte, es wäre vorbei. Heute Nacht?«
»Ich muß zuerst das Geld haben,« erwiderte der alte Mann; »und das soll morgen der Fall sein.«
»Warum nicht in dieser Nacht noch?« drängte Jowl.
»Es ist schon spät und ich würde erhitzt und verwirrt sein,« sagte der alte Mann. »Es muß mit aller Gelassenheit geschehen. Nein, morgen Nacht.«
»So sei's denn Morgen,« entgegnete Jowl. »Schafft einen Tropfen Stärkung herbei. Glück dem besten Manne! Eingeschenkt!«
Der Zigeuner brachte drei zinnerne Becher herbei und füllte sie bis an den Rand mit Branntwein. Der alte Mann wandte sich seitwärts um und murmelte etwas vor sich hin, ehe er trank. Der Horcherin klang ihr eigener Name in's Ohr, gepaart mit einem so glühenden Wunsch, daß es ihr däuchte, als hauche er denselben in einer Todesnoth des Gebetes.
»Gott sei uns gnädig!« rief das Kind in seinem Innern, »und helfe uns durch diese Prüfungsstunde! Was soll ich thun, um ihn zu retten?«
Der Rest des Gesprächs wurde mit gedämpfterer Stimme und in gedrängter Fassung geführt, da es sich blos noch um die Ausführung des Planes und um die besten Vorsichtsmaßregeln handelte, den Verdacht abzuwehren. Der alte Mann schüttelte sodann seinen Versuchern die Hände und entfernte sich.
Sie blickten der langsam dahingehenden, gebeugten Gestalt nach, und so oft er den Kopf wandte, um zurückzuschauen, was sehr oft geschah, so winkten sie ihm mit den Händen, oder riefen ihm eine kurze Ermuthigung zu. Erst als er sich allmälig bis zu einem bloßen dunkeln Punkte auf der fernen Landstraße verkleinert hatte, wandten sie sich wieder zu einander und wagten es, laut hinaus zu lachen.
»So!« sagte Jowl, indem er sich die Hände am Feuer wärmte; »das wäre endlich abgethan. Es brauchte mehr Ueberredung, als ich erwartet hatte. Es ist schon drei Wochen, seit wir ihm dieß zum erstenmal in den Kopf setzen. Was meint Ihr wohl, daß er bringen wird?«
»Mag er bringen, was er will, 's wird halbirt zwischen uns,« versetzte Isaak List.
Der Andere winkte mit dem Kopfe.
»Wir müssen rasche Arbeit mit ihm machen,« sagte er, »und dann seine Bekanntschaft kurz abschneiden, sonst könnte Verdacht auf uns fallen. Scharf sein ist hier die Losung.«
List und der Zigeuner stimmten bei. Sobald sich alle drei hinreichend über die Bethörung ihres Opfers belustigt hatten, ließen sie den Gegenstand, als zur Genüge erörtert, fallen, und begannen in einem Kauderwelsch mit einander zu sprechen, von dem Nell nichts verstand. Da jedoch die Unterhaltung sich um Angelegenheiten zu drehen schien, für welche sich das edle Kleeblatt lebhaft interessirte, so hielt die Kleine dieß für die geeignetste Zeit, um unbeachtet zu entkommen, weßhalb sie langsam und mit vorsichtigen Schritten in dem Schatten des Gehäges weiter schlich, oder durch dasselbe und über die ausgetrockneten Gräben sich einen Weg bahnte, bis sie an einer Stelle, die außer dem Gesichtskreise der Gauner lag, in die Straße einbiegen konnte. Dann floh sie, blutend und zerfleischt von den Dornen des Gesträuchs, aber noch zerrissener im Herzen, so schnell sie konnte, nach Hause, und warf sich in einem Zustande halben Wahnsinns auf ihr Lager.
Der erste Gedanke, der in ihrer Seele auftauchte, war Flucht – augenblickliche Flucht! Sie wollte ihn Hinwegschleppen von diesem Orte und lieber auf der Landstraße Hungers sterben, als ihn abermal solchen Versuchungen aussetzen. Dann erinnerte sie sich, daß das Verbrechen erst in der nächsten Nacht begangen werden sollte, weßhalb sie wohl noch Zeit hatte, ihre weiteren Schritte zu bedenken und zu erwägen. Freilich kam aber auch die fürchterlichste Angst über sie, er möchte die Unthat schon in diesem Augenblicke ausführen, und mit Schrecken glaubte sie Entsetzensrufe zu hören, die das Schweigen der Nacht unterbrächen. Fürchterliche Gedanken bedrängten sie, zu was er versucht werden könnte, wenn er auf der That ertappt würde und nur mit einem Weibe zu kämpfen hätte. Sie konnte diese Folter nicht ertragen, sondern stahl sich nach dem Zimmer, wo das Geld aufbewahrt war, öffnete die Thüre und sah hinein.
Gott sei Dank! Er war nicht da und die Frau lag in tiefem Schlafe. Sie kehrte nach ihrem Kämmerlein zurück und versuchte, ob sie nicht ruhen könne. Aber wer hätte schlafen können – schlafen! Wer hätte ruhig liegen bleiben können, wenn solche Schrecken die Seele durchwühlten! Sie wurden mehr und mehr fürchterlich. Halb angekleidet und mit wirren Haaren floh sie an das Bette des alten Mannes, umfaßte seine Hände und weckte ihn aus seinem Schlafe.
»Wer ist da?« schrie er, im Bette auffahrend und die Blicke auf das gespensterbleiche Gesicht des Kindes heftend.
»Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt,« rief das Kind mit einem Nachdrucke, den nur das höchste Entsetzen ihr einflößen konnte – »einen schrecklichen, fürchterlichen Traum. Ich träumte ihn schon früher einmal. Es war mir, als ob grauhaarige Männer, wie Sie, des Nachts in die Zimmer schlichen und die Schläfer ihres Goldes beraubten. Auf, auf!«
Der alte Mann zitterte an jedem Gliede und faltete die Hände wie zum Gebet.
»Nicht zu mir,« sagte das Kind, »nicht zu mir – nein, zum Himmel, daß er uns vor solchen Thaten bewahre. Dieser Traum ist nur zu natürlich. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht hier bleiben, ich kann Sie nicht allein unter dem Dache lassen, wo mich solche Träume beschleichen. Auf! Wir müssen fliehen!«
Er blickte sie an, als ob sie ein Gespenst wäre – sie hätte auch – trotz des Aussehens, das sie noch von der Erde hatte – eines sein können – und zitterte immer heftiger.
»Es ist keine Zeit zu verlieren; ich will keine Minute verlieren!« fuhr das Kind fort. »Auf! Und hinweg mit mir!«
»In der Nacht?« murmelte der alte Mann.
»Ja, in der Nacht,« versetzte das Kind, »Morgen Nacht wird es zu spät sein. Der Traum wird dann wieder da sein. Nichts, als die Flucht, kann uns retten. Auf!«
Der alte Mann, dem der kalte Angstschweiß von der Stirne thauete, stand von seinem Bette auf, beugte sich vor Nell nieder, als wäre sie ein Himmelsbote, gesandt, ihn nach ihrem Belieben zu leiten, und schickte sich an, ihr zu folgen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn fort. Als sie an der Thüre des Zimmers vorbeikamen, das er zu berauben gedacht hatte, schauderte sie und blickte nach seinem Gesichte auf. Wie weiß dieses Gesicht war, und welch' ein Blick, der daraus dem ihrigen begegnete! Sie nahm ihn nach ihrer eigenen Kammer, und ohne seine Hand freizulassen, als scheute sie sich, ihn auch nur auf einen Augenblick zu verlieren, raffte sie ihr kleines Besitzthum zusammen, worauf sie das Körbchen an ihren Arm hing. Der alte Mann nahm sein Felleisen aus ihren Händen und streifte es über seine Schulter – auch den Stab, den sie bei Seite geschafft hatte – und dann führte sie ihn fort.
Ihre zitternden Füße eilten rasch durch die geraden Straßen und durch die schmalen, gekrümmten Vorstädte. Dann müheten sie sich mit eilenden Schritten den steilen Berg hinan, dessen Krone das altersgraue Schloß bildete, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken.
Als sie den verfallenen Wänden näher kamen, ging der Mond eben in seiner milden Glorie auf, und von den ehrwürdigen mit Epheu, Moos und wallendem Gras gesäumten Ruinen blickte Nell auf die schlummernde Stadt hinunter, tief in die Schatten des Thales, auf den fernhin ziehenden Strom mit seinem gewundenen Lichtpfad, und auf die entlegenen Hügel. Bei diesem Anblicke drückte sie die Hand, welche sie noch immer umfaßt hielt, weniger fest, und, in Thränen ausbrechend, warf sie sich dem alten Manne um den Hals.