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Sechstes Kapitel

Ein kurzes Kapitel, in dem unter anderem berichtet wird, wie Mr. Pickwick sich verleiten ließ, zu kutschieren, und Mr. Winkle, zu reiten, und wie sie beide damit zurechtkamen.


Hell und heiter war der Himmel, balsamisch war die Luft, und alles ringsum lieblich anzuschauen, als Mr. Pickwick, in den Anblick der herrlichen Natur versunken, an dem Geländer der Brücke von Rochester lehnte und auf das Frühstück wartete. Die Landschaft bot in der Tat einen so reizenden Anblick, daß sie wohl auch auf ein weniger beschauliches Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben würde.

Dem Beschauer zur Linken lag eine verfallene Mauer, an manchen Stellen zusammengestürzt und an andern in schweren Massen über das schmale Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharfumrissenen Uferfelsen bedeckten dichte Büschel von Seegras, die in jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer. – Im Hintergrund erhob sich das alte Schloß mit seinen dachlosen Türmen, die massiven Mauern zerbröckelt, ebenso stolz von früherer Macht erzählend wie damals, als es vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichen Gelagen widerhallte. Auf beiden Seiten dehnten sich die Ufer der Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort von einer Windmühle oder einer fernen Kirche unterbrochen; soweit das Auge reichte, eine volle und bunte Landschaft, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen. – Der geräuschlos dahingleitende Fluß spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit hellem, plätscherndem Ton in das Wasser, wie die plumpen, aber pittoresken Boote langsam stromabwärts trieben.

Ein tiefer Seufzer und ein leichter Schlag auf die Schulter weckten Mr. Pickwick aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

»Sie betrachten die Gegend, Sir?«

»Jawohl«, versetzte Mr. Pickwick.

»Und freuen sich, daß Sie so früh aufgestanden sind?«

Mr. Pickwick nickte stumm.

»Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glanze zu genießen, denn sie strahlt selten so hell tagsüber. Der Morgen des Tages und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr.«

»Sehr richtig, Sir«, sagte Mr. Pickwick.

»Wie oft pflegt man zu sagen«, fuhr der Trübsinnige fort, »der Tag fängt zu schön an, um so zu bleiben, und wie gut läßt sich das auf unser tägliches Leben anwenden! O Gott, was würde ich darum geben, wenn ich die Tage meiner Kindheit zurückrufen oder sie für immer vergessen könnte!«

»Sie haben viel Trauriges erlebt?« fragte Mr. Pickwick teilnehmend.

»Allerdings«, versetzte der Trübsinnige hastig, »mehr als jemand, der mich jetzt kennt, für möglich halten sollte.« Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Hat Sie wohl je an einem solchen Morgen schon der Gedanke beschlichen, daß im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnte?«

»Gott steh mir bei, nein«, erwiderte Mr. Pickwick, einen Schritt von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, der Trübsinnige könnte ihn hinunterschleudern, um ihn den Versuch machen zu lassen.

»Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen«, fuhr der Trübsinnige fort, ohne auf Mr. Pickwicks Bewegung zu achten. »Die stille kühle Flut scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. – Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – ein Wasserwirbel, der allmählich abnimmt und immer kleinere Wellen wirft – die Gewässer schließen sich, und alles Erdenleid ist vorüber.«

Die eingesunkenen Augen des Trübsinnigen leuchteten auf, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

»Genug davon! Ich möchte wegen etwas andern mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu+…«

»Allerdings«, versetzte Mr. Pickwick, »und ich meinte wirklich+…«

»Ich habe nicht gefragt, um Ihr Urteil zu hören, und ich bedarf dessen nicht«, unterbrach ihn der Trübsinnige. »Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – Doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines schauerlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?«

»Sicherlich«, erwiderte Mr. Pickwick, »wenn Sie es wünschen. Es würde sodann den Klubakten einverleibt werden.«

»Also gut«, sagte der Trübsinnige und fragte nach Mr. Pickwicks Adresse.

Mr. Pickwick nannte seine und seiner Freunde wahrscheinliche Reiseroute, der Trübsinnige notierte sie sorgfältig in einem schmutzigen Taschenbuch, lehnte Mr. Pickwicks Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis zum Gasthof und ging dann langsam seines Weges.

Mr. Pickwick wurde bereits von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das ihrer, trefflich serviert, im Speisesaal harrte. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die sowohl von der Vorzüglichkeit der Speisen wie von dem guten Appetit der Reisenden Zeugnis ablegte.

»Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken«, sagte Mr. Pickwick. »Wie wollen wir die Reise dorthin machen?«

»Es wäre vielleicht das beste, wenn wir den Kellner darüber fragten«, meinte Mr. Tupman, und so wurde denn der Kellner gerufen.

»Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege –. Postpferde, meine Herren?«

»In einer Postchaise würden nur zwei von uns Platz haben«, gab Mr. Pickwick zu bedenken.

»Allerdings, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierrädriger Wagen hier, Sir – Sitze innen für zwei Herren – einer zum Kutschieren – oh, ich bitte um Vergebung, Sir – das würde ja auch nur für drei genügen.«

»Was ist da zu tun?« fragte Mr. Snodgraß.

»Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?« versetzte der Kellner mit einem Blick auf Mr. Winkle. »Sehr gute Reitpferde, Sir. Wenn einer von Mr. Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er die Pferde und den Wagen zurückbringen, Sir.«

»Das läßt sich hören«, meinte Mr. Pickwick. »Winkle, wollen Sie reiten?«

In den verborgensten Tiefen von Mr. Winkles Herzen stiegen große Bedenken auf, aber da er sich um keinen Preis etwas vergeben wollte, erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

»Mit Vergnügen. Ich ziehe diese Art zu reisen sogar jeder andern vor.«

Mr. Winkle hatte sein Schicksal herausgefordert, und jetzt gab es natürlich kein Zurück mehr.

»Also lassen Sie alles für elf Uhr vorbereiten«, befahl Mr. Pickwick.

»Sehr wohl, Sir«, versetzte der Kellner und entfernte sich.

 

Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Effekten einzupacken. Mr. Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, da trat der Kellner ein und meldete, der Wagen stünde bereit; wie zur Bestätigung dieser Meldung wurde im gleichen Augenblick der Wagen vor dem Hotel sichtbar.

Es war ein seltsamer, kleiner grüner Kastenwagen auf vier Rädern mit einem Sitz für zwei Personen, so eng und niedrig wie eine Schublade, und einem hohen Bock, der freilich nur einen Sitzplatz aufwies. Er wurde von einem Braunen gezogen, dessen Knochenbau zwar riesenhaft, aber sonst durchaus ebenmäßig war. Daneben stand ein Stallknecht mit einem anderen Riesengaul – offenbar einem nahen Verwandten des ersten –, den man für Mr. Winkle gesattelt hatte.

»Lieber Gott«, rief Mr. Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat, »lieber Gott, wer soll denn kutschieren? Daran habe ich ja gar nicht gedacht.«

»Natürlich Sie«, sagte Mr. Tupman.

»Ich?«

»Bloß keine Angst nicht, Sir«, warf der Stallknecht ein. »Garantiert, lammfromm; mit dem würde ja ein Kind fertig werden.«

»Er ist also nicht scheu?« fragte Mr. Pickwick.

»Scheu, Sir? – Der scheut nicht, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müßte.«

Diese Versicherung zerstreute die letzten Bedenken; Mr. Tupman und Mr. Snodgraß stiegen ein, und Mr. Pickwick erklomm den Bock.

»Nun, Glanz-Willem«, sagte der Stallknecht zu seinem Adjunkten, »gib dem Herrn die Zügel.«

Der Glanz-Willem, wahrscheinlich wegen seines angepappten Haares und seines fettschimmernden Gesichtes so genannt, legte die Zügel in Mr. Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht drückte ihm die Peitsche in die rechte.

»Brrr!« rief Mr. Pickwick, als der gigantische Vierfüßler eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen nach rückwärts in die Fenster des Gastzimmers zu drängen.

»Brrr!« wiederholten Mr. Snodgraß und Mr. Tupman aus dem Wagen.

»'s is bloß Stallfeuer, Sir«, sagte der Oberstallknecht ermutigend. »Halt ihn fest, Willem!«

Der Adjunkt tat der Lebhaftigkeit des Tieres Einhalt, und der Stallknecht trat zu Mr. Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

»Auf der andern Seite, Sir, wenn's gefällig ist«, sagte er.

»Mir scheint gar, der Herr steigt rechts auf«, murmelte grinsend ein Postknecht, zur unendlichen Erheiterung des Kellners.

So belehrt, kletterte Mr. Winkle in den Sattel, ungefähr mit der Leichtigkeit, mit der er seitlich an einem Linienschiff aufgeentert wäre.

»Alles in Ordnung?« fragte Mr. Pickwick mit einem dunkeln Vorgefühl, daß die Verwirrung jetzt erst recht losgehen würde.

»Alles in Ordnung!« antwortete Mr. Winkle mit beklommener Stimme.

»Also fertig!« sagte der Stallknecht. »Nur die Zügel nicht loslassen, Sir.«

Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Mr. Winkle, zum größten Gaudium des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

»Warum geht er denn immer seitwärts?« rief Mr. Snodgraß im Wagen Mr. Winkle im Sattel zu.

»Es ist mir unerklärlich«, erwiderte Mr. Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise, den Kopf nach der einen und den Schweif nach der andern Seite der Straße gekehrt, einhertraversierte.

Mr. Pickwick hatte keine Zeit, dies oder sonst irgend etwas zu beachten, da seine gesamten körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf die Zügelung seines eignen Pferdes konzentriert waren, das die sonderbarsten Eigenschaften entfaltete, die zwar für jeden Zuschauer äußerst interessant, für die Insassen des Wagens aber nicht im gleichen Maße unterhaltend waren. Abgesehen davon, daß es auf eine höchst lästige und für Mr. Pickwick sehr peinliche Weise den Kopf beständig in die Höhe warf und sich so stark in die Zügel legte, daß der Gelehrte sie kaum festzuhalten vermochte, zeigte es auch eine sonderbare Neigung, bald plötzlich einen Seitensprung zu machen, bald ebenso plötzlich wieder stillzustehen und dann wieder etliche Minuten hindurch so rasch davonzurasen, daß an ein Halten nicht zu denken war.

»Was will es denn eigentlich nur?« sagte Mr. Snodgraß, als das Pferd dieses Manöver zum zwanzigsten Male wiederholte.

»Das weiß der Himmel!« versetzte Mr. Tupman. »Es hat ganz den Anschein, als ob es scheute. Meinen sie nicht auch?«

Mr. Snodgraß hatte eine Antwort auf der Zunge, als er durch den Ausruf Mr. Pickwicks: »O Gott, ich habe die Peitsche verloren!« unterbrochen wurde.

»Heda!« rief Mr. Snodgraß, als Mr. Winkle auf seinem hohen Roß herantrabte, den Hut über die Ohren gezogen und von der heftigen Bewegung ganz zusammengeschüttelt. »Ach, lieber Winkle, bitte, heben Sie doch die Peitsche auf!«

Mr. Winkle ruderte mit den Zügeln, bis er ganz blau im Gesicht war, und als es ihm endlich gelang, das Schlachtroß zum Stehen zu bringen, stieg er ab, reichte Mr. Pickwick die Peitsche und schickte sich an, wieder aufzusteigen.

Ob nun das Riesentier bei seinem Übermaß an Temperament ein Verlangen fühlte, sich mit Mr. Winkle einen kleinen unschuldigen Scherz zu erlauben, oder ob es ihm plötzlich einfiel, daß es die Reise zu seinem Vergnügen ebensogut ohne Reiter vollenden könnte – sind Fragen, die wir natürlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten imstande sind. So viel ist jedenfalls gewiß, daß, welche Beweggründe auch in seiner Seele wirkten, Mr. Winkle kaum den Fuß in den Steigbügel gesetzt hatte, als es durch eine rasche Bewegung die Zügel über den Kopf schnellte und um ihre volle Länge zurückwich.

»Ruhig, ruhig, mein gutes Tier«, rief Mr. Winkle besänftigend, »komm, gutes altes Pferd!«

Allein »das gute Tier« war taub gegen Schmeichelei. Je mehr sich Mr. Winkle bemühte, sich ihm zu nähern, desto mehr wich es zurück, allen Kosenamen zum Trotz. Wohl zehn Minuten drehten sich Mr. Winkle und das Pferd im Kreise herum und waren nach dieser Zeit noch ebenso weit voneinander entfernt wie bei Beginn – eine höchst peinliche Sache in Anbetracht des Umstandes, daß auf der einsamen Landstraße auf Beistand nicht zu rechnen war.

»Was soll ich nur tun?« rief Mr. Winkle, nachdem er seine Experimente noch eine geraume Zeit vergeblich fortgesetzt hatte. »Ich kann dem Luder nicht beikommen.«

»Sie werden wohl am besten tun, es zu führen, bis wir zu einem Schlagbaum kommen«, riet ihm Mr. Pickwick.

»Aber wenn es nicht geht!« rief Mr. Winkle zurück. »Kommen Sie doch und halten Sie es.«

Mr. Pickwick, immer die Güte und Gefälligkeit selbst, warf seinem Gaul die Zügel über den Rücken, stieg vom Bocke und eilte, Mr. Snodgraß und Mr. Tupman im Wagen zurücklassend, seinem unglücklichen Gefährten zu Hilfe.

Kaum sah jedoch das Reitpferd Mr. Pickwick mit der Peitsche in der Hand herankommen, als es seine vorher kreisende Bewegung in eine so entschieden retrograde verwandelte, daß es Mr. Winkle, der immer noch das Ende der Zügel festhielt, fast im Trabe mit sich fortriß. – Mr. Pickwick wollte ihm zu Hilfe eilen, doch je schneller er vorwärts lief, desto schneller ging das Pferd rückwärts. Es scharrte dabei mit den Hufen, wühlte den Staub auf, und endlich mußte Mr. Winkle, dem die Arme fast ausgerissen wurden, die Zügel fahrenlassen. Das Pferd stutzte, schüttelte den Kopf, machte kehrt, trabte ruhig nach Rochester zurück und überließ es Mr. Winkle und Mr. Pickwick, sich gegenseitig in stummer Bestürzung anzustarren. Ein rasselndes Geräusch in einer kleinen Entfernung erregte jetzt ihre Aufmerksamkeit. Sie blickten auf.

»Gott steh mir bei!« rief Mr. Pickwick, außer sich vor Entsetzen. »Jetzt, geht auch das andre durch.«

Es war nur zu wahr. Das sich selbst überlassene Tier, durch den Lärm erschreckt, jagte mit dem Wagen davon. Mr. Tupman sprang in die Hecke, Mr. Snodgraß folgte seinem Beispiel, und das Pferd schmetterte den Wagen an ein Brückengeländer, daß die Räder von den Achsen fielen und der Kutschkasten von dem Bock getrennt wurde. Dann blieb es stehen und betrachtete mit Seelenruhe die Verheerung, die es angerichtet hatte.

Die erste Sorge Mr. Pickwicks und Mr. Winkles war natürlich, ihren unglücklichen Freunden beizuspringen, wobei sie sich zu ihrer großen Beruhigung davon überzeugten, daß es nur ein paar Risse an den Kleidern und Hautabschürfungen gesetzt hatte. Dann war das Pferd aus seinem Geschirr zu entwirren. – Nach Beendigung dieses komplizierten Geschäftes gingen sie langsam weiter, das Roß am Zaum mit sich führend, und überließen den Wagen seinem Schicksal.

Nach Verlauf einer Stunde erreichten sie ein kleines Wirtshaus, vor dem zwei Ulmen, eine Krippe und ein Pfahl mit einem Schilde standen, dahinter ein kleiner zusammengestürzter Heuschober und daneben ein Küchengarten. Baufällige Scheunen und Nebenbauten zierten die Aussicht. Im Garten arbeitete ein rothaariger Mann.

»He, Sie da! Hallo!« rief Mr. Pickwick.

Der Rotkopf richtete sich auf, hielt, die Hand über die Augen und starrte Mr. Pickwick und seine Gefährten eine geraume Weile gleichgültig an.

»Hallo!« wiederholte Mr. Pickwick.

»Hallo!« war die Antwort des Rotkopfs.

»Wie weit ist es bis nach Dingley Dell?«

»So um sieben Meilen rum.«

»Ist der Weg gut?«

»Nein.«

Nach dieser kurzen Antwort fing der rotköpfige Mann gleichgültig wieder an zu arbeiten.

»Wir möchten gern dieses Pferd hier einstellen; das geht doch hoffentlich – wie?« fragte Mr. Pickwick.

»Das Pferd einstellen möchten Sie, ja?« wiederholte der Rotkopf, wobei er sich auf seinen Spaten lehnte.

»Ja, natürlich«, erwiderte Mr. Pickwick, der sich unterdessen, das Tier am Zaum, der Gartentür genähert hatte.

»Frau!« brüllte der Rotkopf, aus dem Garten tretend und das Pferd scharf ins Auge fassend. »Frau!«

Ein großes knochiges Frauenzimmer in einer groben blauen Kittelschürze, deren Taille nur ein paar Zoll unter den Achseln saß, trat aus dem Haus.

»Könnten wir wohl dieses Pferd hier einstellen, gute Frau?« fragte Mr. Tupman und näherte sich ihr mit verführerischem Lächeln. Die Frau betrachtete unfreundlich die ganze Gruppe, und der Rotkopf flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Nein«, antwortete sie nach einiger Überlegung, »da hab ich Angst vor.«

»Angst?« rief Mr. Pickwick aus. »Wovor hat die Frau Angst?«

»Letztes Mal haben wir Ärger davon gehabt«, sagte die Frau und ging wieder in das Haus zurück. »Ich will damit nichts zu kriegen haben.«

»So etwas ist mir doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen!« sagte Mr. Pickwick höchst verwundert.

»Ich – ich glaube wirklich«, flüsterte Mr. Winkle seinen Freunden zu, »die Leute denken am Ende gar, wir sind auf unehrliche Weise zu dem Pferd gekommen.«

»Wie?« rief Mr. Pickwick höchlichst entrüstet aus.

Mr. Winkle wiederholte bescheiden seine Vermutung.

»Heda, Sie, Bursche«, sagte Mr. Pickwick zornig, »glauben Sie vielleicht, wir hätten das Pferd gestohlen?«

»Na, was denn sonst«, erwiderte der Rotkopf mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum andern. Dann begab er sich gleichfalls ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Es ist wie ein Traum, wie ein abscheulicher Traum!« stöhnte Mr. Pickwick. »Sich den ganzen Tag mit dem widerwärtigen Gaul abschleppen zu müssen und ihn nicht einmal loswerden zu können!«

Deprimiert setzten die Pickwickier ihre Wanderung fort, das gewaltige Schlachtroß haßerfüllt immer am Halfter hinter sich herziehend.

 

Es war bereits spät am Nachmittag, als die vier Freunde mit ihrem vierfüßigen Gefährten in den nach Manor Farm führenden Seitenweg einbogen; aber das Vergnügen, endlich in der Nähe ihres Bestimmungsortes zu sein, das sie sonst wohl empfunden hätten, wurde ihnen durch den Gedanken an ihren lächerlichen Aufzug arg verleidet. Zerfetzte Kleider, zerkratzte Gesichter, bestaubte Schuhe, erschöpftes Aussehen, und dazu noch das verdammte Pferd. O wie Mr. Pickwick das Tier zu allen Teufeln wünschte! Schon lange hatte er das edle Roß von Zeit zu Zeit mit Blicken des Hasses und der Rachsucht angesehen und mehr als einmal im Geiste überschlagen, wieviel es ihm kosten könnte, wenn er ihm den Hals abschnitte, und mit zehnfach stärkerer Gewalt kam jetzt die Versuchung über ihn, es entweder umzubringen oder in die weite Welt laufen zu lassen. Das plötzliche Erscheinen zweier Gestalten in einer Biegung des Weges weckte ihn aus seinem unheilschwangeren Brüten. Es waren Mr. Wardle und sein treuer Gefährte, der fette Junge.

»Ach Gott, wo haben Sie so lange gesteckt?« rief der gastfreundliche alte Herr. »Den ganzen Tag haben wir auf Sie gewartet. Und wie strapaziert Sie aussehen! – Was? Schrammen im Gesicht? Doch nicht verletzt, will ich hoffen? Nein? Freue mich sehr, das zu hören. Umgeworfen? – Machen Sie sich nichts draus! – Kommt oft in unsrer Gegend vor. – Joe! – Schläft er schon wieder! – Joe, nimm dem Herrn das Pferd ab und bring es in den Stall!«

Der fette Junge zottelte langsam mit dem Gaul hinterher, und Mr. Wardle bedauerte in schlichten Worten seine Gäste wegen ihrer Abenteuer – das heißt wegen dessen, was sie ihm darüber erzählten. Sodann führte er sie in die Küche.

»Hier wollen wir Sie zunächst mal ein wenig in Ordnung bringen«, sagte der alte Herr, »und Sie dann zu der Gesellschaft in das Wohnzimmer führen. Emma, den Kirschgeist! Jane, Nähnadel und Zwirn! Marie, Waschwasser und Handtücher! Flink, Mädels, rasch, rasch!«

Drei oder vier handfeste Mägde eilten sogleich, um die verschiedenen Requisiten herbeizuschaffen, während zwei männliche Dienstboten mit dicken Köpfen und kreisrunden Gesichtern von ihren Sitzen in der Kaminecke – wo sie, obgleich es Mai war, verfroren am Feuer hockten, wie zu Weihnachten – aufstanden und in dunkeln Winkeln verschwanden, aus denen sie bald nachher mit einem halben Dutzend Bürsten und Schuhwichse wieder auftauchten.

»Tummelt euch!« sagte der alte Herr nochmals.

Es bedurfte jedoch dieser Mahnung nicht, denn die eine Magd schenkte bereits Kirschgeist ein, eine andre brachte Handtücher, und einer der Diener packte Mr. Pickwick am Bein, auf die Gefahr hin, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und fing an, ihm dermaßen die Stiefel zu bürsten, daß dem Gelehrten die Hühneraugen glühten, während der andre Mr. Winkle mit einer mächtigen Kleiderbürste bearbeitete und bei dieser Operation den zischenden Ton von sich gab, den Stallknechte gewöhnlich hören lassen, wenn sie ein Pferd abreiben.

Nachdem Mr. Snodgraß seine Waschungen beendet hatte, stellte er sich mit dem Rücken an das Feuer und überschaute, behaglich seinen Kirschgeist schlürfend, die Küche. Er beschreibt sie als einen großen, mit Backsteinen gepflasterten und mit einem breiten Kamin versehenen Raum, die Decke verziert, mit Girlanden von Schinken, Speckseiten und Zwiebelzöpfen, die Wände mit Hetzpeitschen, Riemen, Bügeln, einem Sattel und einer alten verrosteten Donnerbüchse mit der Anschrift: »Geladen!« In der einen Ecke tickte eine ehrwürdige alte Wanduhr, und eine silberne von gleichem Alter hing an einem der vielen Haken über dem Anrichttische.

»Fertig?« fragte der alte Herr, als seine Gäste gewaschen, geflickt, gebürstet und mit Branntwein erquickt waren.

»Stehen zu Diensten«, versetzte Mr. Pickwick.

»Dann bitte ich Sie, mit mir zu kommen«, fuhr Mr. Wardle fort und führte seine Gäste durch mehrere dunkle Gänge in das Wohnzimmer, gefolgt von Mr. Tupman, der einige Augenblicke gezögert hatte, um von Emma einen Kuß zu erhaschen, wofür er gebührend durch heftiges Zurückstoßen und Kratzen gezüchtigt worden war.

»Willkommen«, rief der gastfreundliche alte Herr, die Tür öffnend und eintretend, um die Herren anzumelden. »Willkommen, Gentlemen, in Manor Farm!«


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