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Einundzwanzigstes Kapitel

In dem der alte Mann sich über sein Lieblingsthema verbreitet und eine Geschichte von einem merkwürdigen Klienten erzählt.


»Hallo, wer hat da etwas von den Inns gesagt?« fragte der alte Mann.

»Ich, mein Herr«, entgegnete Mr. Pickwick. »Ich meinte nur, was für sonderbare alte Plätze das seien.«

» Sie?« sagte der Alte verächtlich. »Was wissen Sie von der Zeit, wo sich junge Leute dort in diesen einsamen Räumen einschlossen und lasen und nichts als lasen, Stunde für Stunde und Nacht für Nacht, bis ihr Verstand unter dem Druck ihrer mitternächtlichen Studien fast erlag, bis ihre Geisteskräfte erschöpft waren und ihnen das Morgenlicht keine Erquickung, keine Gesundheit mehr brachte und sie unter der unnatürlichen Anstrengung, die trockenen alten Bücher zu bewältigen, zusammenbrachen? Und um davon zu reden, was dann folgte. Was wissen Sie von dem allmählichen Dahinsiechen unter den verzehrenden Fiebern der Schwindsucht – von den Folgen des flotten Lebens und der Ausschweifung, denen so viele in denselben Räumen zum Opfer gefallen sind? Wie viele Unglückliche haben vergebens um Gnade gefleht, was glauben Sie wohl, und sind mit gebrochnem Herzen aus den Kanzleien der Gerichtsanwälte hinausgewankt, um eine Ruhestätte in der Themse oder eine Zuflucht im Gefängnis zu finden? Das sind keine gewöhnlichen Häuser! Da ist nicht ein Brett in dem alten Getäfel, das, wenn es die Gabe der Sprache und der Erinnerung hätte, nicht aus der Wand hervorspringen und seine Schreckensgeschichte, den Roman eines Lebens, Sir – den Roman eines Lebens –, erzählen könnte! So alltäglich sie auch jetzt aussehen mögen, so sage ich Ihnen, es sind seltsame alte Gebäude, und ich möchte lieber so manche grauenhafte Sage als ihre alten Zimmerreihen wahre Geschichten erzählen hören.«

Es lag etwas so Sonderbares in der plötzlichen Aufregung und der Redeweise des Alten, daß Mr. Pickwick kein Wort der Erwiderung fand. Der Alte beruhigte sich, und sein Gesicht nahm den lauernden Seitenblick wieder an, der während seiner Aufregung verschwunden war.

»Und in einem andern Lichte – dem alltäglichen und am wenigsten romantischen – gesehen, welch kostbare Stätten für ein langsames Martyrium sie sind! Denken Sie sich die vielen Bedürftigen, die ihr Alles zugesetzt, sich an den Bettelstab gebracht und ihre letzten Hilfsquellen erschöpft haben, um sich einen Erwerb zu verschaffen, der ihnen dann nicht einen Bissen Brot abwarf. Erwartung – Hoffnung – Verzweiflung – Furcht – Elend – Armut – Vernichtung aller Aussichten – und das Ende der Laufbahn? Vielleicht der Selbstmord oder, noch schlimmer, das grauenhafte Dasein eines zerlumpten Trunkenboldes. Habe ich nicht recht, he?«

Der alte Mann rieb sich die Hände und spähte mit lauerndem Blick verzückt umher, als ob er sich freue, einen neuen Gesichtspunkt gefunden zu haben, von dem aus er seine Lieblingsbetrachtungen anstellen könne.

Mr. Pickwick war ganz Auge und Ohr, und die übrigen Mitglieder der Gesellschaft lächelten stumm vor sich hin.

»Sprecht mir nicht von euren deutschen Universitäten«, fuhr der kleine alte Mann fort. »Pah, pah! Wir haben hierzulande Romantik genug; man braucht keine halbe Meile weit zu gehen. Die Leute denken nur nicht daran.«

»Ich wenigstens habe noch nie an die Romantik dieses Ortes gedacht«, gab Mr. Pickwick lächelnd zu.

»Das glaube ich gern«, erwiderte der Alte. »Auch einer meiner Freunde pflegte immer zu fragen: ›Was ist denn Besonderes an diesen Zimmern?‹ – ›Seltsam alte Räume sind's‹, antwortete ich. – ›Lächerlich‹, meinte er. – ›Sie sind einsam‹, bemerkte ich. – ›Aber ganz und gar nicht‹, erwiderte er. – Eines Morgens wurde er vom Schlage gerührt, als er eben seine Tür öffnen wollte. Er fiel mit dem Kopf in seinen Briefkasten, und dort lag er anderthalb Jahre lang. Alle glaubten, er wäre aufs Land gezogen.«

»Und wie fand man ihn endlich?« fragte Mr. Pickwick.

»Das Gericht beschloß, die Tür aufbrechen zu lassen, da er seit zwei Jahren keine Miete bezahlt hatte. Es geschah. Das Schloß wurde erbrochen, und dem Hausmeister, der die Tür öffnete, fiel ein staubiges Gerippe in einem blauen Rock, kurzen schwarzen Beinkleidern und seidenen Strümpfen nach vorn in die Arme. Seltsam das, recht seltsam, nicht wahr?« Und der kleine Alte neigte seinen Kopf noch mehr auf die Seite und rieb sich die Hände mit unaussprechlichem Behagen.

»Ich kenne noch einen andern Fall, der sich in Cliffords Inn zutrug. Der Bewohner einer Mansarde – ein arger Taugenichts – schloß sich eines Tages in einen Verschlag in seiner Schlafkammer ein und nahm eine Dosis Arsenik. Der Hausmeister dachte, er sei mit dem Zins durchgegangen, öffnete und nahm ein Verzeichnis seiner Habseligkeiten auf. Ein andrer Mieter kam, nahm die Zimmer, möblierte sie und zog ein. Aber sonderbar, er konnte nicht schlafen. Es war ihm überall unruhig und beklommen zumute. Seltsam, dachte er, ich will das andre Zimmer zu meinem Schlafraum und dies zu meiner Wohnstube machen. Gesagt, getan. Er schlief in der Nacht sehr gut, aber bald fand er, daß er des Abends nicht lesen konnte. Es wurde ihm ängstlich und unbehaglich, er putzte unaufhörlich seine Kerze und starrte im Zimmer umher. – Ich weiß nicht, was das ist, sagte er sich, als er eines Abends spät nach Hause kam und, den Rücken gegen die Wand gekehrt, um sich nicht einbilden zu können, daß jemand hinter ihm stehe, ein Glas kalten Grog trank. Ich weiß nicht, was das ist – und in demselben Augenblick fiel sein Blick auf den Verschlag, der bisher immer verschlossen gewesen war, und ein Schauder überlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Ich habe dieses seltsame Gefühl schon früher gehabt, sagte er sich, es muß mit diesem Verschlag etwas nicht richtig sein. Er nahm all seinen Mut zusammen, zerschmetterte das Schloß mit dem Schüreisen, öffnete die Tür+…, entsetzlich, da stand aufrecht und kerzengerade in der Ecke der letzte Mieter, ein Fläschchen fest in der Hand und das Gesicht …Na!«

Jack Bamber schwieg und sah die aufmerksamen Gesichter seiner erstaunten Zuhörer mit einem Lächeln grimmiger Freude an.

»Was für seltsame Dinge erzählen Sie uns da?« sagte Mr. Pickwick und studierte aufmerksam durch seine Brillengläser die markanten Züge des alten Mannes.

»Seltsam? Unsinn! Sie halten sie nur für seltsam, weil sie Ihnen neu sind. Sie sind spaßhaft, aber nicht außergewöhnlich.«

»Spaßhaft!?« rief Mr. Pickwick unwillkürlich.

»Ja, spaßhaft. Oder sind sie's etwa nicht?« versetzte der kleine Alte mit einem satanischen Seitenblick und fuhr, ohne eine Antwort zu erwarten, fort. »Ich kannte noch einen andern – warten Sie mal, ja, es mögen jetzt vierzig Jahre sein –, der mietete eine alte, dumpfe Reihe von Zimmern in einem der ältesten Inns, die seit Jahren verschlossen und leer gestanden hatten. Man erzählte sich eine Menge Altweibergeschichten über die Wohnung, und in der Tat gehörte sie auch keineswegs zu den freundlichsten. Aber er war arm, und die Zimmer kosteten wenig – Grund genug für ihn, sie zu mieten, wenn sie auch noch zehnmal greulicher gewesen wären. Er mußte einige alte wurmstichige Hausgeräte mit in Kauf nehmen, darunter einen riesigen Kloben von Aktenschrank mit großen Glastüren und einem grünen Vorhang dahinter; ein ziemlich unnützes Ding für ihn, da er weder Dokumente noch Bücher besaß, um sie hineinzutun, und was seine Garderobe anbelangte, sie so ziemlich vollständig am Leibe trug, ohne sich sonderlich dadurch beschwert zu fühlen. Er hatte seine ganze Habe herbeischaffen lassen – es war nicht ganz ein Karren voll – und sie im Zimmer auf eine Art verteilt, daß seine vier Stühle womöglich den Eindruck von einem Dutzend machen sollten. Eines Abends saß er vor dem Fenster und trank das erste Glas von zwei Gallonen Whisky, die er einstweilen auf Kredit genommen hatte, und stellte dabei Betrachtungen an, ob er sie jemals werde bezahlen können, und wenn, nach wieviel Jahren bestenfalls – als seine Augen auf die Glastüren des Aktenschranks fielen. ›Ja‹, seufzte er, ›wenn ich nicht genötigt gewesen wäre, dieses häßliche Ding da nach der Schätzung des alten Maklers anzunehmen, so hätte ich mir für das Geld etwas Ordentliches anschaffen können. Ich will dir was sagen, alter Bursche‹, sagte er laut zu dem Schrank, bloß weil er sonst niemand hatte, mit dem er sprechen konnte, ›wie wär's, wenn wir mit deinem morschen Gerippe vielleicht einheizen würden?‹

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als aus dem Innern des Kastens ein Laut hervorkam, der einem schwachen Ächzen glich. Es erschreckte ihn anfangs; aber nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, meinte er, es müßte von irgendeinem jungen Manne im anstoßenden Zimmer herrühren, der vielleicht beim Mittagessen seinen Magen überladen hatte, setzte seinen Fuß auf das Kamingitter und nahm das Schüreisen zur Hand, um die Kohlen aufzurühren. In diesem Augenblick wiederholte sich der Laut. Eine von den Glastüren öffnete sich ganz langsam, und eine blasse, abgemagerte Gestalt in einem schmutzigen, abgetragenen Anzüge wurde sichtbar, aufrecht im Schranke stehend. Sie war groß und hager, und das Gesicht drückte Gram und Betrübnis aus, aber es lag etwas in der Farbe und dem fleischlosen, unirdischen Aussehen der ganzen Erscheinung, was keinem Bewohner dieser Welt angehören konnte. ›Wer sind Sie?‹ fragte der neue Mieter, totenblaß vor Entsetzen, hob das Schüreisen auf und zielte nach dem Gesicht der Gestalt. ›Wer sind Sie?‹ – ›Wirf das Eisen nicht nach mir‹, erwiderte das Phantom. ›Wenn du auch noch so richtig zieltest, es würde durch mich hindurch in die Wand hinter mir fahren. Ich bin ein Geist.‹ – ›Und was wollen Sie denn hier?‹ stammelte der Mieter. – ›In diesem Zimmer‹, antwortete die Erscheinung, ›wurde mein irdisches Glück vernichtet und ich und meine Kinder zu Bettlern gemacht. In diesem Schranke wuchsen die Akten eines langen, langen Prozesses mit den Jahren zu hohen Stößen. In diesem Zimmer teilten, als ich vor Gram über meine fehlgeschlagenen Hoffnungen gestorben war, zwei listige Harpyen das Vermögen unter sich, um das ich während eines ganzen elenden Lebens gekämpft und gestritten hatte und von dem zuletzt nicht ein Penny für meine unglücklichen Nachkommen übrigblieb. Ich schreckte sie von diesem Platze weg und besuche nun seit jenem Tage jede Nacht – denn dies ist die einzige Zeit, in der es mir gestattet ist, auf die Erde zurückzukehren – den Schauplatz meines langen Elends. Dieses Zimmer gehört mir; überlaß es mir.‹ – ›Wenn Sie sich's durchaus in den Kopf gesetzt haben, hier umzugehen‹, erwiderte der Mieter, der während dieser prosaischen Erzählung des Geistes Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln, ›so will ich mit dem größten Vergnügen Ihren Wünschen entsprechen. Würden Sie aber vielleicht so freundlich sein, mir eine Frage zu gestatten?‹ – ›Sprich‹, sagte die Erscheinung ernst. – ›Ich beziehe meine Bemerkung nicht persönlich auf Sie‹, begann der Mieter, ›weil sie auf alle Geister, von denen ich je gehört habe, gleich anwendbar ist; aber es kommt mir wirklich etwas sonderbar vor, daß sie immer gerade auf diejenigen Plätze zurückkehren, wo sie am unglücklichsten gewesen sind, wo Ihnen doch wahrscheinlich die schönsten Plätze der Erde leichter als uns zugänglich sind.‹ – ›Wahrhaftig, du hast ganz recht, an das habe ich noch gar nicht gedacht‹, versetzte der Geist. – ›Sie sehen‹, fuhr der Mieter fort, ›das ist ein sehr unwohnliches Zimmer. Dem äußeren Anschein nach zu urteilen, möchte ich fast behaupten, dieser Schrank ist nicht ganz frei von Wanzen, und ich glaube wirklich, Sie könnten weit wohnlichere Aufenthaltsorte finden. Vom Londoner Klima gar nicht zu sprechen, das bekanntlich durchaus nicht das angenehmste ist.‹ – ›Sie haben vollkommen recht, Sir‹, sagte das Phantom höflich. ›Das ist mir bis jetzt noch nicht eingefallen, aber ich will sogleich eine Luftveränderung vornehmen‹, und wirklich begann seine Gestalt, während es noch sprach, zu verschwinden, und bald waren seine Beine unsichtbar geworden. – ›Und wenn Sie‹, rief ihm der Mieter nach, ›wenn Sie die Güte haben wollen, auch die übrigen Damen und Herren, die in alten leeren Häusern spuken, darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich anderswo weit besser befinden dürften, so würden Sie der menschlichen Gesellschaft einen sehr großen Dienst erweisen.‹ – ›Das will ich tun‹, erwiderte der Geist. ›Wir müssen wirklich ganz dumme Tröpfe sein, daß uns das nicht schon früher eingefallen ist; ich begreife gar nicht, wie man nur so borniert sein kann.‹ Mit diesen Worten verschwand er. Und was noch merkwürdiger ist«, fügte der Alte mit einem schlauen Blick auf die Gesellschaft hinzu, »er kam nicht wieder.«

»Gar nicht übel, wenn's wahr ist«, bemerkte der Mann mit den Mosaikknöpfen und zündete sich eine frische Zigarre an.

» Wenn?« rief der Alte mit tiefster Verachtung. »Ich glaube«, wandte er sich an Lowten, »er wäre imstande, zu behaupten, daß auch meine Geschichte von dem seltsamen Klienten, den wir hatten, als ich noch Schreiber war, erfunden sei. Es sollte mich gar nicht wundern.«

»Ich erlaube mir gewiß nicht, etwas darüber zu sagen, denn ich habe die Geschichte noch nie gehört«, bemerkte der Besitzer der Mosaikverzierungen.

»Erzählen Sie sie doch, Sir«, drängte Mr. Pickwick;

»O ja, tun Sie es«, bat Lowten. »Ich bin der einzige hier, der sie kennt, und habe sie auch schon fast ganz vergessen.«

Der Alte sah sich rings an der Tafel um, und der lauernde Ausdruck in seinem Blick war noch viel stärker als vorher. Es war, als erfülle ihn die Spannung, die auf allen Gesichtern lag, mit einem wilden Entzücken. Dann begann er, strich sich mit der Hand das Kinn und blickte zur Decke empor wie, um die Begebenheiten in sein Gedächtnis zurückzurufen:

»Es kommt wenig darauf an, wo oder auf welche Weise ich zur Kenntnis folgender kurzer Geschichte gelangte. Wenn ich sie übrigens in der Reihenfolge erzählen wollte, in der ich sie erfuhr, so müßte ich in der Mitte beginnen und über den Schluß auf den Anfang zurückgehen. Es genügt, wenn ich bemerke, daß sie sich zum Teil vor meinen eignen Augen zugetragen hat und noch mehrere Personen am Leben sind, die sich ihrer noch gut zu erinnern wissen.

In der Borough High-Street bei der Saint-Georges-Kirche, und auch auf derselben Seite, steht, wie Sie wohl alle wissen, das kleinste unsrer Schuldgefängnisse, Marshalsea. Wenn es auch seit neuerer Zeit bei weitem nicht mehr der schmutzige Winkel ist, der es früher war, so hat es doch auch in seinem jetzigen verbesserten Zustand wenig Verführerisches für den Verschwender und nicht besonders Tröstliches für den unbesonnenen Schuldenmacher. Der zum Tod verurteilte Verbrecher in Newgate hat vielleicht einen geräumigeren Hofraum, um sich Bewegung zu machen und frische Luft zu schöpfen als der zahlungsunfähige Schuldner im Marshalsea-Gefängnis.

Es kann Einbildung von mir sein, oder vielleicht vermag ich den Ort nicht von den alten Erinnerungen zu trennen, die sich daran knüpfen, aber dieser Teil von London ist mir in der Seele zuwider. Die Straße ist breit, die Läden sind geräumig, das Geräusch der vorüberrasselnden Fuhrwerke, die Fußtritte eines ununterbrochenen Menschenstromes, kurz, das ganze laute geschäftige Treiben des Verkehrs ertönt in ihr vom Morgen bis Mitternacht, aber die Nebenstraßen sind schlecht und eng und erwecken die Vorstellung von Armut und Ausschweifung; Jammer und Elend sind in dem engen Gefängnis zusammengesperrt, und die ganze Umgebung macht, wenigstens auf mich, einen finstern, abschreckenden Eindruck.

So manche Augen, die sich seitdem längst für immer geschlossen haben, sind achtlos über diese Szenerie geschweift, wenn sich ihnen zum ersten Male das Tor des alten Marshalsea-Gefängnisses geöffnet hat, denn die Verzweiflung kommt selten mit dem ersten schweren Schicksalsschlag. Der Mensch baut gern auf unerprobte Freunde, erinnert sich der Liebesdienste, die sie ihm so freigebig anboten in Zeiten des Wohlergehens. Er hat Hoffnung – die Hoffnung der glücklichen Unerfahrenheit –, und wenn er auch vom ersten Schlage niedergebeugt wird, so keimt sie doch in seiner Brust und blüht für eine kurze Zeit, bis sie unter dem zerstörenden Einfluß der Enttäuschung und Verlassenheit dahinschwindet. Bald blickten dieselben Augen tief eingesunken und glanzlos aus Gesichtern, von Hunger abgezehrt und von der Haft welk geworden, in Tagen, wo es nicht bloß Redensart war, wenn man sagt, die Schuldner vermodern im Gefängnis ohne Hoffnung auf Erlösung und ohne Aussicht auf Freiheit! Solche Abscheulichkeiten kommen in ihrer vollen Härte heute wohl nicht mehr vor, aber es spielt sich immer noch genug ab, daß es einem das Herz zerreißen könnte.

Es sind jetzt zwanzig Jahre her, daß eine Mutter mit ihrem Kind, so gewiß, wie der Morgen kam, sich Tag für Tag an dem Gefängnistor zeigte. Oft kamen die beiden nach einer schlaflosen Nacht voll Jammer und Qual eine ganze Stunde zu früh, und dann ging die junge Mutter traurig wieder weg, führte das Kind nach der alten Brücke und nahm es auf den Arm, um ihm das im Licht der Morgensonne erglühende Wasser zu zeigen und es durch den Anblick des auf dem Strome erwachenden, munteren Lebens für eine kurze Spanne Zeit zu zerstreuen. Doch bald setzte sie immer wieder das Kleine nieder, verbarg das Gesicht in ihrem Tuch und ließ den Tränen freien Lauf, denn kein Ausdruck von Interesse oder Freude leuchtete aus dem abgemagerten Gesichtchen. Erinnerungen hatte das Kind nicht viele, aber sie waren sämtlich von derselben Art – alle mit der Armut und dem Elend seiner Eltern verknüpft. Stundenweise saß es auf den Knien seiner Mutter und beobachtete mit kindlichem Mitgefühl die Tränen, die sich über ihre Wangen stahlen, schlich dann still in einen dunklen Winkel und schluchzte sich in Schlaf. Die rauhe Wirklichkeit des Lebens mit so vielen von seinen traurigsten Entbehrungen – Hunger und Durst, Kälte und Mangel – hatte es seit dem ersten Aufdämmern seiner Vernunft erfahren. Und wenn es auch den Jahren nach ein kleines Kind war, so fehlte ihm doch der leichte Sinn und das fröhliche Lachen.

Vater und Mutter sahen das alles gar wohl, aber sie wagten dem keine Worte zu geben, was sie tief innerlich befürchteten. Der gesunde, starke Mann, der sonst beinahe jede Anstrengung hätte ertragen können, schwand unter dem lastenden Druck der Haft und der ungesunden Luft eines vollgepfropften Gefängnisses sichtlich dahin. Die zarte Frau wankte unter dem Zusammenwirken körperlicher und geistiger Leiden dem Grabe entgegen, und an des Kindes Herzen nagte der Tod.

Der Winter kam, und mit ihm die kalte, regnerische Witterung, die so viele Wochen lang anhält. Das unglückliche Weib hatte sich in ein armseliges Zimmer in der Nähe des Ortes, wo ihr Gatte gefangen saß, eingemietet; und wenn auch diese Veränderung eine Folge ihrer unaufhaltsam wachsenden Armut war, so fühlte sie sich doch jetzt glücklicher, denn sie war ihm näher. Zwei Monate lang warteten sie und ihr Kind regelmäßig alle Morgen auf das Öffnen des Tores. Eines Tages erschien sie zum ersten Male nicht. Am andern Morgen kam sie, allein. Das Kind war tot.

Die da mit kalten Herzen sagen, wenn der Tod den Armen der Seinigen beraubt, es sei eine glückliche Erlösung für die Hingeschiedenen und eine segensreiche Erleichterung für die Hinterbliebenen, sie wissen wenig von dem Schmerz um solche Verluste. Ein stiller Blick der Liebe und Anhänglichkeit, wenn sich alle andern Augen kalt abwenden – das Bewußtsein, noch die Liebe wenigstens eines menschlichen Wesens zu besitzen, ist ein Halt, eine Stütze, ein Trost in der tiefsten Betrübnis, die kein Reichtum erkaufen, keine irdische Macht ersetzen kann.

Stundenlang war das Kind zu seiner Eltern Füßen gesessen, hatte die kleinen Händchen geduldig gefaltet und mit seinem abgezehrten, bleichen Gesicht zu ihnen aufgeschaut. Von Tag zu Tag hatten sie es dahinwelken sehen, und wenn sein kurzes Dasein auch ein freudenloses gewesen und es jetzt den Frieden und die Ruhe gefunden, die ihm, so jung es noch war, in dieser Welt versagt gewesen, so war es doch ihr Kind, und der Verlust schnitt ihnen tief ins Herz.

Wer das veränderte Gesicht der Mutter sah, der wußte deutlich, daß der Tod ihrem Jammer und ihrem Elend bald ein Ende machen mußte. Die Mitgefangenen ihres Gatten wollten sich ihm in seinem Gram und Leid nicht aufdrängen und überließen ihm freiwillig das kleine Zimmer, das er bisher mit zwei von ihnen geteilt hatte. Seine Gattin bewohnte es mit ihm, und ohne Schmerz, aber auch ohne Hoffnung welkte sie langsam dem Grabe zu.

Eines Abends war sie in seinen Armen ohnmächtig geworden. Er hatte sie ans offene Fenster getragen, um sie durch frischere Luft wieder zu sich zu bringen, und das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Die Veränderung in ihren Zügen ergriff ihn so sehr, daß er wie ein hilfloses Kind unter ihrer leichten Last wankte.

›Setze mich nieder, Georg‹, bat sie mit matter Stimme. Er setzte sich neben sie, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.

›Es ist so hart, Georg, dich zu verlassen‹, flüsterte sie, ›aber es ist der Wille Gottes, und du mußt dich um meinetwillen darein ergeben. Wie danke ich ihm, daß er unser Kind zu sich genommen hat. Es ist jetzt glücklicher. Was würde es angefangen haben ohne seine Mutter?‹

›Du darfst nicht sterben, Marie, du darfst nicht sterben‹, stöhnte der Unglückliche. Er ging hastig auf und nieder und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf, dann setzte er sich wieder neben sie, nahm sie in seine Arme und sagte ruhiger: ›Ich bitte dich, laß den Mut nicht sinken, mein Alles. Du wirst dich wieder erholen.‹

›Nein, Georg, nein‹, flüsterte die Sterbende. ›Laß mich begraben sein neben meinem armen Kind. Versprich mir, wenn du je diesen traurigen Ort verlassen und reich werden wirst, uns in einem stillen Friedhof, weit, weit von hier – draußen, auf dem grünen Lande, bestatten zu lassen, wo wir in Frieden ruhen können. Willst du mir das versprechen, lieber Georg?‹

›Jaja‹, sagte der Unglückliche und warf sich leidenschaftlich vor ihr auf die Knie. ›Sage mir nur ein Wort, Marie; sieh mich an; einen Blick, nur einen+…‹

Er stockte, denn der Arm, der seinen Nacken umschlungen hielt, wurde steif und schwer. Ein tiefer Seufzer rang sich aus der Brust der abgezehrten Gestalt, ihre Lippen bewegten sich und ein Lächeln spielte auf ihrem Gesicht, aber die Lippen waren weiß, und das Lächeln verzog sich zu einem furchtbaren Starrblick.

Er war allein auf der Welt.

In der Stille und Einsamkeit seiner elenden Zelle kniete er die ganze lange Nacht vor der Leiche seines Weibes und rief Gott zum Zeugen eines schrecklichen Schwures an, daß er von Stunde an an nichts mehr denken wolle, als ihren und seines Kindes Tod zu rächen, und von nun an bis zum letzten Augenblick seines Lebens alle seine Kräfte nur diesem einen Zwecke widmen und mit unauslöschlichem Haß den Urheber alles dieses Leidens bis ans Ende der Welt verfolgen wolle.

Die tiefste Verzweiflung und eine übermenschliche Leidenschaft hatten in dieser einen Nacht sein Gesicht und seine ganze Gestalt so furchtbar verändert, daß seine Leidensgefährten vor ihm zurückbebten, als er an ihnen vorüberkam. Seine Augen waren mit Blut unterlaufen und starr, sein Gesicht weiß und sein Körper wie unter der Last der Jahre gebeugt. In der Heftigkeit seines Seelenschmerzes hatte er seine Unterlippe beinahe ganz durchbissen. Das Blut war am Kinn niedergeflossen und hatte sein Hemd und sein Halstuch befleckt. Keine Träne, kein Klagelaut, nur der unstete Blick und die wilde Hast, mit der er im Hof auf und ab rannte, verrieten das Fieber, das ihn verzehrte.

Ohne Verzug mußte die Leiche aus dem Gefängnis entfernt werden. Er nahm die Mitteilung mit vollkommener Ruhe hin und wehrte sich nicht.

Beinahe sämtliche Gefangene hatten sich versammelt, um der Wegschaffung der Toten beizuwohnen. Sie wichen auf beiden Seiten zurück, als er kam, rasch vorbeischritt und am Gefängnistor stehenblieb. Der grobe Sarg wurde langsam herausgetragen, und eine Totenstille herrschte unter den Anwesenden, die nur durch lautes Schluchzen der Frauen und die hallenden Tritte der Träger auf dem Steinpflaster unterbrochen wurde. Sie erreichten den Ort, wo der Arme stand, und machten halt. Er legte seine Hand auf den Sarg, ordnete mechanisch die Falten des Tuches, womit er bedeckt war, und winkte den Trägern, weiterzugehen. Die Schließer am Eingang des Gefängnisses nahmen ihre Hüte ab, als die Leiche vorübergetragen wurde, und im nächsten Augenblick schloß sich das schwere Tor. Der Unglückliche sah mit einem gläsernen Blick um sich und fiel schwer zu Boden.

 

Viele Wochen lang lag er Tag und Nacht in den wildesten Fieberträumen, aber das Bewußtsein seines Verlustes und die Erinnerung an sein Gelübde verließen ihn keinen Augenblick. Unaufhörlich wechselten die Szenen vor seinen Augen; Schauplatz folgte auf Schauplatz und Ereignis auf Ereignis mit der Blitzesschnelle des Wahnwitzes, aber alle auf die eine oder andre Weise an das einzige Ziel geknüpft, das seinen Geist gefangenhielt. Er segelte über den grenzenlosen Ozean dahin. Die Wolken über ihm waren blutigrot, und die wilden Wasser kochten und schäumten in furchtbarer Wut auf allen Seiten. Ein anderes Schiff fuhr vor ihm her und kämpfte gegen den heulenden Sturm mit aller Kraft; die Segel flatterten zerrissen vom Mast, und das Verdeck war voll von Gestalten, die hin und her geworfen wurden. Ungeheure Wellen brachen jeden Augenblick über Bord und rissen ihre Opfer in die tobende See. Sie fuhren dem Schiff durch die brüllenden Wogen nach, mit einer Geschwindigkeit, der nichts widerstehen konnte, und bohrten es in den Grund. Aus dem furchtbaren Wirbel, der das sinkende Wrack umschäumte, stieg ein Todesschrei so laut und durchdringend empor – der furchtbare Todesschrei hundert Unglücklicher, die in den Wellen versanken –, daß es das Wutgebrüll der Elemente übertäubte und hallte und widerhallte, bis die Luft und das Firmament und der ganze Ozean damit erfüllt schien. Doch wer war der alte Graukopf, der da aus dem Wasser emportauchte und mit dem Blick namenloser Todesangst, gellend um Hilfe rufend, mit den Wellen kämpfte! Es waren seine Züge! Er sprang über Bord; der Alte sah ihn kommen und suchte ihm vergeblich zu entrinnen, er faßte ihn fest um den Leib und zog ihn in die Tiefe nieder. Hinunter, hinunter, fünfzig Klafter tief; bis das Sträuben des Erstickenden schwächer und schwächer wurde und endlich ganz aufhörte. Er hatte ihn getötet und seinen Schwur erfüllt.

Dann wieder ging er barfuß und allein über eine glühende ungeheure Wüste. Der heiße Staub benahm ihm den Atem und blendete ihn; die feinen Körnchen drangen ihm in alle Poren der Haut und reizten ihn beinahe bis zum Wahnsinn. Riesenhafte Sandmassen schritten, vom Winde getragen und von der brennenden Sonne durchglüht, in der Ferne, gleich Säulen lebendigen Feuers, dahin. Die Gebeine von Menschen, die in der Wüste umgekommen, lagen zerstreut um ihn her; ein furchtbarer Glanz beleuchtete alles, was ihn umgab, und so weit sein Auge reichte, sah er nur Bilder des Schreckens und Entsetzens. Vergeblich strengte er sich an, einen Hilferuf auszustoßen – die Zunge klebte ihm am Gaumen. Wie wahnsinnig lief er weiter. Er watete durch den Sand, bis er, von Ermattung und Durst erschöpft, bewußtlos zu Boden sank. Eine erfrischende Kühle belebte ihn wieder; was für ein murmelnder Laut war das? Wasser! Es war wirklich ein Quell, und der klare, frische Strom ergoß sich zu seinen Füßen. Er trank in langen Zügen, streckte seine schmerzhaften Glieder auf dem Rasen aus und sank in einen erquickenden Schlummer. Der Laut näher kommender Fußtritte weckte ihn. Ein alter Mann mit grauen Haaren wankte heran, seinen brennenden Durst zu löschen. Wieder war er es! Er schlang seine Arme um den Leib des Alten und hielt ihn zurück, bis er sich krümmte, in furchtbarer Qual nach Wasser schreiend. Aber er hielt den Alten fest und weidete sich mit gierigem Auge an seinem Todeskampf, und als der Kopf leblos auf die Brust sank, da stieß er den Leichnam mit den Füßen von sich.

 

Als ihn das Fieber verließ und sein Bewußtsein wiederkehrte, war er reich und frei. Sein Vater, der ihn im Gefängnis hatte verschmachten lassen wollen, der die, die ihm teurer gewesen als sein eignes Leben, ruhig hatte sterben lassen, war tot in seinem Daunenbett gefunden worden. Wohl war der Alte fest entschlossen gewesen, seinen Sohn als Bettler auf der Welt zurückzulassen, aber im Vollgefühl seiner Gesundheit und Kraft hatte er die Enterbung hinausgeschoben, bis es zu spät war. Das war das erste, was der Genesende erfuhr. Der Gedanke, daß er sich jetzt an seinem letzten Feind, seines eignen Weibes Vater, dem Manne, der ihn ins Gefängnis geworfen und seiner eignen Tochter und ihrem Kind, als sie zu seinen Füßen um Erbarmen gefleht, die Tür gewiesen, hatte, grausam rächen müsse, verließ ihn nicht mehr. Er verwünschte die Schwäche, die ihn noch hinderte, sich aufzumachen und seine Rachepläne auszuführen. Er ließ sich von dem Schauplatz seines Elends wegführen und wählte sich einen ruhigen Wohnsitz an der Meeresküste – nicht in der Hoffnung, seinen inneren Frieden wiederzufinden, denn der war für immer vernichtet, sondern wieder zu Kräften zu kommen und seinem Lieblingsplan nachzuhängen. Und hier gab ihm auch ein böser Geist die erste Gelegenheit zu einer furchtbaren Rache.

Es war Sommer. In seine finstern Gedanken vertieft, verließ er früh am Nachmittag seine einsame Wohnung und verfolgte einen schmalen Pfad zwischen den Klippen nach einem wilden und einsamen Ort, der auf seinen Streifereien seine Einbildungskraft besonders erregt hatte. Dort pflegte er auf verwitterten Felstrümmern stundenlang, das Gesicht in den Händen vergraben, zu sitzen – oft, bis die Nacht hereingebrochen war und die langen Schatten der zürnenden Klippen alles um ihn her in dichte Finsternis gehüllt hatten.

Hier saß er wieder, nur bisweilen den Kopf erhebend, um den Flug einer Möwe zu betrachten oder mit den Blicken den schimmernden Streifen zu verfolgen, der in der Mitte des Ozeans anfing und sich am Horizont verlief, wo die Sonne eben unterging, als die tiefe Stille ringsum von einem lauten Hilferuf unterbrochen wurde. Er horchte auf und zweifelte, ob er richtig gehört hatte, da ertönte abermals der Schrei, noch lauter als zuvor. Sofort sprang er auf und lief nach der Richtung, aus welcher der Schrei herkam.

Ein einziger Blick offenbarte ihm, was geschehen war: Einige Kleidungsstücke lagen über den Strand verstreut; unweit des Ufers war der Kopf eines Menschen gerade noch über den Wellen sichtbar, und ein alter Mann lief, in Todesangst die Hände ringend, hin und her und schrie um Hilfe. Der Wiedergenesene, dessen Kräfte nun wieder so ziemlich hergestellt waren, warf seinen Rock ab und eilte zu den Klippen, um sich ins Meer zu stürzen und den Ertrinkenden ans Ufer zu ziehen.

›Schnell, um Gottes willen, schnell! Helfen Sie, helfen Sie! Es ist mein Sohn‹, rief der Greis, halb wahnsinnig vor Angst, und lief auf ihn zu. ›Mein einziger Sohn ertrinkt dort vor meinen Augen.‹

Bei den ersten Worten, die der alte Mann vorbrachte, stoppte der Fremde seinen raschen Lauf, schlug die Arme übereinander und blieb dann regungslos stehen.

›Barmherziger Gott‹, rief der Alte plötzlich und fuhr entsetzt zurück, ›Heyling!‹

Der andre lächelte nur und schwieg.

›Heyling‹, jammerte der Alte, ›mein Kind, Heyling, mein liebes Kind, dort, dort!‹ Nach Atem ringend, deutete der unglückliche Vater auf die Stelle, wo der junge Mann um sein Leben kämpfte.

›Hören Sie, er ruft wieder. Er lebt noch. Retten Sie ihn, retten Sie ihn!‹

Heyling lächelte wieder und rührte sich nicht.

›Ich habe unrecht an Ihnen gehandelt‹, rief der Alte, fiel auf die Knie und hob flehend die Hände empor, ›rächen Sie sich; nehmen Sie mir alles, mein Leben – stoßen Sie mich mit dem Fuß ins Wasser, und ich will sterben, ohne mich zu wehren, ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren. Tun Sie es, Heyling, tun Sie es, aber retten Sie meinen Sohn. Er ist doch so jung, Heyling! So jung, Heyling! Er darf nicht sterben.‹

›Hören Sie‹, sagte Heyling und faßte den Alten fest beim Handgelenk, ›ich will Leben haben für Leben, und hier ist eins. Mein Kind starb vor den Augen seines Vaters einen weit qualvolleren Tod, als der junge Verschwender des Vermögens seiner Schwester dort jetzt stirbt. Sie – Sie haben Ihrer Tochter ins Gesicht gelacht, als der Tod schon seine Hand auf sie gelegt hatte – und unsrer Leiden gespottet. Wie denken Sie jetzt darüber? Schauen Sie hin, schauen Sie dorthin.‹ – Heyling deutete auf die See hinaus. Ein schwacher Schrei drang von dort herüber; der Todeskampf des Ertrinkenden bewegte die spielenden Wellen auf wenige Sekunden, dann war die Stelle, wo es ihn hinabgezogen, nicht mehr zu unterscheiden.

 

Drei Jahre waren verflossen, als an der Haustür eines Londoner Anwalts, der damals als nicht sehr bedenklich in Rechtsgeschäften allgemein bekannt war, eine Equipage hielt und ein Herr ausstieg. Er war offenbar noch in den besten Jahren, hatte aber ein blasses, eingefallenes und gramverzehrtes Gesicht, und es bedurfte keines besonderen Scharfsinnes, um auf den ersten Blick zu bemerken, daß Krankheit oder Kummer mehr zur Veränderung seines Äußeren beigetragen haben mußten, als die Zeit in doppelt soviel Jahren vermocht hätte.

›Ich möchte, daß Sie eine Rechtsangelegenheit für mich übernehmen‹, sagte der Fremde.

Der Anwalt verbeugte sich und warf einen Blick auf ein großes Paket, das der Herr in der Hand hielt.

›Es ist keine gewöhnliche Sache!‹ – Der Fremde löste die Schnur, die die Akten zusammenhielt, und legte eine beträchtliche Menge Wechsel, Schuldscheine und andre Dokumente dem Advokaten vor.

›Wie diese Papiere besagen, schuldet der Mann, dessen Unterschrift sie tragen, seit einer Reihe von Jahren große Summen. Es bestand eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihm und seinem Gläubiger, von dem ich nach und nach das Ganze um das Drei- und Vierfache des Nominalwertes gekauft habe, daß diese Schuldscheine immer wieder prolongiert werden sollten, bis eine bestimmte Reihe von Jahren verflossen wäre. Der Schuldner hat nun in neuerer Zeit große Verluste erlitten, und wenn diese Forderungen alle auf einmal geltend gemacht würden, müßte es ihn unfehlbar zugrunde richten.‹

›Das Ganze beläuft sich auf etliche tausend Pfund‹, sagte der Anwalt, nachdem er einen Blick auf die Papiere geworfen.

›Ja.‹

›Was soll ich also eigentlich tun?‹

›Was Sie tun sollen?‹ erwiderte der Klient mit plötzlicher Heftigkeit. ›Sie sollen jeden Kunstgriff des Gesetzes anwenden, der Ihnen zur Verfügung steht, jeden Kniff gebrauchen, den Scharfsinn auszudenken und Bosheit durchzuführen vermag, gute und schlechte Mittel; das Gesetz in seiner ganzen Härte wirken lassen und, wo es zu versagen droht, die ganze Schlauheit eines scharfsinnigen Praktikers in Anwendung bringen. Ich will ihn einen qualvollen, langsamen Tod sterben lassen, ihn zugrunde richten und von Haus und Hof vertreiben, daß er seine alten Tage im schmutzigen Kerker beschließen muß.‹

›Aber die Kosten, bester Herr! – Wer wird die Kosten von all dem bezahlen?‹ wendete der Anwalt ein, als er sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte. ›Wenn der Beklagte ein ruinierter Mann ist, wer wird die Kosten bezahlen, Sir?‹

›Nennen Sie irgendeine Summe‹, sagte der Fremde, dessen Hand vor innerer Aufregung zitterte, daß er kaum die Feder halten konnte, ›irgendeine Summe, und Sie sollen sie haben. Rechnen Sie nicht lange, kein Betrag ist mir zu hoch, wenn ich nur meinen Zweck erreiche.‹

Der Anwalt nannte aufs Geratewohl eine bedeutende Summe, die er als Vorschuß nötig haben würde, um sich gegen die Möglichkeit eines Verlustes zu decken, aber mehr in der Absicht, sich zu überzeugen, wie weit sein Klient wirklich zu gehen gesonnen sei, als in der Hoffnung, seine Forderung bewilligt zu sehen.

Der Fremde schrieb für den ganzen Betrag eine Anweisung an seinen Bankier und ging. Die Anweisung wurde ordnungsgemäß ausgezahlt, und der Anwalt, der nun wußte, daß er es mit einem zuverlässigen Klienten zu tun hatte, machte sich ernstlich an seine Arbeit.

Mehr als zwei Jahre lang saß Mr. Heyling tagelang über den sich immer mehr und mehr anhäufenden Akten in der Kanzlei des Advokaten und weidete sich an den Bitten des Schuldners um einen kleinen Aufschub, da er sonst unvermeidlich dem Untergang entgegengehen müßte – Briefe, die immer häufiger wurden, als Forderung auf Forderung eingeklagt wurde. Auf alle Gesuche um eine Wartefrist erfolgte stets dieselbe Antwort – das Geld müsse augenblicklich bezahlt werden. Haus und Hof, samt allem, was dazugehörte, wurden nach und nach exequiert und versteigert, und der Schuldner hätte unfehlbar ins Gefängnis wandern müssen, wenn er sich nicht der Wachsamkeit des Sheriffs durch die Flucht entzogen hätte. Der unversöhnliche Haß Heylings wurde durch den Erfolg seiner Rachepläne aber nicht nur nicht befriedigt, sondern noch mehr gesteigert. Als er die Flucht des alten Mannes erfuhr, kannte seine Wut keine Grenzen. Er knirschte mit den Zähnen vor Ingrimm, zerraufte sich das Haar und stieß schreckliche Flüche gegen die Leute aus, die mit der Verhaftung betraut worden waren. Nur die wiederholte Versicherung, daß man des Flüchtlings gewiß habhaft werden würde, beruhigte ihn einigermaßen. Nach allen Richtungen wurden Detektive ausgesendet; jede List wurde aufgeboten, um seinen Zufluchtsort zu entdecken, aber es war alles vergeblich. Ein halbes Jahr verfloß, und er war immer noch nicht gefunden.

Endlich erschien eines Abends spät Heyling, nachdem man wochenlang nichts mehr von ihm gesehen und gehört hatte, in der Privatwohnung des Anwalts und ließ ihm sagen, er wünsche ihn augenblicklich zu sprechen. Noch ehe der Anwalt seinem Bedienten befehlen konnte, ihn heraufzuführen, war er schon oben an der Treppe und drang blaß und atemlos ins Besuchszimmer. Er schloß sorgfältig die Tür, um von niemand gehört zu werden, warf sich in einen Armstuhl und sagte mit leiser Stimme:

›Ich habe ihn endlich gefunden.‹

›Was Sie nicht sagen‹, rief der Anwalt. ›Das ist ja ausgezeichnet.‹

›Er hält sich in einer erbärmlichen Wohnung in Lamden-Town versteckt‹, fuhr Heyling fort. ›Es war eigentlich ganz gut, daß wir ihn aus den Augen verloren haben, denn er hat dort die ganze Zeit über im größten Elend gelebt; er ist bettelarm.‹

›Sehr gut‹, erwiderte der Anwalt. ›Sie wünschen natürlich, daß die Verhaftung morgen früh vorgenommen wird.‹

›Ja‹, versetzte Heyling. ›Doch halt! Nein, erst übermorgen. Sie wundern sich, daß ich es noch hinausschiebe‹, setzte er mit einem gräßlichen Lächeln hinzu, ›aber ich hatte etwas vergessen: übermorgen ist ein Jahrestag für ihn; wollen wir es doch auf diesen Termin verlegen!‹

›Also gut‹, antwortete der Anwalt. ›Wollen Sie gleich die Instruktionen für den Sheriff zu Papier bringen?‹

›Nein, er soll herkommen. Um acht Uhr. Ich will ihn begleiten.‹

 

Sie trafen sich also am bestimmten Abend, nahmen eine Droschke und ließen an der Ecke der alten Pancras-Street halten, wo das Arbeitshaus des Kirchspiels steht. Es war schon ganz dunkel geworden, als sie ausstiegen und in eine kleine Nebenstraße einbogen, die damals Little College Street hieß und in jenen Tagen noch an die Moore und Sümpfe in der Umgebung stieß.

Heyling zog sich eine Kapuze halb über das Gesicht, hüllte sich in seinen Mantel, blieb vor der erbärmlichsten Hütte der ganzen Straße stehen und klopfte leise an die Tür. Sie wurde augenblicklich von einer alten Frau geöffnet, die sich höflich vor ihm verbeugte und ihn offenbar bereits kannte. Heyling flüsterte dem Gerichtsdiener zu, er möge unten warten, schlich sich leise die Treppe hinauf und trat rasch in die Stube.

Der Gegenstand seines unversöhnlichen Hasses, jetzt ein gebrochener Greis, saß vor einem groben Tisch aus Tannenholz, auf dem ein elendes Talglicht brannte. Er schrak beim Eintritt des Fremden zusammen und stand zitternd auf.

›Was gibt es denn wieder?‹ rief er entsetzt, ›was für ein neues Elend kommt über mich? Was wünschen Sie von mir?‹

›Ein Wörtchen mit Ihnen reden‹, erwiderte Heyling, setzte sich an das andre Ende des Tisches und schlug seine Kapuze zurück. Der alte Mann fiel sprachlos vor Grauen und Entsetzen in seinen Stuhl zurück und starrte ihn an.

›Heute sind es sechs Jahre‹, sagte Heyling, ›daß ich Ansprüche habe auf das Leben, das Sie mir für das meines Kindes schulden. An der Leiche Ihrer Tochter, alter Mann, habe ich geschworen, nur mehr der Rache zu leben. Nie habe ich auch nur eine Minute mein Ziel aus den Augen verloren, und wenn es der Fall gewesen wäre, hätte mir ein einziger Gedanke an ihr Gesicht, als sie dahinwelkte, oder an die müden, traurigen Augen unsres unschuldigen Kindes meinen Schwur wieder ins Gedächtnis rufen müssen. An den Beginn der Vergeltung werden Sie sich wohl noch erinnern, jetzt sind wir am Ende.‹

Der alte Mann schauderte zusammen, und seine Hände fielen ihm kraftlos am Leibe herunter.

›Morgen verlasse ich England‹, fuhr Heyling nach einer kurzen Pause fort, ›heute nacht noch übergebe ich Sie dem lebendigen Tode, dem Sie sie geopfert haben, einem hoffnungslosen Gefängnis.‹

Er sah den alten Mann an und schwieg; dann hielt er ihm das Licht vors Gesicht, stellte es sacht wieder nieder und verließ das Zimmer.

›Es wäre gut, wenn Sie nach ihm sehen würden‹, sagte er zu der Frau, als er die Tür öffnete und dem Gerichtsdiener winkte, ihm auf die Straße zu folgen. ›Ich glaube, es ist ihm nicht wohl.‹

Die Frau verriegelte die Tür, eilte hastig die Treppe hinauf und fand den Alten tot. Der Schlag hatte ihn gerührt.

 

Unter einem einfachen Grabstein auf einem der stillsten und abgelegensten Kirchhöfe in Kent, wo wilde Blumen durch das Gras schimmern und die liebliche Landschaft der Umgebung die schönste Stelle im Garten Englands bildet, ruhen die Gebeine der jungen Mutter und ihres kleinen Kindes. Aber die Asche des Vaters mischt sich nicht mit der ihrigen; und von jener Nacht an erhielt der Anwalt auch nicht mehr den entferntesten Aufschluß über das weitere Schicksal seines seltsamen Klienten.«

 

Der Alte hatte seine Erzählung beendet, stand auf, nahm seinen Hut und Überrock und schritt, ohne weiter ein Wort zu sagen, langsam hinaus. Der Herr mit den Mosaikknöpfen war eingeschlafen, und der größere Teil der Gesellschaft, in das unterhaltende Geschäft vertieft, geschmolzenen Talg in den Grog träufeln zu lassen. Unbemerkt verließ Mr. Pickwick das Zimmer, beglich seine und Mr. Wellers Zeche und ging mit ihm zur Haustür der »Elster« hinaus.


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