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Neununddreißigstes Kapitel

Wie es Mr. Pickwick in der Fleet erging, was für Schuldgefangene er daselbst antraf und wie er die Nacht zubrachte.


Mr. Tom Roker, der Gentleman, der Mr. Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte den Gelehrten durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andre kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflastenen Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

»Dies«, sagte der Gentleman mit einem Blick über die Schulter und steckte die Hände in die Taschen, »dies ist der Weg zur Halle.«

»So«, erwiderte Mr. Pickwick, eine dunkle schmutzige Treppe hinabblickend, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer unterirdischer Steingewölbe zu führen schien, »und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist recht abscheulich, aber zu diesem Zwecke mögen sie wohl brauchbar sein.«

»Na, warum sollten sie nicht brauchbar sein«, meinte der Gentleman, »es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin.«

»Mein Freund«, sagte Mr. Pickwick, »es wird Ihnen doch nicht Ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?«

»Na warum denn nicht?« erwiderte Mr. Roker mit unwilliger Verwunderung, »Warum denn nicht?«

»Da unten leben also wirklich Menschen?« rief Mr. Pickwick.

»Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten«, erwiderte Mr. Roker. »Was liegt denn dran? Wer kann etwas dagegen einwenden? 's is 'n ganz guter Platz zum Leben.«

Da Rocker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Mr. Pickwick umwandte und noch überdies in gereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine in den Adern zirkulierenden Flüssigkeiten vor sich hin murmelte, hielt es der treffliche Gelehrte für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Mr. Roker stieg wieder eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf den Fersen.

»Hier«, zeigte Mr. Roker und schöpfte Atem, als sie eine andre Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten, »hier ist der Kantinengang; es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter; es ist hier; treten Sie ein.«

Nachdem Mr. Roker dies alles in einem Atem heruntergesagt, stieg er mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum hinabsahen. Es war das, wie aus Mr. Rokers Erklärung hervorging, der Ballspielplatz, und nach dem Bericht desselben Gentleman befand sich in dem zunächst an die Farringdonstreet stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher, aber kleinerer Hofraum, der »gemalte Platz« genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andre Kunstleistungen hatte bewundern können, durch die sich weiland ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden verewigt hatte.

Nachdem Mr. Roker diese Erklärung, augenscheinlich mehr um seine Seele von einem wichtigen Geheimnis zu erleichtern, als in der spezifischen Absicht, Mr. Pickwick aufzuklären, von sich gegeben hatte, ging er mit ihm in eine andre Galerie, öffnete eine Tür und schloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen auf, in dem acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

»Hier«, sagte er, hielt die Tür offen und warf Mr. Pickwick einen triumphierenden Blick zu, »hier ist ein Zimmer.«

Mr. Pickwicks Gesicht verriet indes ein so geringes Maß von Zufriedenheit, daß Mr. Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Verständnis suchte.

»Hier ist ein Zimmer, junger Mann«, wiederholte er.

»Ich sehe es«, erwiderte Sam mit freundlichem Kopfnicken.

»Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdonhotel nicht finden«, sagte Mr. Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Mr. Weller auf eine lässige und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie es sich der Beobachter eben auslegen möge. Nachdem er diese Handlung vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Mr. Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, in der es sich nach seiner reizvollen Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

»Diese da«, bedeutete Mr. Roker, auf eine rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. »Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.«

»Dann wären ja«, erwiderte Sam, mit einem Blick ausgeprägten Widerwillens auf das fragliche Möbel, »dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.«

»Das ist wahr«, versetzte Mr. Roker.

»Und«, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa Merkmale eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, »die andern Herren, die hier noch schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?«

»Versteht sich«, sagte Mr. Roker. »Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht mal beim Essen.«

»Muß 'n Kapitalkerl sein«, meinte Sam.

»Ja, freilich, ich bin es doch selbst.«

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Mr. Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes für die Nacht zu erproben; Mr. Roker bedeutete ihm, er könne sich ohne weitere Umstände oder Formalitäten zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben, und ließ ihn sodann mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außerhalb eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten auf den Gang mündenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Mr. Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugierde und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar, in lärmender Unterhaltung bei halbleeren Bierkannen und spielten mit schmierigen Karten »Alle vier«. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Pack beschmutzte, vergilbte und vor Alter beinahe zerfallene Papiere studierte und zum hundertsten Mal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden an einen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen es niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebenten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst, und besonders auf den Treppen, standen eine Masse Leute herum, einige, weil ihnen ihre Zimmer zu leer und zu einsam, andre, weil sie ihnen zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute von allen Klassen da, vom Arbeiter im blauen Kittel bis zum ruinierten Verschwender im feinen tuchenen Schlafrock mit zerrissenen Ellenbogen; aber alle hatten dieselbe Art, sich zu benehmen, eine gewisse leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundisches Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt, wovon aber jeder, der Lust hat, sogleich Einsicht nehmen kann, wenn er einen Fuß in das nächste beste Schuldgefängnis setzt und die Gruppen, die er erblickt, mit genügendem Interesse betrachtet.

»Sam«, sagte Mr. Pickwick und lehnte sich an das eiserne Geländer oben am Treppenabsatz, »es will mir scheinen, als ob die Schuldhaft kaum eine Strafe genannt werden könnte.«

»Wirklich nich, Herr?«

»Du siehst doch, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien. Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.«

»Das is es eben, Herr«, erwiderte Sam. »Die machen sich freilich nicht viel daraus. Sie haben alle Tage blauen Montag, saufen 'n ganzen Tag Porter und kegeln; aber 's gibt auch noch andre, wo kein Bier trinken und nich Kegel schieben können und gerne bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und wo ganz traurig werden. Ich will Ihnen sagen, was es is, Sir; denen, wo den ganzen Tag über in den Kneipen rumkugeln, denen schadet es nichts, aber denen, wo immer arbeiten, wenn sie Arbeit finden, denen schadet es viel zuviel. Es is gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nich gerade halb Rum und halb Wasser war; es is gar zu ungleich, und darum ist die Sache oberfaul.«

»Mir scheint, du hast recht, Sam«, sagte Mr. Pickwick nachdenklich, »du hast sogar völlig recht.«

»Vielleicht gibt es dann und wann auch 'n paar ehrliche Leute, denen es gefällt«, bemerkte Mr. Weller mit gedankenvoller Miene, »aber ich habe noch von keinem nich gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.«

»Wer war denn das?« fragte Mr. Pickwick.

»Das is doch ebend die Sache, die kein Mensch niemals nich erfahren hat«, erwiderte Sam.

»Hm, und was hat er getan?«

»Tja, dasselbe, was manche viel berühmtere Leute auch schon gemacht haben, Sir«, erwiderte Sam, »hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nich ins Gleichgewicht bekommen.«

»Das heißt vermutlich, er hat Schulden gemacht?«

»Ganz genau, Sir. Und so kam er denn im Lauf der Zeit demzufolge hierher. Es war nich viel – Exekution wegen rund neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf für Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln im Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn sowohl seine schmierige Visage wie der braune Rock waren ganz dieselben, am Ende dieser Zeit wie am Anfang. Er war 'n stilles, harmloses kleines Männchen, das sich immer was zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis ihm endlich die Schließer liebgewannen und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und ihnen Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz alleine mit 'nem alten Freunde, wo gerade die Schlüssel hatte, da fing er auf einmal an und sagte: ›Bill, ich habe den Markt draußen nu schon siebzehn Jahre nich mehr gesehen.‹ (Dazumal war gerade der Fleetmarkt.) ›Ich weiß wohl‹, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ›Ich möchte ihn gar zu gerne auf eine Minute wieder sehen, Bill‹, fuhr der Kleine fort. – ›Glaub's wohl‹, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich den Anschein zu geben, als ob er den kleinen Mann nich verstünde. – ›Aber‹, sagte dieser immer dringlicher, ›ich habe es mir nu mal in den Kopf gesetzt. Laß mich die Straße noch mal vor meinem Tode sehen, und wenn mich der Schlag nich rührt, bin ich in fünf Minuten wieder da.‹ – ›Aber‹, sagte der Schließer, ›wat soll aus mir werden, wenn der Schlag dich wirklich rührt?‹ – ›Na‹, erwiderte das kleine Männchen, ›wer mir findet, der wird mir schon wiederbringen, ich habe doch meine Karte in der Tasche: Nummer zwanzig Restaurationsgang.‹ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, zog er jedesmal 'ne kleine, biegsame Karte, wo sonst nichts draufstand, aus der Tasche. Drum nannten sie 'n auch nur die ›Nummer zwanzig‹. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt feierlich: ›Zwanzig, ich will dir trauen; du wirst deinen alten Freund nich in Verlegenheit bringen.‹ – ›Nein, mein Schatz‹, antwortete das kleine Männchen, ›ich hoffe, 's steckt was Besseres hier unten‹, und dabei schlug er sich mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm 'ne Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß niemals Wasser sein Gesicht berührte. Dann schüttelte er dem Schließer die Hand, ging raus –«

»– und kam nie wieder«, ergänzte Mr. Pickwick.

»Vollkommen danebengehauen, Sir!« entgegnete Mr. Weller. »Denn er kam zwei Minuten vor der Zeit zurück und kochte vor Wut und sagte, beinah hätte ihn 'ne Droschke überfahren und er war so was nich gewöhnt und wenn er nich an den Bürgermeister schreiben würde, dann würde es dreizehn schlagen. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre nachher noch hat er nie mehr auch nur 'n Blick zum Tor rausgeworfen.«

»Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?« fragte Mr. Pickwick.

»Nö, auch das nich«, erwiderte Sam. »Er bekam 'n Gelüste, in dem neuen Wirtshaus über der Straße das Bier zu versuchen, und dort war 'n so hübsches Zimmer, daß er sich's in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er lange Zeit tat und immer regelmäßig etwa 'ne Viertelstunde vor Torschluß wiederkam. Das war nun allens ganz hübsch und gut, aber dann wurde er so fidel, daß er nich an die Zeit dachte und sich gar nichts mehr daraus machte, daß es immer später und später wurde, bis er zuletzt einen Abend am Tor ankam, wie sein guter Freund eben zuschließen wollte und hatte schon den Schlüssel umgedreht. – ›He, Bill, halt!‹ rief er ihm zu. – ›Bist du denn noch nicht zu Hause, Nummer zwanzig?‹ sagte der Schließer, ›ich dachte, du bist schon lange da.‹ – ›Ach, wo werd ich denn‹, sagte der Kleine lächelnd. – ›Denn will ich dir mal was sagen, guter Freund‹, sagte der Schließer und machte das Tor langsam und bedächtig wieder auf, ›ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß du in letzter Zeit in schlechte Gesellschaft geraten bist. Ich will ja nicht zu hart mit dir verfahren, aber wenn du dir nich an orntliche Leute halten tust und zur regelmäßigen Stunde wiederkommen tust, denn schließe ich dir ganz und gar aus, so wahr ich hier stehe.‹ Na, und da fing der kleine Mann an, mächtig zu zittern und zu beben, und seitdem ging er nie mehr aus dem Gefängnis raus.«

Als Sam geendet, ging Mr. Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab geschritten, sagte er, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen; Sam solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wiederkommen, um für die Herbeischaffung der Garderobe aus dem »Georg und Geier« Sorge zu tragen. Mr. Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so viel Anstand, als er aufbringen konnte, nachzukommen, legte aber nichtsdestoweniger einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar so weit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passender wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte; da er indes Mr. Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, zog er sich endlich zurück.

 

Mr. Pickwick war äußerst gespannt und fühlte sich höchst unbehaglich – nicht wegen Mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein hätte er sich ohne weiteres Einführungszeremoniell die beste Kameradschaft einiger auserwählter Geister erkaufen können –, allein er fühlte sich einsam unter dem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekerkert zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht im entferntesten ein, sich damit loszumachen, daß er den Betrügereien Dodson und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Restaurationsgang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus und ein gingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um ihren Besuch zu empfangen, den Gang auf und ab. Als sie an Mr. Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, indes der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Mr. Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um dies zu ertragen, er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in bezug auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen zu sein. Mr. Pickwick setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstatt nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Nachdem er auf mathematischem Wege herausgebracht, daß es vielleicht so viel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons, fing er an, sich zu wundern, welche Versuchung wohl eine trübsinnige Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, verlockt haben möge, in ein Gefängnis zu kommen, während sie doch unter so vielen lustigen Wohnungen die Wahl habe – eine Betrachtung, die ihn zu dem unabweislichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er über diesen Punkt ins reine gekommen, fing er an, sich bewußt zu werden, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht hatte, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte ein.

 

»Bravo! Fersen höher! Hoppla! Hopsa! Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Hemisphäre ist. Holla ho!« Diese und ähnliche, mit tobendem Geschrei hervorgelärmten und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Mr. Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte kaum aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster klirrten und die Bettladen erzitterten. Mr. Pickwick schrak auf und blieb, einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken, aufrecht sitzen.

In seinem eignen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten grünen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die populärste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Grazie auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich phantastisch war. Ein andrer Mann, offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis gestattete, ein komisches Lied mit sentimentalem Text, indes ein dritter, gleichfalls auf einem Bette, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch das Übermaß von Empfindung, das Mr. Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatte, anfeuerte.

Dieser letzte war ein bewunderungswürdiges Muster von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind und – im unvollkommenen Zustand gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern zu treffen sind, aber ihre volle Blume erst in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung wohlweislich einzig und allein zu ihrer Erziehung geschaffen zu sein scheinen, entfalten.

Er war ein langer Kerl von olivenbrauner Gesichtsfarbe, hatte lange, dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Tennis gespielt hatte, und sein offner Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Troddeln daran, die zu dem gemeinen Barchentrock sich sehr hübsch ausnahmen. Seine Beine, lang und dünn, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu setzen. Da sie indes etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft war, so fiel sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade so weit herab, um ein Paar schmutzige weiße Strümpfe sehen zu lassen. In dem ganzen Wesen des Mannes sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischen Spitzbubentums aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Figur war die erste, die bemerkte, daß Mr. Pickwick zuschaute; sie winkte hierauf dem »Zephyr« zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

»Gott segne den ehrenwerten Gentleman in Zeit und Ewigkeit«, rief der »Zephyr« aus, drehte sich um und legte die äußerste Überraschung an den Tag. »Der Gentleman ist bereits erwacht. Heda, Shakespeare! Wie befinden Sie sich, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? Und die liebwerte alte Madam zu Hause, Sir? – Wollen Sie die Güte haben, dem ersten Paketchen, das Sie ihr schicken, meine Komplimente beizufügen.«

»Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, wo Sie sehen, daß er ungemein durstig ist«, verwies der Schnurrbart in scherzhaftem Ton. »Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?«

»Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen«, erwiderte der andre. »Was belieben Sie zu trinken, Sir? Wünschen Sie Portwein, Sir? Oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir, oder vielleicht ziehen Sie lieber Porter vor, Sir? Gestatten Sie, daß ich Ihre Nachtmütze aufhänge, Sir!«

Mit diesen Worten schnappte der Gentleman genanntes Bekleidungsstück von Mr. Pickwicks Kopf weg und setzte es im Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied herunterzuleiern.

Jemand mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutzfinken aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Späße. Auch Mr. Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkt aus, sprang, ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, wie der Blitz aus dem Bett und versetzte dem »Zephyr« einen derben Schlag auf die Brust, riß dann seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

»Nur heran!« rief er dabei, keuchend sowohl vor Zorn als infolge des ungewohnten Kraftaufwandes. »Nur heran, ihr beiden!«

Diese freundliche Einladung begleitete der Treffliche mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Mr. Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit oder die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und unaufhaltsam den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner konsternierte – kurz und gut, konsterniert waren sie, und statt den Versuch zu machen, ihn zu erschlagen, wie Mr. Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

»Wacker! Bravo!« rief der »Zephyr«. »Sie gefallen mir. Hüpfen Sie nur jetzt wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich nicht böse auf uns sein.« Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

»Oh, gewiß nicht«, versicherte Mr. Pickwick, plötzlich sehr munter, denn jetzt, wo die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

»Gestatten Sie mir die Ehre, Sir«, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart und reichte ihm ebenfalls die Rechte hin.

»Mit Vergnügen, Sir«, erwiderte Mr. Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

»Mein Name ist Smangle, Sir«, stellte sich der Mann mit dem Schnurrbart vor.

»Ah, schön«, sagte Mr. Pickwick.

»Und meiner Mivins«, sagte der Mann mit den Strümpfen.

»Freut mich, es zu vernehmen«, erwiderte Mr. Pickwick.

»Hem«, hustete Mr. Smangle.

»Sagten Sie etwas, Sir«, fragte Mr. Pickwick.

»Nein, Sir.«

»Dann habe ich mich geirrt, Sir«, versetzte Mr. Pickwick.

Alles dies ließ sich sehr nett an; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß mit dem neuen Bekannten zu gelangen, versicherte Mr. Smangle Mr. Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine bedeutende Hochachtung vor ihm hege.

»Kommen Sie durch den ›Hof‹ hierher, Sir?« fragte er dann unvermittelt.

»Durch was?« fragte Mr. Pickwick.

»Durch den ›Hof‹ – Portugalstreet – Sie wissen schon.«

»O nein.«

»Das Geld ausgegangen vielleicht?« forschte Mivins.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte Mr. Pickwick. »Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen, und bin deswegen hier.«

»So, so«, sagte Mr. Smangle. »Mein Verderben war Papier.«

»So sind Sie vielleicht Buchhändler, Sir?« fragte Mr. Pickwick unschuldig.

»Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, meine ich damit Wechsel.«

»Aha, jetzt verstehe ich Sie«, sagte Mr. Pickwick.

»Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen«, fuhr Smangle fort. »Was ist auch schließlich dran? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bin ich deswegen schlimmer dran als vorher?«

»Nein, nicht um ein Haar«, bekräftigte Mr. Mivins.

Und er hatte ganz recht. Mr. Smangle war sogar weit besser daran, zumal er sich nicht um einen Wohnort umzusehen brauchte.

»Lassen wir das jetzt«, sagte er, »das ist trockene Arbeit. Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus; der letzte Ankömmling hat zu bezahlen. Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, ehrliche Arbeitsteilung.«

Mr. Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an und gab Mr. Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit und eilte schnurstracks in die Kantine.

»Was haben Sie ihm denn gegeben?« flüsterte Smangle in dem Augenblick, als sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

»Einen halben Sovereign.«

»Ein verteufelt liebenswürdiger Gentleman, der Mivins«, lobte Mr. Smangle, »höllisch liebenswürdig. Ich kenne keinen bessern Kameraden, aber – hm+…«

»Sie werden doch nicht sagen wollen, daß der Herr imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?«

»O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage doch ausdrücklich, daß er ein Gentleman ist«, erwiderte Mr. Smangle. »Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder am Ende auf der Treppe das Geld verliert, so könnte es nicht schaden. Heda, Sie, gehen Sie mal hinunter und sehen Sie nach dem Herrn.«

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern dreinblickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

»Sie wissen doch die Restauration? Laufen Sie hinunter und sagen Sie dem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch warten Sie mal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn drankriegen werden«, fügte Smangle mit pfiffigem Blick hinzu.

»Nun, wie denn?« fragte Mr. Pickwick.

»Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Eine famose Idee! Laufen Sie schnell hinunter und melden Sie es ihm. – Sie sollen nicht zugrunde gehen, ich werde sie rauchen.«

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig erdacht und wurde mit solch unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Mr. Pickwick es nicht verhindert hätte, wenn es auch in seiner Macht gestanden wäre. In kurzer Zeit kam Mr. Mivins mit dem Sherry zurück, den Mr. Smangle in zwei kleine zersprungene, schmutzige Krüge schüttete und dabei die kluge Bemerkung machte, ein Gentleman dürfe unter solchen Umständen nicht heikel sein; – wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein so vortreffliches Einverständnis erzielt worden, begann Mr. Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr beliebt bei dem hohen und niederen Adel des Königreichs.

 

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentlemans zu Ende waren, hatte sich Mr. Mivins ins Bett begeben und schnarchte, dem schüchternen Fremdling und Mr. Pickwick den vollen Genuß von Mr. Smangles Erlebnissen gönnend.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Herren von den ergreifenden Passagen, die man ihnen vortrug, nicht genügend erbaut. Mr. Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach und von Mr. Smangle vermittels des Wasserkruges höflich bedeutet wurde, die Zuhörerschaft mit Gesang zu verschonen. Er nickte jedoch gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Mr. Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, die sich hauptsächlich darum drehte, daß er bei gewissen ausführlich geschilderten Gelegenheiten eine große Zeche gemacht und, ohne sich etwas zu vergeben, nichts bezahlt habe.


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