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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Samuel Weller macht eine Wallfahrt nach Dorking und bekommt seine Stiefmutter zu Gesicht.


Da bis zur Abreise der Pickwickier nach Dingley Dell noch zwei Tage fehlten, setzte sich Mr. Weller, nachdem er zeitig zu Mittag gespeist, im »Georg und Geier« in ein Hinterstübchen, um darüber nachzudenken, wie er diese Zwischenzeit am zweckmäßigsten anwenden könnte. Es war ein außerordentlich schöner Tag, und er hatte das Thema noch keine zehn Minuten lang erwogen, als er plötzlich einen Anfall von kindlicher Liebe und Zärtlichkeit verspürte. Der Gedanke, seinen Vater besuchen und seiner Stiefmutter seine Aufwartung machen zu müssen, stand so gebieterisch vor seiner Seele, daß er ganz erstaunt war, wie er bisher diese Pflicht so gänzlich hatte vergessen können. Um das Versäumnis unverzüglich wiedergutzumachen, ging er geradenwegs zu Mr. Pickwick hinauf und bat ihn um Urlaub zur Ausführung seines lobenswerten Vorhabens.

»Von Herzen gern, Sam, von Herzen gern«, sagte Mr. Pickwick, und seine Augen strahlten vor Freude über diesen Beweis der zärtlichen Gefühle seines Dieners. »Von Herzen gern, Sam.«

Mr. Weller verneigte sich dankbar.

»Ich sehe mit Vergnügen«, sagte Mr. Pickwick, »daß du eine so hohe Auffassung von Kindespflichten hast, Sam.«

»Habe ich immer gehabt, Sir«, erwiderte Mr. Weller. »Sooft ich was von meinem Vater haben wollte, bat ich 'n jedesmal auf die ehrerbietigste und höflichste Weise darum, und wenn ich's nich kriegte, nahm ich's mir selber, aus Furcht, mir nich am Ende zu was Unrechtem verleiten zu lassen, wenn ich es nicht hätte. Ich habe ihm auf diese Weise unmenschlich viel Verdruß erspart, Sir.«

»Nun, da gehen unsre Meinungen ein bißchen auseinander, Sam«, versetzte Mr. Pickwick lächelnd und schüttelte den Kopf.

»Hatte immer 'n zartes Gefühl, Sir, immer die besten Absichten, wie der Schenlmän sagte, als er seine Gattin im Stich ließ, weil se unglücklich mit ihm zu sein schien.«

»Also gut, du kannst gehen, Sam«, sagte Mr. Pickwick.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Mr. Weller. Und nachdem er seine beste Verbeugung gemacht und seine Sonntagskleider angelegt hatte, setzte er sich oben auf die Kutsche von Arundel und fuhr nach Dorking.

 

Der »Marquis von Granby« war zu Mr. Wellers Zeiten das Muster eines Landstraßenwirtshauses der besseren Klasse, gerade groß genug, um bequem, und klein genug, um behaglich zu sein. Gegenüber an der Straße war ein großes Schild auf einem hohen Pfosten befestigt, das den Kopf und die Schultern eines Mannes von apoplektischem Äußern in einem roten Rock, mit violetten Aufschlägen und einem dreieckigen Hut unter einem blauen Streifen als Himmel darstellte. Darüber waren ein paar Fahnen und unter dem untersten Rockknopf des Mannes ein paar Kanonen angebracht als Hinweis auf den Marquis von Granby glorreichen Angedenkens. Am Fenster des Schenkstübchens präsentierte sich eine auserlesene Sammlung von Geranien und eine Reihe dick mit Staub bedeckter Branntweinflaschen. Die offenen Fensterläden waren mit einer Menge goldener Inschriften dekoriert, die gute Betten und vorzügliche Weine verhießen, und die auserlesene Gesellschaft von Bauern und Hausknechten, die an der Stalltür neben den Futtertrögen herumlungerten, war ein hinreichender Beweis für die Vortrefflichkeit des Ales und Brandys, die im Hause verkauft wurden.

Sam Weller stieg ab und blieb vor der Haustür stehen, um mit dem Auge des erfahrenen Reisenden alle diese kleinen Anzeichen eines lebhaften Geschäftsbetriebes zu mustern, und ging dann, mit den Ergebnissen seiner Beobachtungen sichtlich zufrieden, raschen Schrittes hinein.

»Heda«, rief eine gellende weibliche Stimme gerade in dem Augenblick, wo er seinen Kopf zur Tür hineinsteckte, »was wünschen Sie, junger Mann?«

Sam spähte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie gehörte einer ziemlich wohlbeleibten Dame von behäbigem Aussehen, die im Schenkstübchen neben dem Kamin saß und das Feuer unter dem Teekessel anblies. Sie war nicht allein, denn ihr gegenüber saß in einem Stuhl mit hoher Lehne ein Mann in fadenscheinigen schwarzen Kleidern, mit einem Rücken, der beinahe ebenso lang und steif war wie der des Sessels. Der Mann erregte sogleich Sams besondere Aufmerksamkeit.

Er hatte ein langes, schmales, heuchlerisches Gesicht, eine rote Nase und einen stechenden Blick, der an eine Klapperschlange erinnerte und entschieden auf eine schlechte Gesinnung hindeutete. Er trug sehr kurze Hosen und schwarze Baumwollstrümpfe, die, gleich seiner übrigen Bekleidung, sehr abgeschabt aussahen. Seine Blicke hatten etwas Steifes, im Gegensatz zu seiner Halsbinde, deren lange schmale Zipfel auf eine für das Auge höchst beleidigende Weise über die eng zugeknöpfte Weste herabhingen. Ein Paar alte abgetragene Biberhandschuhe, ein breitkrempiger Hut und ein verschossener grüner Regenschirm mit einer Menge hervorstehender Fischbeine als Ersatz für den fehlenden Handgriff am Stock lag auf dem Stuhl daneben, und die Sorgfalt, mit der sie geordnet waren, ließ vermuten, daß der Mann mit der roten Nase, wer er immer auch sein mochte, nicht die Absicht hatte, so bald wieder zu gehen.

Es wäre auch recht unvernünftig von ihm gewesen, denn das Feuer brannte hell und behaglich unter dem Einfluß des Blasebalgs, und der Kessel summte vergnüglich unter dem Einfluß beider. Auf dem Tisch stand ein kleines Teeservice, auf einer Platte vor dem Feuer schmorten einige Butterbrotschnitten, und der Mann mit der roten Nase war eifrig damit beschäftigt, den Vorrat durch Zuhilfenahme einer langen Messinggabel in den genannten Leckerbissen zu verwandeln. Neben ihm stand ein Glas duftenden warmen Ananasgrogs mit einer Zitronenscheibe darin, und sooft der Mann mit der roten Nase eine Brotschnitte vors Auge hielt, um zu untersuchen, ob sie schon knusprig sei, nahm er einen Schluck und lächelte dabei der wohlbeleibten Dame freundlich zu.

Sam war so sehr in Betrachtung dieser reizvollen Szene verloren, daß er die erste Frage der Frau gänzlich überhörte. Erst als sie wiederholt, und zwar jedesmal in immer gellenderem Tone an sein Ohr gedrungen war, kam er zum Bewußtsein der Unschicklichkeit seines Betragens.

»Is der Herr zu Hause?« fragte er daher.

»Nö, is er nich«, versetzte Mrs. Weller, denn die wohlbeleibte Dame war niemand anders als die ehemalige Witwe und Universalerbin des seligen Mr. Clarke. »Nö, is er nich. Ich erwarte ihm auch nich.«

»Is wohl irgendwohin gefahren?« forschte Sam.

»Mag sein; vielleicht auch nich«, erwiderte Mrs. Weller, eine Brotschnitte, die der Mann mit der roten Nase eben abgeschnitten hatte, mit Butter bestreichend. »Weiß es nich; kümmert mich übrigens auch nich. Sprechen Sie 'n Segen, Mr. Stiggins.«

Der Mann mit der roten Nase tat wie gebeten und fiel dann unverzüglich mit wilder Gefräßigkeit über die Brotschnitten her.

Gleich auf den ersten Blick hatte Sam aus dem Äußern des Mannes mit der roten Nase den Schluß gezogen, es müsse der Adjunkt des geistlichen Hirten sein, von dem sein würdiger Vater gesprochen. In dem Augenblick jedoch, wo er ihn essen sah, wichen seine letzten Zweifel, und er begriff, daß er, um einstweilen sein Quartier hier aufschlagen zu können, unverzüglich festen Fuß fassen müsse. Er griff daher über die Halbtür des Schenkstübchens hinüber, riegelte kaltblütig auf und ging hinein.

»Na, Stiefmutter, wie geht's?« sagte er.

»Wahrhaftig, ich glaube, es is 'n Weller«, rief die Dame mit nicht besonders erfreuter Miene.

»Kommt mir auch so vor«, sagte Sam, nicht aus der Fassung zu bringen, »und ich hoffe, dieser ehrwürdige Schenlmän wird mir entschuldigen, wenn ich sage, ich wünschte, ich wäre der Weller, wo Ihnen zur Gattin hat.«

Dieses doppelte Kompliment machte sichtlich Eindruck auf beide, und Sam verfolgte den einmal errungenen Vorteil, indem er seine Stiefmutter küßte.

»Ach, gehen Sie doch«, sagte Mrs. Weller.

»Pfui, junger Mann«, schalt der Gentleman mit der roten Nase.

»Nischts für ungut, Sir«, entschuldigte sich Sam. »Aber Sie haben ganz recht; es ist aber auch etwas Mißliches, wenn Stiefmütter jung und hübsch sind …Nich wahr, Sir?«

»Es ist alles eitel«, sagte Mr. Stiggins.

»Ach ja«, seufzte Mrs. Weller und setzte ihre Haube zurecht.

Sam war der gleichen Meinung, verschloß sie aber in seiner Brust.

Der Vizehirt schien über Sams Ankunft keineswegs erfreut, und als die erste Begeisterung über das Kompliment verflogen war, sah man es auch Mrs. Weller an, daß sie Sams Gegenwart ganz gern entbehrt hätte. Aber da er nun einmal hier war, konnte man ihn nicht gut hinausweisen, und so setzten sich denn alle drei zum Tee.

»Und was macht der Vater?« fragte Sam.

Mrs. Weller hob Hände und Augen empor, als wäre ihr das Thema äußerst schmerzlich.

Mr. Stiggins seufzte.

»Was fehlt denn dem Schenlmän?« fragte Sam teilnehmend.

»Er beklagt den Weg, den Ihr Vater wandelt«, erwiderte Mrs. Weller.

»Was Sie nich sagen!«

»Ja, er hat leider nur zu triftige Gründe dazu«, fuhr Mrs. Weller in ernstem Ton fort.

Mr. Stiggins nahm eine frische Butterschnitte und stöhnte.

»Er ist ein entsetzlich ruchloser Mensch«, sagte Mrs. Weller.

»Ein Gefäß des Zorns«, setzte Mr. Stiggins hinzu, biß ein großes halbkreisförmiges Stück aus der Butterschnitte heraus und seufzte wieder.

Sam verspürte eine heftige Neigung, dem ehrwürdigen Mr. Stiggins begründeten Anlaß zum Seufzen zu geben, bezwang sich aber und fragte nur:

»Was is denn mit dem Alten?«

»Was mit ihm is?« versetzte Mrs. Weller. »Er hat ein verstocktes Herz. Jeden Abend kommt dieser vortreffliche Mann – jaja, Mr. Stiggins, Sie sind ein vortrefflicher Mann – und bleibt vier Stunden lang bei uns, und es macht nicht den geringsten Eindruck auf ihn.«

»Hm, sonderbar«, meinte Sam. »Auf mich würde es 'n starken Eindruck machen, wenn ich an seiner Stelle wäre, das weiß ich.«

»Die Sache ist die, mein junger Freund«, hob Mr. Stiggins feierlich an, »er hat ein verhärtetes Gemüt. Oh, mein junger Freund, wie hätte er sonst den inständigen Bitten von sechzehn unsrer schönsten Schwestern widerstehen können und ihren Ermahnungen, unsrer trefflichen Gesellschaft beizutreten, die die Negerkinder in Westindien mit Flanelljacken und moralischen Taschentüchern versieht, sein Ohr verschlossen?«

»Was is denn das, 'n moralisches Taschentuch?« fragte Sam. »Habe noch nie so 'ne Ware gesehen.«

»Taschentücher, die das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, mein junger Freund«, erklärte Mr. Stiggins. »Es sind auserlesene Erzählungen mit Holzschnitten darauf gedruckt.« Mr. Stiggins machte sich an eine dritte Butterschnitte und nickte beifällig.

»Und er wollte sich von den Damen nich dazu bewegen lassen?« fragte Sam.

»Saß da und rauchte seine Pfeife und sagte, das mit den Negerkindern wäre …Was, sagte er, daß das mit den Negerkindern wäre, Mr. Stiggins?«

»Beutelschneiderei«, erwiderte Mr. Stiggins höchlich entrüstet.

»Sagte, das mit den Negerkindern wäre Beutelschneiderei!« wiederholte Mrs. Weller, und beide seufzten über das gottlose Benehmen Mr. Wellers senior.

Es wäre wohl noch eine Menge andrer Ruchlosigkeiten ähnlicher Art zur Sprache gekommen, hätten sich nicht die Butterschnitten und der Tee ihrem Ende zugeneigt. Da überdies Sam nicht im geringsten Miene machte, sich zu entfernen, erinnerte sich Mr. Stiggins plötzlich, daß er eine höchst dringende Angelegenheit mit dem Hirten zu besprechen habe, und verabschiedete sich.

 

Kaum war das Teegeschirr abgetragen und der Herd aufgewaschen, als die Londoner Postkutsche Mr. Weller senior vor dem Hause absetzte.

»Hallo, Sammy!« rief der Vater.

»Sieh mal an, der alte Obadiah!« begrüßte ihn der Sohn, und sie schüttelten sich herzlich die Hände.

»Das is fein, daß ich dir mal zu sehen kriegen tue, Sammy; bloß, wie du deine Stiefmutter gebändigt hast, das is 'n Geheimnis für mich. Ich wollte bloß, du würdest mir das Rezept aufschreiben.«

»Pst«, machte Sam, »sie ist zu Hause, Alter!«

»Hört uns aber nich«, versetzte Mr. Weller. »Nach dem Tee rauscht sie allemal die Treppen runter und macht unten Stunk. Inzwischen wollen wir uns ruhig einen aufmischen, Sammy.«

Mr. Weller mischte zwei Gläser Brandy mit Wasser, holte ein paar Pfeifen, und dann setzten sich Vater und Sohn einander gegenüber; Sam auf der einen Seite des Kamins in den Sessel mit der hohen Lehne und Mr. Weller senior auf der anderen Seite in einen nicht minder bequemen.

»Jemand hier gewesen, Sammy?« fragte er nach einem langen Stillschweigen.

Sam nickte bedeutsam.

»So 'n rotnasiger Strolch?«

Sam nickte wieder.

»Das is 'n liebenswürdiger Kunde, Sammy«, bemerkte Mr. Weller, heftig rauchend.

»Scheint so«, erwiderte Sam.

»Großes Rechentalent!«

»Wieso?« fragte Sam.

»Pumpt am Montag achtzehn Pence, verlangt am Dienstag 'nen Schilling, um die halbe Krone vollzumachen. Am Mittwoch will er noch 'ne halbe Krone, damit es fünf Schilling ausmacht. So doppelt er weiter, bis er 'ne Fünffundnote hat, ehe man sich's versieht; genauso, wie es im Rechenbuch mit den Hufnägeln ging.«

Sam gab durch Kopfnicken zu verstehen, daß er sich des Problems, auf das sein Vater anspielte, noch erinnere.

»Wolltest also für die Flanelljacken nich unterschreiben?« fragte Sam wieder nach einer Pause, die lediglich dem Rauchen gewidmet gewesen.

»Beileibe nich«, erwiderte Mr. Weller. »Was sollen die jungen Neger mit Flanelljacken. Aber ich will dir mal was sagen, Sammy«, fuhr er fort, dämpfte seine Stimme und beugte sich zu seinem Sohn hinüber, »gegen Zwangsjacken für gewisse Leute hierzulande hätte ich nichts einzuwenden.«

»Is wirklich 'n verrückter Einfall, Taschentücher unter Leute auszuteilen, wo gar nich wissen, wie man sie benutzt«, bemerkte Sam.

»Sie haben immer wieder 'ne neue Verrücktheit im Kopf, Sammy«, versetzte Mr. Weller. »Letzten Sonntag schaukel' ich die Straße lang. Wen sehe ich da an die Kirchentür stehen mit 'nem blauen Suppenteller in der Hand? Genau deine Stiefmutter. Ich glaube wahrhaftig, da waren Münzen für mehrere Sovereigns drin, lauter Halbpencestücke, und als die Leute aus der Kirche kamen, regnete es Pennies, daß man glauben konnte, kein sterblicher Teller, der jemals aus 'ner Töpferwerkstätte kam, könnte diese Hülle und Fülle vertragen. Wofür, meinst du wohl, daß da gesammelt wurde, Sammy?«

»Na, vielleicht wieder für 'n Tee?«

»Keine Spur. Für die Wassersteuer von dem Hirten, Sammy.«

»Die Wassersteuer von dem Hirten?« fragte Sam.

»Klar, er stand damit für drei ganze Quartale in der Kreide – vielleicht, weil er nicht viel Nutzen von so 'n gewöhnliches Gesöff hat. Der kennt 'n anderes, wo wenigstens sechsmal soviel wert ist. Jedenfalls war es so oder so nu mal nich bezahlt, und sie vernagelten ihm das Rohr. Was tut der Hirte? Geht er doch in die Kirche, gibt sich für 'nen verfolgten Heiligen aus und sagt, er will hoffen, daß der, wo ihm das Wasser abgegraben hatte, daß der also in sich gehen sollte und auf den rechten Weg zurückkehren. Aber innerlich denkt er, der Deubel soll den holen. Die Weiber berufen natürlich 'ne Versammlung ein, singen 'nen Psalm, setzen deine Stiefmutter auf den Präsidentenstuhl, legen nächsten Sonntag 'ne Kollekte auf und händigen alles dem Hirten ein. Und wenn der nich genug bekommen hat, um sich für sein Lebtag von der Wassersteuer frei zu machen«, schloß Mr. Weller seinen Vortrag, »denn bin ich 'n Holländer, und du bist auch einer, Sam, und damit basta.« Mr. Weller rauchte stumm einige Minuten und begann dann aufs neue:

»Das schlimmste an diesem Hirten ist, daß er den jungen Weibern den Kopf verdreht. Der Herr segne sie, sie wissen es nich besser. Aber ich sage dir, sie sind Spielbälle, Samuel, sie sind Spielbälle.«

»Vermute ich auch«, sagte Sam.

»Klar wie dicke Tinte«, versetzte Mr. Weller mit ernstem Kopfschütteln. »Und was mich dabei in Fahrt bringt, Samuel: sie vergeuden ihre ganze Zeit und Mühe damit, Kleider für kupferfarbene Leute zu machen, wo so was gar nich brauchen tun, und sie kümmern sich nich um fleischfarbige Christen, wo es nötig haben. Wenn es nach mir ginge, ich würde diese faulen Hirten hinter 'n schweren Schubkarren stellen. Mit dem müßten sie mir Tag für Tag auf einem Brett von höchstens vierzehn Zoll Breite hin und her balancieren. Das würde ihnen schon den Blödsinn austreiben.«

Nachdem Mr. Weller dieses menschenfreundliche Mittel so warm empfohlen und ihm durch verschiedentliches Nicken und Augenverdrehen den gebührenden Nachdruck verliehen, leerte er sein Glas auf einen Zug und klopfte mit der ihm angebornen Würde die Asche aus seiner Pfeife.

Er war damit noch nicht zu Ende, als sich im Gange eine gellende Stimme vernehmen ließ und Mrs. Weller gleich darauf hereinstürmte.

»Na, bist du endlich zurückgekommen?« fragte sie.

»Wie de siehst, mein Schatz«, erwiderte Mr. Weller, sich eine frische Pfeife stopfend.

»Ist Mr. Stiggins nich hier gewesen?«

»Nö, mein Schatz. War nich hier«, erwiderte Mr. Weller und zündete seine Pfeife vermittels der sinnreichen Operation an, die darin besteht, daß man mit der Zange eine rotglühende Kohle dem Feuer entnimmt und an die Höhlung des Pfeifenkopfes hält. »Würde es übrigens mit Fassung tragen, wenn er überhaupt nich mehr kommen würde.«

»Pfui, du ruchloser Mensch«, rief Mrs. Weller aus.

»Ick danke dir, mein Schatz«, erwiderte Mr. Weller.

»Ruhig, Alter, ruhig«, mischte sich Sam ein. »Keine Liebeserklärungen nich vor Fremden. Da kommt gerade Seine Ehrwürden selber.«

Hastig wischte Mrs. Weller die Tränen ab, die sie soeben hervorzupressen begonnen, und Mr. Weller rückte seinen Lehnstuhl mißmutig in die Kaminecke.

Mr. Stiggins war leicht zu bewegen, ein Glas warmen Ananasgrog anzunehmen, ein zweites und ein drittes darauf folgen zu lassen und sich dann mit einem kleinen Abendessen zu erquicken, bevor er sich wieder aufs neue dem Geschäft des Trinkens zuwandte. Er saß neben Mr. Weller, und sooft dieser es unbemerkt von seiner Gattin tun konnte, deutete er seinem Sohne die Regungen, die die Tiefen seines Herzens aufwühlten, dadurch an, daß er seine Faust über dem Haupte des Vizehirten hin und her bewegte, und zwar mit einer Lebendigkeit des Ausdruckes, der seinem Sohne die ungetrübteste Freude bereitete, um so mehr, als Mr. Stiggins, ruhig seinen Ananasgrog schlürfend, nicht im entferntesten ahnte, was hinter ihm vorging.

Die Kosten der Unterhaltung trugen zum größten Teil Mrs. Weller und Ehrwürden Mr. Stiggins, und das Thema, um das es sich hauptsächlich drehte, behandelte die Tugenden des Hirten, die Würdigkeit seiner Herde und die schweren Sünden und Verbrechen aller übrigen Menschen – lauter Gespräche, die Mr. Weller senior gelegentlich durch halbunterdrückte Anspielungen auf einen Gentleman namens Walker und andere naheliegende Kommentare dieser Art unterbrach.

Endlich ergriff Mr. Stiggins unter verschiedenen, ganz unzweideutigen Symptomen, daß er so viel Ananasgrog zu sich genommen, als er nur irgend hatte unterbringen können, seinen Hut, verabschiedete sich, und gleich darauf wurde Sam von seinem Vater schlafen geschickt. Der würdige alte Herr schüttelte seinem Sohn mit Wärme die Hand und schien geneigt, einige Bemerkungen an ihn zu richten, aber als er sah, daß Mrs. Weller in der Nähe war, gab er seine Absicht auf und wünschte ihm nur kurz eine gute Nacht.

Sam war am folgenden Tage beizeiten auf, und nachdem er in aller Eile sein Frühstück eingenommen, schickte er sich zur Rückkehr nach London an. Er hatte kaum den Fuß aus dem Hause gesetzt, als sein Vater vor ihm stand.

»Du gehst, Sammy?« fragte Mr. Weller.

»Bin grade dabei.«

»Ich wünschte, du könntest diesen Stiggins auch einpacken und mitnehmen, Sammy.«

»Ich tue mir für dir schämen«, sagte Sam in vorwurfsvollem Ton. »Wie kannst du es dulden, daß er seine rote Nase in den ›Marquis von Granby‹ reinsteckt?«

Mr. Weller senior heftete einen ernsten Blick auf seinen Sohn und erwiderte:

»Weil ich 'n verheirateter Mann bin, Samuel; weil ich 'n verheirateter Mann bin. Wenn du mal 'n verheirateter Mann bist, Samuel, denn wirst du auch 'ne Menge Dinge verstehen lernen tun, wo du jetzt nich verstehen tust. Allerdings, ob es die Mühe lohnt, so viel durchzumachen, um so wenig zu lernen – wie der Waisenknabe sagte, als er mit dem Alphabet zu Ende war –, das is Geschmacksache. Ich glaube, es lohnt nich.«

»Hm«, meinte Sam, »mach's gut!«

»Noch 'n Augenblick, Sammy.«

»Ich möchte bloß noch sagen«, sprach Sam und blieb stehen, »wenn ich der Eigentümer vom ›Marquis von Granby‹ wäre und dieser Stiggins würde angekrochen kommen und meine gerösteten Butterbrote in meinem Schenkstübchen fressen, ich würde dem s…«

»Was?« unterbrach ihn Mr. Weller in heftiger Erregung. »Was würdest du ihm?«

»… seinen Grog vergiften.«

»Wirklich?« rief Mr. Weller und schüttelte seinem Sohn feurig die Hand. »Würdest du das wirklich tun, Sammy?«

»Jawohl. Würde ich«, sagte Sam. »Vorerst würde ich ihn mal in die Wasserkufe stecken und den Deckel zuschlagen, und wenn ich dann merken würde, daß er gegen Güte unempfänglich wäre, denn würde ich ihn mit anderen Mitteln bekehren.«

Mr. Weller senior warf einen Blick hoher, unaussprechlicher Bewunderung auf seinen Sohn, drückte ihm nochmals die Hand und ging langsam ins Haus, von einer Flut von Gedanken bestürmt, die der Rat seines Erstgeborenen in ihm erweckt hatte.

Sam sah ihm nach und schlug dann, ebenfalls in tiefes Sinnen versunken, den Weg nach London ein.


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