Paula Dehmel
Singinens Geschichten
Paula Dehmel

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Von der Geographiestunde und dem bösen Hagen

Zuerst war es gestern schön in der Geographiestunde; denn wir sind auf der großen Landkarte den Rhein runtergefahren, Onkel Joachim und ich.

Es war eine richtige Reise.

Zu Anfang mußten wir an den hohen Ufern entlang klettern; oben in den Alpen sind die Flüsse noch viel zu wild, um Boot darauf zu fahren. Wir paßten auf, wie der kleine Rhein über die Steine sprang, und wie von allen Seiten die Bäche und Wasserfälle zu ihm hin liefen. Immer größer wurde er und immer wilder.

Nach einer Weile sahen wir den Bodensee unten liegen, da stiegen wir von den Bergen runter und setzten uns in Rorschach auf das Dampfboot. Natürlich blos so in Gedanken, denn wir fuhren ja auf der Landkarte.

Der Bodensee ist sehr groß, und der Rhein fließt mitten durch. Einen halben Tag mußten wir auf dem Schiff bleiben, bis wir wieder in den richtigen Strom kamen. Dann fuhren wir bis Schaffhausen, wo der berühmte Wasserfall ist. Da geht der Rhein einen ganzen Berg runter und braust und zischt wie tausend Waschkessel; das sieht wunderbar aus. Das Schiff geht natürlich nicht mit, das würde gewiß kaputt gehn. Wir mußten vorher aussteigen und ein ganzes Stück laufen, bis an die Stelle, wo der Rhein wieder ruhig fließt.

Später gings weiter nach Basel, wo der große Bildermaler Böcklin gewohnt hat, von dem das merkwürdige Bild in Muttis Stube hängt, mit der singenden Meerfrau.

Zuletzt kamen wir nach Worms, und nun fängt meine Geschichte erst richtig an.

Da erzählte mir Onkel nämlich von den Nibelungen und holte ein Buch aus dem Bücherschrank und las mir von Kriemhild und Siegfried vor, und wie lieb sich die gehabt haben; alles in Versen. Und wie gut der Siegfried gewesen ist; so hatte ich ihn garnicht gekannt, im Lesebuch steht er nicht so schön. Und da – da hat ihn der teuflische Hagen tot geschossen, von hinten, und ich wollte das nicht haben und wollte den Hagen auch tot schießen. Da lachte Onkel Joachim und sagte: das ist schon lange her, Singine, und der Hagen hat auch Gründe gehabt so zu tun.

Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: Du willst Mutters Bruder sein und sagst so'was? Da lachte er noch ärger, ganz abscheulich lachte er, und ich lief ihm weg; ganz hinten in den Garten rannte ich und warf mich hin und schluchzte und riß ganze Büschel Gras aus und zerriß Blumen und Blätter mit den Zähnen, immer mehr, immer mehr, und wollte dem Hagen was tun, und Onkel Joachim auch, weil er so gelacht hatte.

Ich hörte, wie Mutti zu Mittag rief; ich bockte aber und antwortete nicht. Dorkas fand mich aber doch und steckte seine kalte Schnauze in meine Hand. Da kam Vater, und ich stand auf; ich muß ein sehr rotes Gesicht gehabt haben von all dem Weinen.

Vater faßte mich um die Schulter und sagte: Singine, warum hast du all die Gräser und Blumen ausgerissen?

Ich war mit einem Mal erschrocken und still: O, Vating, ich war so sehr böse auf den schrecklichen Hagen. Und dabei mußte ich gleich wieder losheulen und konnte nicht weiter reden. Aber Vater sagte: Kind, der Hagen war ebenso zornig und wild, wie du jetzt bist; und ob man Blumen ausreißt oder Menschen, das ist der Mutter Natur ganz gleich.

Ich sah Vater verwundert an: Gras kann man doch wieder säen, aber den Siegfried, den kann man doch nicht wieder haben, der so gut war und so stark und allen Leuten glaubte. Und die Kriemhild hat ihn so sehr lieb gehabt, und das Gras hat doch Niemand sehr lieb.

Da strich mir Vater übers Haar – so tut er immer, wenn er was meint und es nicht sagen kann – und faßte mich an der Hand und wir gingen ins Haus, wo mir Mutti still die Suppe hinsetzte.

Und nun darf ich das ganze Buch lesen und soll dann sagen, ob ich froh bin, daß die Kriemhild sich nachher so furchtbar gerächt hat. Denn das hat mir Vater schon gesagt, daß sie später nicht blos den Hagen umgebracht hat, sondern noch viele Andere, die nichts dafür konnten.

Aber mit Onkel Joachim bin ich doch noch böse!


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