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Die Eltern und Onkel Joachim waren gestern in die Stadt gefahren, und ich war mit Line allein zu Haus.
Ich weiß, daß ich nicht rudern soll, wenn kein Großer dabei ist; aber die Luft war so schön warm, und ich wollte doch gern.
Dorkas lag noch an der Kette, obgleich es schon dunkel wurde; ich machte ihn los und ging mit ihm durch den Garten, ganz leise, damit Line es nicht merkte. Dorkas verstand das auch und war ganz artig.
Wir gingen den Weg zum See. Das Wasser war still, als ob es schliefe; die Bäume bewegten sich kein bißchen.
Ich sprach leise mit Dorkas, und wir kletterten beide still ins Boot. Bange war mir doch, als ich's vom Haken losmachte und die Ruder ins Wasser tauchte. Es war aber hübsch, wie silbrig die schwarzen Wellen dabei wurden.
Der Mond kam nun auch groß und rot hinter den Bäumen vor und guckte uns zornig an. Plötzlich mußte ich an den Wassermann denken, der vor vielen hundert Jahren hier im See verzaubert gewesen ist, lange, lange, weil er gegen den lieben Gott mit seiner Macht geprahlt hatte. Line hat mir neulich das Märchen erzählt, und nun fiel's mir wieder ein.
Der sündhafte Wassermann sollte so lange im Sumpf unten bleiben, bis ein junges schönes Mädchen ihn von selber küssen würde, hat Line gesagt. In der Vollmondnacht vor Ostern durfte er den häßlichen Kopf über das Wasser stecken. Er hatte viel Gold und Perlen im Grunde des Sees; das sollte das Mädchen alles haben, wenn es ihn küssen würde. Aber keine wollte es tun, denn er war häßlich mit seinem großen Froschgesicht; und viele hundert Jahre blieb er unerlöst.
Aber einmal war ein junges schönes Bauernmädchen unten im Dorf, das hatte einen Bräutigam, der war ebenso arm wie sie selber, da konnten sie sich nicht heiraten. Nun wollte das Mädchen ihren Hans mit den Perlen und dem Golde des Wassermannes überraschen und ruderte in der Ostermondnacht hinaus ans den See.
Bald sah sie auch den Kopf des Unholds, wie er von unten heraufglotzte. Sie beugte sich über ihr Boot, machte die Augen fest zu und küßte ihn auf den häßlichen breiten Mund. Da fühlte sie einen eiskalten Strom durch ihr Herz – und sah kaum noch, wie der Wassermann als großer Vogel durch die Luft davonflog und Gold und Perlen in ihren Kahn warf.
Erst am Morgen kam sie mit ihren Schätzen ins Dorf zurück. Aber die Leute, die ihr begegneten, entsetzten sich und kannten sie nicht wieder; denn ihr Mund war zu einem breiten Froschmaul geworden.
Ihr Bräutigam ging zu Schiff nach Amerika, und sie hat ihn nie wieder gesehn.
Sie ließ sich ein großes steinernes Haus bauen, die Ruinen am Birkenhang sind noch davon her, und lebte da mit ein paar grauen Katzen bis an ihr Ende. Sie ging nie aus, weil sie sich vor den Menschen schämte; nur in der Vollmondnacht vor Ostern wanderte sie klagend um den See und weinte um ihre verlorene Schönheit und ihr verlorenes Glück. Und so soll sie heute noch wandern . . .
An das traurige Märchen mußte ich denken; und mir war plötzlich, als wenn das Froschgesicht von dem häßlichen Wassermann aus dem See hochsah, und ich hatte große Angst. Ich faßte Dorkas um den Hals und legte mein Gesicht auf sein weiches Fell; dann ruderte ich zurück ans Ufer. Wir gingen gleich nach Hause, und ich setzte mich still hin lesen . . .
Als ich Mutti nachher gute Nacht wünschte, sagte ich ihr ins Ohr, daß ich doch allein auf dem See gerudert hatte, aber daß ich es nie wieder tun wollte.
Von dem Wassermann hab ich ihr aber nichts erzählt.