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XVII.

Efix weilte nun wieder auf dem Gut. Am Ende der Sommerszeit, nach der Fruchtlese war Zuannantò, dem sein Herr aufgetragen hatte, eine Schafherde auf die Binsenniederung am Rande des Dörfchens zur Weide zu treiben, im Guten gegangen.

Und so sitzt Efix nun wieder auf seinem Lieblingsplätzchen vor der Hütte, unter dem blaugrünen Schilfrohr am Hang. Rot wölbt sich der Himmel über dem weißen Lande, ein sanfter Wind weht, und das Schilfrohr flüstert und raunt: Weißt du noch, Efix, weißt du noch ... Bist fortgegangen, bist heimgekehrt, weilst nun wieder unter uns, wie unter Wesen deinesgleichen. Der eine beugt sich im Wind, der andere zerbricht, ein dritter hält sich noch, doch morgen beugt auch er sich, übermorgen zerbricht auch er. Weißt du noch, Efix, weißt du noch ...

Er flocht eine Binsenmatte und betete. Hin und wieder ließ ein stechender Schmerz in der Seite ihn jäh auffahren, als stieße ihm jemand eine Eisenstange ins Kreuz; dann sank er wieder in sich zusammen, bleich und zitternd, wie ein Rohr im Wind. Doch nach dem quälenden Schmerz verspürte er immer eine große Schwäche, eine fast köstliche Ermattung, denn er hoffte, bald zu sterben. Sein Tagewerk war vollbracht.

Aber solange er konnte, harrte er aus auf dieser Scholle, die all seine Kraft, all seine Tränen aufgesogen hatte.

Der Herbst zog ins Land, mit sanften Oktobertagen, mit ersten Novemberfrösten. Die Berge am Anfang und Ende des Tals schienen Feuer zu speien; von fahlen Flammen durchzüngelte Rauchwolken, blaue Lavaströme und rötliche Feuersäulen stiegen dort aus dem Meer empor.

Gegen Abend klärte sich der Himmel auf, alles Silbererz der Welt schien sich am Horizont zu gewaltigen Blöcken und Wällen aufzutürmen, unsichtbare Hände formten es zu Häusern, Palästen, ganzen Städten und rissen sie dann wieder ein; Ruinen über Ruinen, überwuchert von goldenem Gras und rötlichem Buschwerk, schimmerten dort fahl im Dämmerschein; Rudel von grauen und schwarzen Rossen jagten vorbei, ein gelber Fleck erglänzte hinter einer zerfallenen Burg, wie das Feuer eines dort verborgenen Einsiedlers oder Strauchdiebes – es war der aufgehende Mond.

Allmählich überflutete sein Licht die ganze Landschaft, und aller Zauber verwehte, wie ausgelöscht von Geisterhand. Ein blauer See überschwemmte den Horizont, die kalte, klare Herbstnacht wölbte sich von den Bergen zum Meer, mit großen Sternen am Himmel und fernen Feuern auf der Erde. In der Stille rauschte der Fluß wie das Blut des schlummernden Tals. Und Efix fühlte, wie der Tod durchs Land zog, wie er lautlos den Pfad heraufgeschlichen kam, begleitet von einer Schar ruheloser Geister, vom Geflüster der unschuldigen, in Blätter und Blumen verwandelten Kinderseelen ...

Eines Nachts schreckte er jäh aus dem Schlafe auf, als wenn ihn jemand wachgerüttelt hätte.

Ihm war, als stürzte sich ein gespenstisches Wesen auf ihn und wühlte ihm ein Messer in den Leib, als sprudelte all sein Blut aus dem zerfetzten Körper – über den Strohsack, über sein Haar, sein Gesicht, seine Hände ...

Er schrie laut auf, als wenn man ihn wirklich ermorden wollte, aber nur das Rauschen des Flusses antwortete aus der Nacht.

Da übermannte ihn die Angst, und er beschloß, ins Dorf zurückzukehren; aber stundenlang konnte er sich nicht rühren, schwach, wie vom Blutverlust erschöpft.

Im Morgengrauen richtete er sich endlich auf. Leb wohl, alte Hütte, leb wohl! Diesmal ging er für immer und brachte vorher alles in Ordnung. Die Ackergeräte kommen in den Hintergrund, der zusammengerollte Strohsack daneben, der Wasserkessel an den Holzpflock in der Wand, das Binsenbündel in die Ecke, hinter den blankgefegten Herd. Ja, fein säuberlich geordnet hinterließ er alles, wie ein guter Knecht, der geht und Wert legt auf die Meinung seines Nachfolgers.

Den Sack nahm er mit, pflückte noch eine Jasminblüte von der Hecke und blickte sich noch einmal lange um.

Es war ganz still. Die Geister der Nacht hatten sich hinter den Morgennebel verzogen, und auch das Wasser rauschte leiser, wie um seinen Schritt um so lauter den Weg hinabtönen zu lassen. Nur die Blätter des Schilfrohrs bewegten sich am Hang, spitz und starr wie Schwerter, die gegen den metallenen Himmel klirrten.

Leb wohl, Efix, leb wohl ...

   

Er kehrte heim zu seinen Herrinnen und streckte sich auf den Strohsack.

»Gut, daß du hergekommen bist«, sagte Fräulein Esther und deckte ihn mit einem Laken zu. Auch Noemi beugte sich über ihn, fühlte seinen Puls, packte ihn am Arm und versuchte ihn zu bewegen, aufzustehen und sich ins Bett zu legen.

»Lassen Sie mich hier liegen, liebes Fräulein Noemi«, seufzte er und lächelte mit unsteten, schon vom Tod verschleierten Augen, fast wie der Blinde. »Hier gehöre ich her.«

Später schüttelte ihn ein neuer Anfall, und während seine Herrinnen den Arzt holen ließen, begann er schon im Fieber zu reden.

Die Küche füllte sich mit Spukgestalten, das Schreckgespenst der Nacht, das unaufhörlich mit dem Messer auf ihn einstach, schrie ihm ins Ohr: Beichte! Beichte!

Auch Esther kniete sich zu ihm auf den Strohsack und flüsterte: »Efix, mein Guter, sollen wir Hochwürden Paskal holen? Er wird dir aus dem Evangelium vorlesen, und dir wird leichter werden ...«

Aber Efix starrte sie erschrocken an, mit verglasten Augen, die tief in dem dunklen, schweißbeperlten Gesicht lagen. Das Grauen vor dem Tode würgte ihn, er hatte Angst, daß seine Seele aus dem Leib entfliehen könnte, wie er damals aus dem Hause seiner Herrinnen entflohen war, daß sie, ausgestoßen aus dem Himmel der Gerechten, ruhelos und verdammt mit den Talgeistern umherirren, nie wieder Frieden finden könnte. Aber er wollte den Priester nicht. Stärker noch als das Grauen vor dem Tode und der ewigen Verdammnis war die Angst vor der Enthüllung seines Geheimnisses.

Da tritt Don Predu ein, setzt sich zu ihm auf den Strohsack und beginnt zu scherzen. Er ist guter Laune, ist wieder dicker geworden, die goldene Kette hängt nicht mehr ganz so tief auf seinen schwarzen Wams herab.

»Was tust du hier, Alter? Wäre es dir bei mir vielleicht schlecht gegangen? Aber du bist wie eine Katze, die immer wieder zu ihrem alten Herrn zurückläuft, auch wenn man sie im Sack fortträgt. Los, laß uns gehen, kannst dich in Stefanas Bett legen.«

Auch Noemi, die sich mit einem dampfenden Teller in der Hand über ihn beugt und ihm den Schweiß vom Gesicht wischt, versuchte es ihrem beleibten Bräutigam gleichzutun.

»Komm, iß! Oder willst du als alter Hagedorn sterben?«

»Gut«, sagte Efix, hob den Kopf und schob die Suppe von sich, »gehen wir in Gottes Namen ...«

»Was redest du da? Willst du schon wieder fortgehen? Sieh mal an, was für ein alter Herumtreiber ...«

»Na, wird's bald, Alter? Wir wollen doch zu Stefana gehen, sie hat auch einen schönen Apfel für dich ... Los, alter Junge!«

Aber Efix ließ den Kopf wieder sinken und schloß die Augen, nicht weil er sich verletzt fühlte durch die Späße seiner Herren – nein, weil er sich so fern von ihnen fühlte. Fern von allen, unendlich fern, mit einer schweren Bürde auf dem Rücken, einer gewaltigen Last, so daß er weder vor noch rückwärts konnte.

Endlich kam der Arzt. Er klopfte ihn gründlich ab, trommelte mit seinen Fingerknöcheln wie ein Tambour auf seinem harten Leib herum, drehte ihn hin und her und warf dann das Laken wieder über ihn, wie über ein in der Sonne gehendes Brot.

»Die Leber spielt dir übel mit. Du mußt dich ins Bett legen, Efix.«

Der Kranke winkte mit dem Finger ab.

»Sterben muß ich doch. Lassen Sie mich ruhig als Knecht sterben.«

»Vor Gott gibt es weder Knechte noch Herren«, sagte Fräulein Esther, und Don Predu bückte sich und versuchte ihn mit seinen Armen aufzuheben.

»Still, Alter! Ganz still!«

Aber Efix begann zu stöhnen und sich schwach zu wehren wie ein verletztes Vöglein, das noch die Flügel regt.

»Ihr wollt mich wohl noch früher unter die Erde bringen ...«

Da gab der Arzt ihnen mit Hand und Kopf einen heimlichen Wink, die Augen vielsagend dem Himmel zugewandt, und Don Predu legte den Kranken wieder hin, deckte ihn zu und ließ seine Späße bleiben.

So ließen sie ihn liegen. Und die Stunden und Tage verrannen, und Efix träumte im Fieber, daß er mit den Blinden bergauf, bergab durch die Täler und Hochebenen wandere. Er träumte von den Festen und klingenden Münzen, die vor ihm niederfielen, träumte von den mitleidigen Frauen und schmucken jungen Burschen, die auf den weißscheckigen Berberhengsten am Berghang entlangtobten und ihm aus der Ferne Geld und spöttische Worte zuwarfen.

Aber hohe, verräucherte Wände mit kupferroten Flecken und einer Bank im Hintergrund versperrten ihm stets den Blick in die Weite. Über sie kam er nicht hinweg, und er mußte doch über sie hinweg, um sich zu befreien von seiner Last, um zu genesen von seinem Leiden.

Zweimal überraschte Noemi ihn, wie er aufgestanden war und gerade den Hof verlassen wollte. Da zogen sie den Schlüssel vom Tor ab.

Esther beugte sich zu ihm herab, schüttelte die Kissen auf, deckte ihn gut zu und fühlte seinen Puls.

»Efix, der Herr Pfarrer wird dich später besuchen.«

Und wieder winkte er mit dem Finger ab und schloß die Augen.

In den ersten Tagen fragte hin und wieder jemand, ob er ihn besuchen dürfte; aber Noemi öffnete kaum das Tor und schickte alle fort. Er hörte es von drinnen. Und daß die Leute noch dachten an ihn, der schon so fern war, wie am Ende der Welt, überraschte und beunruhigte ihn.

»Wer hat sich vorhin nach mir erkundigt?« fragte er eines Morgens Fräulein Esther.

»Es wird wohl Zuannantò gewesen sein.«

»Wenn er wiederkommt, liebe Herrin, dann lassen Sie ihn bitte herein. Es wird Zeit, Abschied zu nehmen ...«

»Was fällt dir ein, Efix! Warum diese Hirngespinste? Warum willst du nicht, daß der Pfarrer herkommt? Er würde dir aus dem Evangelium vorlesen, und dann hättest du keine Angst mehr vor dem Tode ...«

Er gab keine Antwort. Nein, sie konnten ihn nicht täuschen. Aber noch war seine Stunde nicht gekommen, noch klammerte er sich am Leben fest, nur weil er Angst hatte, seine schwere Last abzuladen im Hause seiner Herrinnen.

   

Um ihn her gewann das Leben ein neues Gesicht. Ein Hauch von Freude schien durch das Haus zu wehen, wenn Don Predu eintrat, und es hallte wider vom leisen Lachen Fräulein Esthers, von Auseinandersetzungen zwischen den Verlobten, von Plänen und Zukunftsträumen und lustigem Geplauder, nur dann und wann unterbrochen von plötzlichem Schweigen aus Rücksicht auf den Kranken.

Da fühlte er sich im Wege und sehnte den Tod herbei.

Eines Morgens stand Fräulein Esther, die im Zimmer nebenan schlief, um ihn zu pflegen, sehr zeitig auf, machte gründlich Ordnung und sprach dabei leise mit sich selbst, und als sie sich dann über ihn beugte, um ihm ein Täßchen warme Milch einzuflößen, sagte sie:

»Freu dich, Efix! Heute wird Predu den Hochzeitstag festsetzen. Freust du dich?«

Er nickte stumm. Dann zog er das Laken über den Kopf und hatte das Gefühl, er sei schon gestorben, freue sich aber trotzdem am Glück seiner Herrinnen.

Auch Noemi stand heute zeitig auf, zankte mit der Schwester und sagte hochmütig: »Warum soll er den Tag der Hochzeit bestimmen und nicht ich? Ich bin doch keine Bäuerin, die sich nach dem allgemeinen Brauch richten muß.«

»Wie ungeduldig du bist. Aufgeboten seid ihr doch schon, und alles übrige werden wir heute besprechen.«

Noemi war sehr aufgeregt, und Efix hörte, wie sie mit leisen, aber rastlosen Schritten im Hause hin und her ging. Endlich setzte sie sich an die Tür und nähte schweigend, und als Don Predu dann kam, raffte sie wohl das Linnen hoch, um ihn vorbeizulassen, hob aber kaum das Gesicht und erwiderte seinen Gruß nur mit einem flüchtigen Kopfnicken. Und da kam auch schon Fräulein Esther die Treppe herabgeeilt, im Gehen noch das Kopftuch zusammenbindend, bereit zu vermitteln zwischen den Brautleuten, zwischen denen sich häufig Mißverständnisse einschlichen, weil Noemi über jedes Wort beleidigt war und alles falsch auslegte, trotz Don Predus gutem Willen.

Der war gleich zu Efix geeilt und sah nun auf ihn herab.

»Na, wie geht's? Ganz gut, wie mir scheint. Los, aufgestanden!«

Efix hob die tiefliegenden, stumpfen Augen, und als Don Predu sich zu ihm herabbeugte, um ihn zu stützen, streckte er die Hand aus, wie um den gewaltigen Leib des anderen von sich zu schieben, der seinen schon der Auflösung entgegengehenden berührte.

»Gehen Sie, gehen Sie ...«

Und Don Predu ging auf seine Braut zu und setzte sich neben sie.

»Wie ist die Laune heute?«

»Laß das sein, Predu, ziehe nicht an dem Stoff, sonst steche ich mich ...«

»Das will ich ja gerade.«

»Predu, laß mich los, du bist wie ein dummer Junge.«

»Deine Schuld. Hättest mich eben nicht verwünschen, nicht kindisch machen sollen ...«

»Predu! Hör auf!«

»Weißt du, was die siebengescheite Stefana sagt? Sie sagt, du hättest den Fluch jetzt ins Gegenteil verwandelt. Erst hättest du mir die Schwindsucht an den Hals gewunschen und jetzt die Fettsucht ...«

»Alberne Späße, Predu. Aber deine Mägde haben eine lose Zunge.«

»Aber es steht doch fest, daß ich immer dicker werde. Es gibt nur ein Mittel, den bösen Zauber zu brechen ...«

Fräulein Esther lehnte an Noemis Stuhl und sah den Vetter stumm und erwartungsvoll an. Und wirklich wandte er ihr das Gesicht zu, schlug sich auf die Knie und sagte: »Also, wann wollen wir diesen Bann endlich brechen?«

»Das mußt du bestimmen, Predu.«

Noemi nähte noch immer. Aber auch sie hob das Gesicht, ihre Augen leuchteten auf, doch sie senkte sie gleich wieder und sagte kein Wort.

»Nun, Esther, ich möchte vorschlagen: noch vor Allerseelen.«

»Gut. Vor Allerseelen also.«

»Glaubst du, daß Mitte des Monats alles fertig ist?«

»Gewiß, Predu, bis dahin ist alles fertig.«

»Ausgezeichnet.«

Tiefe Stille. Noemi nähte, Fräulein Esther blickte über ihre Schulter. Schließlich fragte Don Predu fast schüchtern: »Und was sagst du dazu?«

»Wovon habt ihr denn gesprochen?«

»Noemi!« rief Esther vorwurfsvoll. Aber der Bräutigam winkte ihr zu, zu schweigen, und begann wieder das Linnen von Noemis Schoß zu ziehen.

»Von dem bösen Zauber haben wir gesprochen. Daß wir ihn brechen müssen, ehe ich zu dick werde. Auf welche Weise, fragst du? Nun, so! Wohl bekomm's allen Zuschauern!«

Und zwischen dem verlegenen Lachen Esthers und dem empörten Widerspruch Noemis, die er bei den Schultern gepackt hielt, hörte man einen lauten Kuß durch den Raum schallen.

Wie glücklich ich bin. Jetzt kann ich endlich sterben, dachte Efix unter dem Laken; aber ihm war, als könnte er noch nicht von dannen gehen, als könnte er den Bannkreis dieser Wände noch immer nicht verlassen.

Don Predu blieb den ganzen Tag da, die Basen hatten ihn zum Essen eingeladen. Er sprach, lachte, machte sich nun wieder lustig über alle anderen; aber von Zeit zu Zeit verstummte er, zumal Noemi ihn kaum zu beachten schien. Tiefes Schweigen umgab dann Efix, und er fühlte wieder, daß er im Wege war, daß er den Herrinnen und sogar Don Predu nur zur Last fiel, ihnen heimliches Grauen einflößte.

Es galt zu scheiden, galt die Brautleute zu befreien von seiner Gegenwart, damit sie sich lieben und scherzen konnten, ohne ständig das Bild des Todes vor Augen zu haben.

Und auf einmal glaubte er im Dunkeln, unter dem Laken, zu begreifen, warum er noch nicht scheiden konnte. Etwas hielt ihn noch fest im Hause seiner Herrinnen, etwas wie eine unbeglichene Schuld, die er vorher noch begleichen mußte.

Und als Fräulein Esther sich dann über ihn beugte, im Glauben, daß er schlafe, und den Saum des Lakens leicht zurückschlug, sah sie ihn mit weitgeöffneten Augen, mit rotem Gesicht und zuckenden Lippen auf dem Stroh liegen.

»Nun, Efix, was hast du?«

Er gab ihr mit den Lidern zu verstehen, daß sie sich noch tiefer zu ihm beugen sollte, und murmelte mit schwacher Stimme, ganz nah ihrem Gesicht: »Bitte, liebes Fräulein Esther, lassen Sie Hochwürden Paskal holen.«

Nach der Beichte sprach er nicht mehr, klagte er nicht mehr. Mit verhülltem Haupt lag er da, und wenn Fräulein Esther das Laken zurückschlug, sah sie jedesmal, wie sein armes Gesicht immer kleiner wurde, bläulich und zusammengeschrumpft war wie eine gedörrte Pflaume. Eines Abends öffnete er die Augen, starrte sie mit seinen erschrockenen, tief ans Herz rührenden Blick an und murmelte dumpf: »Geduld, liebes Fräulein Esther! Es ist bald so weit ...«

»Was ist so weit, Efix?«

»Der Weg ... Er nimmt kein Ende.«

Und wirklich glaubte er ständig zu wandern und zu wandern. Er stieg auf einen Berg, durchquerte eine Heide; aber an ihrem Rande tat sich ein anderer Berg auf, eine andere Heide, und dahinter das Meer.

Jetzt aber wanderte er ruhig seines Weges und war nur traurig, daß er nie ein Ende nahm, daß er das Haus seiner Herrinnen nicht erlösen konnte von seinem Leibe. Doch eines Tages oder Nachts – er wußte nicht mehr, welche Tageszeit es war – glaubte er vor der Mauer des Gutes, hoch über dem Schilfrohr am Hang, angelangt zu sein und ermattet auf die Steine zu sinken. Das Schilfrohr rauschte, neigte sich über ihn, streichelte ihn zärtlich mit seinen Blättern, die etwas Lebendiges hatten, wie Finger, wie Zungen. Und es sprach zu ihm, und ein Blatt kitzelte ihn am Ohr, damit er aufmerksamer lauschen sollte. Es war ein geheimnisvolles Flüstern und Raunen, in dem die Stimme des Flusses, der eintönige Gesang der Pilger, das Pochen der Mühle, der seufzende Klang von Zuannantòs Ziehharmonika nachzuklingen schienen. Er lauschte, flach auf der Mauer ausgestreckt, und sah auf der einen Seite die Küche seiner Herrinnen, auf der anderen ein unendliches Nebelmeer, wie damals vom Gipfel des Gonareberges.

Fräulein Esther kam aus dem Tal herauf, einen schwarzen Fittich vor dem Antlitz. Sie hob ihn, zeigte ihr düsteres, leidvergrämtes Gesicht und ihre vom Mitleid verschleierten Augen, wich aber erschrocken zurück von der Mauer, wie aus Angst, in die Tiefe zu stürzen. Und dort kamen noch mehr Gestalten den Hang herauf, jede einen schwarzen Fittich vor dem Gesicht. Auch sie traten, einer nach dem anderen, an die Mauer, wichen aber gleich wieder entsetzt zurück, wie aus Grauen vor dem Abgrund.

Efix erkannte sie alle wieder, hörte sie sprechen, fühlte, daß sie lebendig und wirklich waren. Aber er sah sie nur wie im Traum, es waren Traumgestalten des Lebens.

Da war der Priester, da war Milese und Zuannantò, da waren die Mägde Don Predus und Don Predu selbst und Noemi. Manchmal faßte sich einer von ihnen ein Herz und versuchte ihm zu helfen, ihn herabzuziehen von der Mauer – vergeblich ...

Er aber blickte sich nicht um. Erst als sich eines Tages eine Hand auf seine Schulter legte und eine Stimme ganz leise an seinem Ohr ihn rief, schreckte er auf.

Efix! Efix!

Giacintos Gesicht, seine sanften, mitleidig schimmernden Augen sahen wie aus weiter Ferne auf ihn herab. Zwischen all den toten Gestalten schien er der einzige lebendige zu sein, so lebendig, daß seine warmen Hände beinahe die Kraft hatten, ihn emporzuziehen und wieder aufzurichten in der Welt des Diesseits.

Doch ein kurzer Augenblick nur, dann verblaßte auch er, verlor an Kraft, verwandelte sich in einen gespenstischen Schatten, und Efix empfand tiefen Schmerz, als wenn Giacinto sterben müßte, nicht er.

»Aufgewacht, Efix! Was hast du denn? Hast du mir nichts zu sagen? Ich bin zu dir gekommen. Hörst du, ich bin hier. Sie wollten mich nicht hereinlassen, und so bin ich über die Mauer geklettert. Aufgewacht, sieh mich doch an!«

Er schaute ihn an, aber er sah seine Augen nicht mehr.

»Tante Noemi ist schleunigst fortgelaufen, als sie mich sah. Sie wird mir nie verzeihen. Sprich, was hat sie dir gesagt? Daß sie mich nicht mehr sehen will, daß sie sich geschworen hat, meinen Namen nicht mehr zu nennen? Ich weiß es, aber es macht nichts. Ich bin glücklich, daß sie heiratet. Weißt du schon, was geschehen ist, als ich zum letztenmal hier war? Ich sagte zu ihr: Heirate, Tante! Onkel Pietro ist reich, hat dich lieb, wird dich glücklich machen. – Da sah sie mich verächtlich an, und ich fühlte deutlich, daß sie sich nie dazu entschließen würde. Und dann, Efix, hör zu – wir wollen ganz leise sprechen, sie soll es nicht hören – dann fiel mir dein Rat ein. Ich sah ihr tief in die Augen und sagte: Tante, ich werde Grixenda heiraten. Nur Grixenda, arm wie ich, jung und einsam wie ich, vermag meine Lebensgefährtin zu werden. – Da wurde Noemi bleich wie eine Tote, ich erschrak und ging. Ich weinte – hat sie dir davon erzählt? Aufgewacht, Efix, du hörst mir überhaupt nicht zu. Aufgewacht! Da kommt Tante Esther. Nicht wahr, Tante, Efix stellt sich nur krank, damit er nicht zu meiner und zu Tante Noemis Hochzeit kommen und uns nichts schenken muß? Dabei heißt es, du hättest einen Sack voll Geld heimgebracht von deiner Reise ...«

Efix vernahm die Worte, und er verstand sie auch, aber sie waren ohne Klang, wie geschriebene Worte.

»Aufgewacht, sag mir wenigstens, was du hast! Du erzählst mir nicht einmal, wo du gewesen bist. Weißt du noch, wie du damals in die Mühle kamst und ich dich fragte, wohin du gingest? Und wie du mir zur Antwort gabst: in ein schönes Land. Weißt du nicht mehr? Öffne die Augen, sieh mich an. Wohin gingst du damals?«

Efix schlug einen Augenblick die Augen auf und schloß sie dann wieder, schwer schon vom Schlaf des Todes. Und die Worte Giacintos verloren sich hinter der Mauer, im Rauschen des Schilfrohrs, im Wehen des Windes.

Doch plötzlich schien er sich aufzuraffen und wieder lebendig zu werden. Im Laufe des Abends hatte ein heftiger Anfall seine letzten Kräfte aufgerieben, wie Salz im Mörser. Er war stumm und taub gewesen vor Schmerz und hatte doch gesehen, wie Don Predu mit bekümmerter Miene Noemi ansah. Denn die Hochzeit sollte morgen stattfinden, und wenn er starb, brachte er dem jungen Paar Unglück oder nötigte es, die Trauung zu verschieben. Da tauchte aus der Tiefe des Dunkels, das ihn schon umhüllte, ein ferner Schimmer auf: der Wille, anzukämpfen gegen den Tod.

Er deckte das Gesicht auf und sagte: »Fräulein Esther, ich fühle mich besser. Geben Sie mir zu trinken.«

Beide Herrinnen eilten an sein Lager, und Noemi richtete sein Haupt auf und gab ihm zu trinken.

»Recht so, Efix! Weißt du, was heute stattfindet?«

Er nickte stumm beim Trinken.

»Du freust dich, nicht wahr, Efix? Wie hast du diesen Tag herbeigesehnt. Es muß wie ein Traum sein für dich.«

Wieder nickte er. Ja, es war alles wie ein Traum gewesen, war immer noch ein Traum.

Dann ließen sie ihn allein, da Noemi sich ankleiden mußte. Er hob den Kopf und blickte sich fast verstohlen um und nickte immer wieder zum Zeichen seiner Zustimmung. Alles löste sich im Guten.

Die Hochzeitsfeier fand im Hause des Bräutigams statt, und hier störte nichts den gewohnten Frieden. Aus Rücksicht auf den Kranken hatte Noemi nicht einmal die Küche ausfegen lassen, wie es sonst Brauch ist bei einer Hochzeit. Still, wie ausgestorben ruhten Haus und Hof in der Sonne, der Kater kauerte unbeweglich auf der Bank, schwarz, mit grünen Augen, ein Sinnbild der Einsamkeit. In der Stille hörte man das wurmstichige Gebälk der Veranda knistern, und als Efix den Kopf nun noch etwas höher hob, erblickte er zum letztenmal die zerfallene Kirchhofsmauer und das schimmernde Totengebein.

Da tauchte plötzlich eine fremde Gestalt in der Tür auf. Groß, schlank, in einem engen, schwarzgeblümten, granatroten Gewand, einen Rosenkranz im Haar. Und da und dort blitzte und funkelte etwas in ihrem Gesicht, auf ihrer Brust, an ihren Füßen: die Augen, das Geschmeide, die zierlichen Schuhe ...

Er öffnete weit die Augen und erkannte Noemi. Esther aber, die hinter ihr stand, die Rosen in ihrem Haar und die Falten an ihrem Gewand ordnend, Esther mit den schwarzen Fittichen des über den Schultern sich bauschenden Tuchs, Esther erschien ihm wie der Schatten der Braut.

»Sehe ich nicht gut aus?« fragte Noemi, die stolz aufgerichtet vor ihm stand und an den Aufschlägen ihrer Ärmel zupfte. »Aber findest du das Gewand nicht etwas eng? Man geht jetzt so. Und schau, wie hübsch das ist. Es ist Don Predus Hochzeitsgeschenk.«

Trotz des engen Gewandes beugte sie sich herab und zeigte ihm den Rosenkranz aus Perlmutter, mit einem großen goldenen Kreuz daran.

»Siehst du? Das Kreuz stammt von einem alten Bischof, es gehörte Predus Großmutter, die später ja auch unsere Großmutter war. Und so bleibt es nun in der Familie. Es ist schön, nicht wahr? Sieh den Christus an, er scheint zu lächeln, während Blut und Tränen über seine Wangen rinnen ... Und dahinter, siehst du ...«

Stumm und regungslos, mit schwarzen, dürren Händen den Saum des Lakens umklammernd, sah Efix vor sich hin. Und er schien sich, ein Leichnam schon, noch einmal aufzurichten aus der Welt des Jenseits, um einen letzten Blick zu werfen auf das Glück seiner Herrin. Da beugte sie sich noch tiefer herab, mit zitternden Knien, so daß ihr Gesicht das seine fast berührte, und sagte: »Sieh doch, welch ein seltsames Geschenk, Efix!«

Und sie sah noch blasser aus in ihrem granatroten Gewand, mit ihren düsteren, feucht schimmernden Augen.

Aber darüber war Efix nicht traurig.

»Wir sind zum Leiden geboren wie er«, hauchte er.

Und das war sein einziger Hochzeitswunsch.

   

Von dieser Stunde an sprach er nicht mehr. Ihm war, als klammerte er sich krampfhaft fest am Saum des Lakens, um nicht in die Tiefen des Jenseits hinabzustürzen, und sähe hoch von der Mauer die Welt zu seinen Füßen liegen.

Und dann kommen Don Predu und die Verwandten, um die Braut abzuholen. Sie treten ein, verteilen sich in der Küche wie Traumgestalten, unklar und verschwommen, aber mit seltsam hervortretenden Einzelheiten.

Don Predu ist schwarz gekleidet, in ein neues, knapp anliegendes Gewand, das ihm den Atem nimmt. Sein Gesicht kann Efix nicht klar erkennen, während er den hämischen, schmalen, lautlos lachenden Mund des Milese deutlich sieht, und auch den schweren Leib einer Verwandten seiner Damen, die die Braut zur Kirche geleiten soll, und auch zwei rotbebänderte Kerzen in zwei blassen Kinderhändchen.

Und alle sind ernst und feierlich, als wenn sie ihn, den Toten, holen kämen, nicht die Braut, und gehen leise umher, wie um ihn nicht zu stören.

Esther mit dem über die Schultern herabwallenden Tuch stellt den Hochzeitszug auf: an die Spitze die Kinder mit den hohen Kerzen in der Hand, dann die Braut mit der Verwandten, dann den Bräutigam mit den Trauzeugen, dann die wenigen Hochzeitsgäste und zuletzt Milese, der sich heimlich lustig zu machen scheint über alle.

Nun lassen sie mich allein, denkt Efix mit leichter Bitterkeit. Ganz allein. Und ich habe doch alles vollbracht.

An der Tür drehte sich Noemi noch einmal um und winkte ihm mit dem goldenen Kreuz zum Abschied zu.

Leb wohl! Und wie schon vorhin, bei Giacinto, hatte er das Gefühl, daß sie sterben müßte, nicht er.

Dann gingen sie alle hinaus und fort. Nur Esther beugte sich noch über ihn und schien ihn zu begraben unter ihren schwarzen Fittichen.

»Ich komme bald wieder, sobald ich sie in die Kirche gebracht habe. Ich muß schon mitgehen. Bleib hübsch still liegen.«

Ja, ganz still blieb er auf seinem Lager liegen: unbeweglich und allein. In der Ferne hörte man die Weisen der Ziehharmonika, die Zuannantò zu Ehren des Brautpaares ertönen ließ, und so viele Dinge kamen ihm wieder in den Sinn: Das Stampfen der Mühle in Nuoro, die Wolken über dem Gonareberg, das Rauschen des Schilfrohrs am Hang ... Weißt du noch, Efix, weißt du noch ...

Wie groß die Küche auf einmal ist! Düster und warm, mit fernen Wänden, voll geheimnisvoller Tiefen wie eine nächtliche Höhle. Die Nachtigall schluchzt, der Blinde erzählt seine Mär vom goldenen Palast des Königs Salomo.

 ...alles war dort aus Gold, wie im Himmelreich. Alles war hell und strahlend. Goldene Äpfel, goldene Schüsseln, goldene Matten ...

Und er sah Don Predus Haus mit den fruchtbeladenen Granatapfelbäumen, den Palmen, den Schilfmatten, überhäuft von Trauben und goldenen Kürbissen.

Noemi wird es gut gehen dort. Sie wird in Hülle und Fülle zu essen und zu trinken haben, wird aufblühen, wird Fräulein Esther Geld zum Ausbessern der Veranda geben. Ja, es wird ihr gut gehen dort – gut wie der Königin Saba. Aber auch die Königin Saba war nicht zufrieden ... Auch Noemi wird ihres goldenen Kreuzes überdrüssig werden und in die Ferne ziehen wollen wie die Königin Saba, wie Lia, wie wir alle ...

Aber das wunderte ihn nun nicht mehr. Einmal müssen wir ja alle in die Ferne ziehen, in andere Gefilde, wo es erhabenere Dinge gibt als hier.

Und so rüstete er sich zum Scheiden.

Er schloß die Augen und zog das Laken über das Haupt. Und wieder befand er sich auf der Mauer über dem Gut. Das Schilfrohr rauschte, Lia und Giacinto lagerten schweigend vor der Hütte und schauten nach dem Meer in der Ferne.

Da war ihm, als schlummerte er friedlich ein. Doch plötzlich schreckte er zusammen, hatte das Gefühl, zu fallen – endlos zu fallen ...

Er war in die Tiefe gestürzt, in das Tal des Todes.

   

Fräulein Esther fand ihn stumm und regungslos unter dem Laken vor: ganz, ganz still.

Sie schüttelte ihn, sie rief ihn, und als sie sah, daß er tot war, daß sie ihn ganz allein hatten sterben lassen, brach sie in Tränen aus, in ein heiseres Schluchzen, vor dem sie selbst erschrak. Sie versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Es war, als schluchzte eine fremde Seele verzweifelt in ihr weiter. Da ging sie in den Hof und schloß das Tor, damit niemand sie stören sollte in ihrem Kummer über den Tod des Knechts, damit die Leute nicht merken sollten, daß sie ihn ganz allein hatten sterben lassen in ihrer Freude, in ihrem Glück.

Und um die bitteren Stunden zu verwinden, richtete sie den Leichnam auf, der dürr und leicht war wie der eines Kindes, wusch ihn, kleidete ihn an und erzählte ihm unter Gebeten, wie die Trauung verlaufen war: daß Noemi weinte beim Betreten ihres reichen neuen Heims – ja, vor Glück weinte –, daß das Haus voller Geschenke war, daß die Menge Ähren und Blumen in den Hof der Neuvermählten warf, um ihnen Glück zu wünschen, daß kurzum alle froh und glücklich waren.

»Und du hast uns das angetan – hast dich heimlich von dannen gestohlen – ohne ein Wort – genau wie damals ... Ach, Efix, das hättest du uns nicht antun sollen ... Heute, gerade heute ...«

Er schien zu lauschen, mit verglasten, halb geöffneten Augen, still und ruhig, doch fest entschlossen, kein Wort zu erwidern als ein guter, ein treuergebener Knecht.

Fräulein Esther, die sich erinnerte, daß er Blumen geliebt hatte, pflückte eine Geranie vom Brunnen und legte sie zwischen seine Hände, auf das Kruzifix. Und schließlich breitete sie noch eine grünseidene Decke, die sie zur Hochzeit herausgenommen hatten, über den Leichnam. Aber die Decke war zu kurz, seine Füße blieben unbedeckt, nach altem Brauche der Tür zugewandt. Und es schien, als ruhte der Knecht ein letztes Mal aus in dem alten Adelshause, ehe er sich rüstete zum weiten Wege in die Ewigkeit.


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