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Handelt von Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg. Mr. Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Mr. Pickwicks gutes Herz siegt über seine Hartnäckigkeit.
Hiob Trotter rannte wie besessen Holborn hinauf, bald mitten auf der Straße, bald auf dem Bürgersteig und bald im Rinnstein, je nachdem das Gedränge der Männer, Weiber und Kinder und Wagen abwechselte, und blieb nicht eher stehen, als bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Eile war aber das Tor schon seit einer guten halben Stunde geschlossen. Er sah sich daher um und machte endlich Mr. Perkers Waschfrau ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte, die mit ihrer Hand einen auswärtigen Kellner beglückt hatte und ein paar Zimmer bei einer Brauerei wenig hinter Grays Inn Lane bewohnte.
Mr. Lowten mußte aus dem Hinterzimmer der »Elster« herausgeklopft werden, und Hiob hatte Sam Wellers Botschaft kaum ausgerichtet, als die Glocke zehn Uhr schlug.
»Zu spät«, sagte Lowten. »Sie können nicht mehr zurück. Oder haben Sie vielleicht den Schlüssel?«
»Sorgen Sie sich nicht um mich«, erwiderte Hiob, »ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Mr. Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe zur Stelle sind?«
»Meinetwegen«, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. »Wenn es sich um irgend etwas andres handelte, so würde Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Mr. Pickwick betrifft, so glaube ich wohl einen Wagen nehmen und aufrechnen zu dürfen.«
Nachdem sich Mr. Lowten zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, in seiner Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Droschkenplatz los, wählte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplace, Russellsquare, zu fahren.
Mr. Perker gab an diesem Abend ein Souper, wie der Lichterglanz in den Fenstern des Gesellschaftszimmers verriet. Da zufällig einige wertvolle Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang eine vergnügte kleine Gesellschaft zusammengefunden, bestehend aus Mr. Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Mr. Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissär vom Fallitengericht, einem Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, peremtorischen jungen Herrn, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren anderen hervorragenden Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Mr. Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde, begab sich in das Speisezimmer und traf dort Mr. Lowten und Hiob Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.
»Nun, Lowten«, sagte der kleine Perker und schloß die Tür hinter sich ab, »was gibt's? Sind wichtige Briefe angekommen?«
»Nein, Sir. Aber hier ist ein Bote von Mr. Pickwick, Sir.«
»Von Pickwick? Was will er denn?«
»Dodson und Fogg haben Mrs. Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen«, sagte Hiob.
»Unmöglich«, rief Perker, steckte beide Hände in die Taschen und lehnte sich rücklings an den Kredenztisch.
»Es ist wirklich so«, bekräftigte Hiob. »Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung ein Cognovit für die Prozeßkosten ausstellen lassen.«
»Bei Gott!« rief Perker, in die Hände klatschend, »das sind doch die gescheitesten Leute, mit denen ich je zu tun gehabt habe.«
»Die schärfsten«, bemerkte Lowten.
»Die schärfsten?« wiederholte Perker. – »Jaja, allerdings, die schärfsten.«
»Mhm«, erwiderte Lowten, und dann versanken beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang mit belebten Gesichtern in tiefes Sinnen, gleich, als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand jemals ausgeklügelt hat. Als sie sich einigermaßen von ihrem träumerischen Bewunderungsanfall erholt hatten, entledigte sich Hiob Trotter des Restes seines Auftrags, und Perker nickte gedankenvoll und zog seine Uhr heraus.
»Schlag zehn Uhr werde ich dort sein«, sagte er. »Sam hat vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?«
»Nein, ich danke Ihnen, Sir.«
»Sie meinen ›ja‹ – denke ich«, sagte das Männchen und wandte sich an den Kredenztisch, um eine Flasche und Gläser zu holen.
Da Lowten wirklich »ja« meinte, verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Hiob mit hörbarem Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Hiob natürlich bejahte. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank auf die Gesundheit Mrs. Perkers und ihrer Kinder und Hiob auf das Wohlsein des Herrn Anwalts.
Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten hinauszuleuchten, mußten beide ihren Weg selbst suchen. Der Advokat verfügte sich in sein Besuchszimmer, der Schreiber in die »Elster«, und Hiob ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem leeren Gemüsekorb zu verbringen.
Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der aufgeräumte kleine Anwalt an Mr. Pickwicks Tür. Sam Weller öffnete sofort.
»Mr. Perker, Sir«, meldete er den Besuch Mr. Pickwick, der gedankenvoll am Fenster saß. »Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch mal nach uns sehen, Sir. Ich glaube, der Gouvernör möchte gern 'n paar Worte mit Ihnen sprechen.«
Perker wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Sam, womit er ihm bedeuten wollte, er verstehe, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt, winkte ihn dann näher zu sich und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.
»Nich möglich!« rief Sam und prallte mit äußerster Überraschung einige Schritte zurück.
Perker nickte und lächelte.
Mr. Samuel Weller blickte erst ihn, dann Mr. Pickwick, dann die Stubendecke, dann wieder Mr. Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne weitere Erklärung.
»Was soll das alles bedeuten?« fragte Mr. Pickwick verwundert. »Was hat Sam in diese Aufregung versetzt?«
»O nichts, nichts«, erwiderte Perker. »Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.«
»Was sind das für Papiere?« fragte Mr. Pickwick, als der kleine Advokat ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.
»Die Papiere in Sachen Bardell kontra Pickwick«, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.
Mr. Pickwick stieß mit dem Stuhl auf den Boden, warf sich dann hinein, faltete die Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an – wenn er überhaupt grimmig blicken konnte.
»Sie hören diesen Namen nicht gern?« meinte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.
»Nein, wahrhaftig nicht.«
»Tut mir leid«, fuhr Perker fort, »aber eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.«
»Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker«, unterbrach ihn Mr. Pickwick erregt.
»Pah, pah, mein lieber Herr«, sagte der kleine Mann, band das Paket auf und blickte seinen Klienten dabei aus den Augenwinkeln scharf an. »Wir müssen davon sprechen! Ich bin ausdrücklich deswegen hierhergekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile; wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen gefällig ist. – So.«
Mit diesen Worten schlug Mr. Perker ein Bein über das andre und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.
»Gut, gut«, seufzte Mr. Pickwick und lächelte bereits wieder, »sagen Sie also, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?«
»Nur mit einem kleinen Unterschied, mein lieber Herr; mit einem Unterschied. Mrs. Bardell, die Klägerin in Ihrem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir!«
»Das weiß ich.«
»Sehr gut! Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierhergekommen ist? Ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?«
»Ja; wenigstens hat mir Sam davon erzählt«, versetzte Mr. Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.
»Sams Erzählung«, erwiderte Perker, »ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun gut, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob diese Frau hierbleiben soll?«
»Hierbleiben?!« wiederholte Mr. Pickwick erstaunt.
»Ja, hierbleiben, mein lieber Herr«, entgegnete Perker, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte seinen Klienten.
»Wie können Sie mich so fragen? Das hängt lediglich von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.«
»Nein, ich weiß es nicht«, entgegnete Perker fest. »Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein lieber Herr; es hängt einzig und allein nur von Ihnen ab.«
»Von mir?« rief Mr. Pickwick, sprang hastig von seinem Stuhle auf und setzte sich sofort wieder.
Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte die Worte: »Von Ihnen.
Jaja, mein lieber Herr! Ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, und lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so, Sie kommen dadurch nur in Schweiß, und das hilft doch zu nichts. Ich sage«, fuhr Perker fort, »ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie dies nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, den Gaunern von Freemans Court, ausbezahlen. – Bitte, lassen Sie mich gefälligst ausreden, mein lieber Herr.«
Mr. Pickwick, dessen Mienen während dieser Rede die überraschendsten Wechsel durchgemacht hatte, stand sichtlich auf dem Punkte, loszubrechen, und hielt sich nur mit Mühe zurück; Perker fuhr, sich wieder durch eine Prise Schnupftabak stärkend, unbeirrt fort:
»Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlen, so kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute, Dodson und Fogg nämlich, an dem ganzen Prozeß schuld sind, indem sie sie verleiteten und durch glänzende Vorspiegelungen dazu veranlaßten; daß sie es ferner aufs tiefste bedauere, sich zum Werkzeug hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersuchte, in der Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.«
»Wenn ich die Kosten für sie bezahle!« rief Mr. Pickwick entrüstet. »Wahrhaftig, eine nette Zumutung!«
»Es ist von keinem › Wenn‹ mehr die Rede, mein lieber Herr«, sagte Perker triumphierend. »Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Mrs. Bardell gepflogen hatte; das kann ich Ihnen auf meine Ehre versichern.« Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn Mr. Pickwick hin und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.
»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« sagte Mr. Pickwick, ein wenig besänftigt.
»Noch nicht. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung des Cognovits, die Natur des Scheinkontrakts und die Aufschlüsse, die wir hinsichtlich des ganzen Vorgehens bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein werden, um eine Klage wegen Anstiftung und Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; diese Leute sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rehabilitieren. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese hundertfünfzig Pfund, oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja doch nichts für Sie! Eine Jury hat gegen Sie entschieden und ihr Ausspruch war ungerecht; allein die Geschworenen haben nun einmal entschieden, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erzielen können; denn, glauben Sie mir, mein lieber Herr, jedermann, der Sie nicht kennt, würde es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benutzen, durch die Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und ihre Gesundheit wiederherstellen können? – Eine Gelegenheit, die Ihren treuen, anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie instand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen, die, wie ich weiß, ganz Ihrem Herzen entspricht – und diese Frau von einem Schauplatz des Elends zu erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte, geschweige denn Frauen. Ich frage Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als Ihr juristischer Beirat, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, alles dies zu erreichen und so viel Gutes zu tun, schießen lassen wollen wegen armseliger paar Pfund, die allerdings in die Tasche zweier Schufte wandern, die dadurch aber nicht glücklicher, vielleicht nur um so habsüchtiger werden, und sich möglicherweise um so eher zu einem Schurkenstreich verleiten lassen werden, der mit ihrem Sturze enden muß? So schwach und unvollkommen ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, sie in Erwägung zu ziehen und, solange es Ihnen beliebt, darüber nachzudenken. Ich werde geduldig wie ein Lamm Ihrer Antwort harren.«
Ehe Mr. Pickwick noch etwas erwidern konnte und Mr. Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahm man ein leises Gemurmel draußen und sodann ein schüchternes Klopfen an die Tür.
»Mein Gott!« rief Mr. Pickwick, von den letzten Bemerkungen seines Freundes sichtlich aufgewühlt. »Wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist denn da?«
»Ich, Sir«, erwiderte Sam Weller und steckte den Kopf herein.
»Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam«, sagte Mr. Pickwick ärgerlich. »Ich bin beschäftigt, Sam.«
»Bitte um Verzeihung, Sir. Aber hier ist eine Dame, wo sagt, sie hat Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.«
»Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen«, entgegnete Mr. Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten wie Mrs. Bardell vorschwebten.
»Das möchte ich doch nich so bestimmt behaupten«, drängte Mr. Weller. »Wenn Sie wüßten, wer hier is, denn würden Sie, schätz ich, aus ner andern Tonart feifen, wie der Habicht sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.«
»Wer ist's denn?«
»Wollen Sie selbst sehen, Sir?« fragte Mr. Weller und behielt vorsichtig die Tür in der Hand, als hätte er draußen irgendein merkwürdiges lebendes Tier.
»Nun, so laß sie ein«, sagte Mr. Pickwick mit einem verzweifelten Blick auf Perker.
»Richtig so«, rief Sam. »Jetzt geht der Tanz los! Die Geigen gestimmt, den Vorhang hochgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.« Dabei riß er die Tür auf, und herein stürmte Mr. Nathaniel Winkle, an der Hand dieselbe junge Dame, die in Dingley Dell die hübschen Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.
»Miß Arabella Allen!« rief Mr. Pickwick und sprang von seinem Stuhle auf.
»Nein«, erwiderte Mr. Winkle und ließ sich auf ein Knie nieder, »Mrs. Winkle. Verzeihen Sie mir, mein teurer Freund, verzeihen Sie mir!«
Mr. Pickwick wollte kaum seinen Augen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, hätte nicht das lächelnde Gesicht Perkers sowie die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die beide die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, jeden Zweifel an der Wirklichkeit ausgeschlossen.
»Ach, Mr. Pickwick«, sagte Arabella mit leiser Stimme, durch das Stillschweigen des alten Herrn beunruhigt, »können Sie mir meine Unklugheit verzeihen?«
Mr. Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, umarmte die junge Dame und küßte sie öfter, als unbedingt notwendig gewesen wäre, und sagte dann, fortwährend eine ihrer Hände in der seinigen behaltend, Mr. Winkle sei ein verwünscht frecher Gesell. Er solle übrigens endlich aufstehen. Mr. Pickwick schlug ihm hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte dann Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau wie das hübsche Dienstmädchen aufs wärmste begrüßte, und nachdem er Mr. Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen, seine Freudenbezeigungen damit schloß, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein halbes Dutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.
»Aber mein liebes Kind«, rief Mr. Pickwick endlich, »wie ist denn dies alles zugegangen? Setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie! Wie sie hübsch aussieht, was, Perker?« setzte er hinzu und blickte dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Gesicht, als ob sie seine eigene Tochter sei.
»Zum Entzücken, mein lieber Herr«, beteuerte der kleine Mann. »Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich anwandeln, Sie zu beneiden, Sie Tausendsasa.«
Bei diesen Worten klopfte er Mr. Winkle auf den Rücken, und beide fingen an, laut zu lachen, doch immerhin nicht so laut wie Mr. Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er hinter der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.
»Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy«, sagte Arabella mit ihrem süßesten Lächeln. »Ich werde Ihre Bemühungen im Garten in Clifton nie vergessen.«
»Sprechen Sie da nich von, Madam«, wehrte Sam ab. »Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Ma'am, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihm so lange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.«
»Setzen Sie sich doch, liebe Mary«, unterbrach Mr. Pickwick diese Komplimente. »Und nun, wie lange seid ihr denn schon verheiratet?«
Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:
»Erst drei Tage.«
»Erst drei Tage?« rief Mr. Pickwick. »Aber was habt ihr denn die ganzen drei Monate über getrieben?«
»Jaja«, fiel Perker ein, »rechtfertigen Sie sich nur. Sie sehen, Mr. Pickwick wundert sich darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.«
»Die Sache ging so zu«, erklärte Mr. Winkle mit einem zärtlichen Blick auf seine errötende junge Frau, »ich konnte Bella lange nicht überreden, mit mir durchzugehen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu bieten. Auch Mary mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihre Stelle verlassen konnte, und ihr Beistand war für uns unbedingt notwendig.«
»Auf mein Wort«, rief Mr. Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit so viel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz mitteilen können, »auf mein Wort, ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?«
»Ach nein, nein«, stammelte Arabella und wechselte die Farbe. »Lieber Mr. Pickwick, er darf es nur von Ihnen – nur aus Ihrem Munde erfahren! Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Mr. Sawyer«, fügte sie verschämt hinzu, »daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.«
»Jaja«, meinte Perker ernsthaft. »Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie schon auf niemand sonst hören; Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut!«
»Sie vergessen nur, liebes Kind«, sagte Mr. Pickwick freundlich, »Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin.«
»Nein, mein lieber Mr. Pickwick«, erwiderte Arabella, »gewiß nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Ort leiden müssen. Ich hoffte nur, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigne Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit auf eine Aussöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Mr. Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, fürchte ich, daß ich auch ihn noch verlieren werde. – Ich habe unrecht getan – sehr unrecht; ich weiß es wohl«, schluchzte Arabella.
Mr. Pickwick erschütterten schon diese Tränen gewaltig; als aber Mrs. Winkle ihre Augen trocknete und anfing, ihn mit den süßesten Schmeichelworten zu bestürmen, wurde er sehr unruhig und sichtlich in seinem Entschlusse wankend, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen hervorging.
Mr. Perker benutzte diese Symptome von Unentschlossenheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie auch Mr. Winkle senior von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf der Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse, wie die künftigen Aussichten des Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn ihm dieses große Ereignis lange geheimgehalten werde; wie ferner Mr. Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Mr. Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Mr. Winkle senior aufsuchen könne, zumal dieser ihn mit Recht als Mentor und Ratgeber seines Sohnes betrachte.
So standen die Verhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Mr. Tupman und Mr. Snodgraß erschienen. Mr. Pickwick wurde geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und -argumentiert, und endlich schloß er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf, er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen und brächte es nicht übers Herz, ihrem Glück im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.
Als Mr. Weller von dieser Nachgiebigkeit vernahm, war sein erstes, daß er Hiob Trotter zu dem berühmten Mr. Pell schickte mit der Aufforderung, dem Boten die rechtsgültige Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen des gelehrten Gentleman zu lassen die Vorschrift gehabt hatte; sein zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen Porter verwendete, die er eigenhändig auf dem Ballplatz gratis an alle Durstigen ausschenkte. Dann hallote er in den verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er ganz heiser war, und versank endlich wieder in seine philosophische Ruhe und Sammlung.
Um drei Uhr nachmittags warf Mr. Pickwick einen letzten Blick in sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich herandrängten, um ihm noch einmal die Hand zu schütteln. In dem ganzen Gedränge bleicher, abgezehrter Gesichter war kein einziges, das er nicht durch seine wohlwollende Teilnahme glücklicher gemacht hätte.
»Perker«, sagte er an der Treppe und winkte einen jungen Mann zu sich, »dies ist Mr. Jingle, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.«
»Sehr wohl, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. »Sie werden mich morgen wiedersehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben.«
Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte heftig, als er Mr. Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und wendete sich ab.
»Den Hiob kennen Sie doch?« fragte Mr. Pickwick.
»Ja, ich kenne den Spitzbuben«, erwiderte Perker heiter. »Seien Sie morgen um ein Uhr auch bereit. – Vergessen Sie's nicht. – Nun, gibt es sonst noch etwas?«
»Nein«, entgegnete Mr. Pickwick. »Sam, du hast doch das Päckchen abgegeben, das ich dir für deinen alten Stubengenossen gab?«
»'türlich«, nickte Sam. »Er hat laut aufgeheult und sagte, Sie sind sehr schenerös, daß Sie auch an ihm gedacht haben; er wünschte bloß, daß Sie ihm die galoppierende Schwindsucht hätten einokulieren gekonnt; jetzt, wo sein alter Freund gestorben ist, der wo so lange hier gelebt hat, da kann er sich, meint er, nach keinen neuen mehr umsehen.«
»Der arme, arme Kerl«, seufzte Mr. Pickwick. »Lebt jetzt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.«
Die Menge brach in ein lautes Geschrei aus und umdrängte Mr. Pickwick, um ihm nochmals die Hand zu drücken. Aber er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis, als er es betreten hatte.
Wie viele unglückliche, trostlose Menschen ließ er dort zurück!
Am nächsten Morgen bestiegen Mr. Pickwick und Sam Weller eine Postkutsche.
»Sir«, rief Sam seinem Herrn zu.
»Ja, Sam«, antwortete Mr. Pickwick und steckte den Kopf aus dem Fenster.
»Ich wünschte, die Pferde da hätten auch gute drei Monate in der Fleet hinter sich, Sir!«
»Weshalb denn, Sam?«
»Na, Sir«, rief Sam und rieb sich die Hände, »was meinen Sie, wie die rennen würden!«