Richard Dehmel
Schöne wilde Welt
Richard Dehmel

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Die Musik des Mont Blanc

Erster Satz

                    Wenn du hoch im Flugschiff bei funkelnder Winternacht
überm Schneefeld der Großstadtdächer hintreibst,
untergetaucht ist alles unreine Stückwerk,
in dem ruhevollen Lichtnetz der Straßenschluchten
sind die Türme und Kuppeln nur flüchtige Knotenpunkte
dir und deinen Gefährten zur Richtung,
von eurer Brustwehr sinnt ihr mit Göttergefühlen
auf die eingemauerte Menschheit hinab,
das verkrochene Arbeitsgewürm,
das sich müde plagte für eure Lustfahrt:
wenn dann dennoch ein Anflug eisigen Schauders
aus dem Hetzwutgeräusch der Treibschraubenflügel
deinen Blick emporschnellt zwischen die stillen Sterne,
weht ein Ton immer höheren Raumes dich an,
und von Worten durchstürmt, die Gipfel und Abgründe bergen,
ahnst du die Musik des Mont Blanc.

Fliehst wohl gern die Stadt auch bei glühendem Sommertag,
auch du arbeitsmüde, steigst aus dem Eilzug,
schleppst deinen Dunst durch den Landstraßenstaub,
findest ein dürftiges schattengrünes Fleckchen,
wirfst dich matte Raupe ins Gras,
schmachtest ins Blau nach einer Gewitterwolke,
bis dir ein Schmetterling durch deine Schwermut taumelt,
bis eine Schwalbe dich dem Taumel entreißt,
bis du als Adler aus himmelgewiegter Weite
auf dich herabträumst – Da, o Erweckung:
traf dich ein Anhauch immer leichterer Luft?
schwebte ein Laut immer weiteren Raumes dir vor?
da verwünschst du deine Versunkenheit,
sehnst dich nach der Musik des Mont Blanc.

Was will Sehnsucht? sich verlieren in Fernen!
Was will Ahnung? sich der Tiefe entheben!
Steig hinan, wo in eines Tages Spanne
Sommer-und-Winterbrand deine Inbrunst entflammen,
wo du vor herzhinreißender Mühsal
am Seil der Gefährten dir selbst zum Spiel wirst!
Und ob ihr im ewigen Schnee an blendender Wand hängt,
durststumm, schweißblind, mit schwarzen Brillen,
ob im Finstern um eure zusammengeschanzten
froststarren Körperklumpen der Sturm heult,
horch, ein Klang fernsten Raumes fliegt dir zu:
nun beginnt die Musik des Mont Blanc.

Zweiter Satz

Auf dem Nacken des Riesen schreitest du;
seit Jahrtausenden hockt er im weißen Mantel.
Mit den vergletscherten Armen umschlingt er
die unzähligen schweren steilzackigen Kronen,
die er aufs Haupt sich stülpen wollte.
Höher könnt er sie nicht mehr heben;
nun hält er sie starr umklammert und lauscht
durch die wetterwilden Jahrtausende hin,
lauscht den Geistern der unerreichten Bezirke,
wie sie posaunend und harfend und pfeifend
und manchmal singend seine geliebten Kronen
ihm wegwinden möchten. Und staunend spürst du
mit hohlem Schritt, wie er heimlich knirscht,
bis in dein Herz, der gebannte Riese.
Aber das Staunen ist nur Vorspiel.

Tritt auf seinen Scheitel! der trotzt dem Bann.
Sieh, unsre Spuren verwehen schon.
Leise lechzt sein Atem herauf aus dem Eisschlund,
wo wir uns Stufen hackten im Nebel
ans grelle Licht her. Die dünne Luft schwirrt.
Dein Herz will fliegen und kann nicht. Graust dir?
Hier, wo kein Adler mehr kreist, hier wagten
Menschen ein Sternwartchen herzurichten.
Leise saugt's der Gletscher in seinen Schlund;
kaum noch ein Balken stiert aus dem Grabloch.
Und mit lächerlich offnem Mund gewahrst du,
daß auf dem Kampfplatz um die Erhabenheit
auch das Grausen nur Vorspiel ist.

An dein Herz hallt ein Dröhnen. Lachte der Riese?
O, er jauchzt! Von seinem Panzermantel
prallt ein Wetterstoß ab. Mit orgelndem Echo
jauchzt er dem Blitz nach. Aus seinem Triumphblick,
hell über Wölken und Schluchten, Stromland und See hin,
bäumt sich ein Regenbogenpaar.
Und mitjauchzend denkst du der Menschlein wieder,
die unten beben, indeß hier oben
unser entzückter Herzruf schallt,
schallt, verhallt – ohne Echo – still, Freunde:
auch das Entzücken ist Vorspiel nur.

Dritter Satz

Ruhe aus, wilde Seele: Frieden herrscht
auf gewaltigen Bergen im Mittagsglanz.
Schmiegsam wie du wird der harte Schnee;
es glüht ein Feuer im kalten Wind,
dein trunknes Blut klingt hinan zur Sonne.
Sternhell schwillt der Erdball mit dir ins Licht,
dunkel rührt sich der Raum, er schwebt, er schwebt,
ins Glockenblaue: nun fliegt dein Herz:
ins Reine, ins Reine –
du vernimmst die Melodie des Mont Blanc.

Du träumst nicht, du wachst nicht, du bist nur da;
ein Schimmer bist du im Brennpunkt der Welt.
Da rauscht eine Stimme, Myriaden Stimmen:
Wo seid ihr, Gefährten? Nicht jenseits, nicht diesseits,
wir schimmern auf rauschendem Gipfel wie du.
Du ruhst nicht einsam; du siehst, es ragen
Myriaden Gipfel in gleicher Ruhe,
ins Klare, ins Klare –
du begreifst die Harmonie des Mont Blanc.

Du richtest dich auf; wir richten uns auf.
Du lächelst und schweigst; wir lächeln und schweigen.
Es schweigt der leichenstarre Firn.
Und wenn wir auf seiner zerfurchten Bahn uns
Von Abhang zu Abhang im Abendglanz
heimsausen lassen, dann mögen die Berge
einstürzen, du fliegst und fühlst wie wir:
wohin wir auch fliegen, wir fliegen, fliegen,
ins Freie, ins Freie –
dich ergreift der Rhythmus des Mont Blanc.

Vierter Satz

Halt! was trommelt uns nach? wer tanzt da oben?
stürzen Murmeltiere vom Himmel ab?
Achtung, Steinfall! Und Rucksack übern Kopf,
in die Schneewand gebohrt mit Füßen und Fäusten,
hören wir's hüpfen mit Sammetpfoten,
mit Klumpsohlen hopsen, galopp: rechts, links
purzeln die Tode an uns vorbei
und liegen unten. Und ein Stück Kohle,
wer weiß von welchem sturmverschleppten Scheit Brennholz,
trollt hinterdrein und trällert und summt:
das ist nur ein scherzhaftes Zwischenspiel.

Wißt ihr noch? kennt ihr die Stelle wieder?
dort vorm Jahr: die Eisbrücke unter mir.
Ich stand, sah zurück: durchs Gewirr der Spalten
stieg jemand uns nach, uns immerfort nach,
mit verhülltem Gesicht, dunkeln Augenlöchern,
mit vielen Leuten am Seil: wer ist es?
was will der fremde vermummte Führer,
wo Jeder Führer ist und Geführter,
was tappt er blos nach? Ich hebe den Pickstock
und warne, da kracht's, noch erraff ich im Sprung
den Rand – damals scholl mirs wie Abgrundgelächter
durchs innerste Mark, jetzt lacht die Erinnrung:
Es war nur ein spaßhaftes Zwischenspiel.

Es werden noch viele Brücken zerkrachen;
er braucht's, der Bauherr des weißen Friedhofs,
das Riesenkronen-Bröckelwerk.
Rings aus Trümmern die Türme, verjährte Lawinen
zu smaragdenen Labyrinthen gefroren,
die nächste Laue zerschellt sie wieder,
hohl verrollt ihr Paukenwirbel: gebt Raum!
Raum, ihr lockern Gesellen! auch ihr da, Granitpack,
du Großer Gendarm mit dem wackligen Helm,
ihr Englischen Fräuleins: noch besteigen
nur Waghälse eure glatten Hüften,
einst liegt ihr alle zerbröckelt im Bett,
vom nächsten Neuschnee seid ihr verschluckt,
und Brocken auf Brocken wird wieder Brücke,
wird alles ein lachhaftes Zwischenspiel.

Fünfter Satz

Wohl weint's im Dunkeln, horch, Tropfen zu Tropfen,
Milliarden Tropfen, die sich lautlos
unter der aufgepreßten Last
zusammenschlichen: o horch, nun auf einmal
aus stahlblau dämmerndem Gletschertor
durch den Schutt der Moräne, da sprudeln sie
als milchheller Quell. Nun schöpfst du und trinkst
von dem jubelnden Wasser, und schaust zurück,
immer wieder zurück zu dem sternegekrönten Scheitel,
wo kein Bleiben ist für dein staubhaftes Leben,
und glaubst ihn immer noch rauschen zu hören,
so entrückt dich die Musik des Mont Blanc.

Dann zeigt sich ein Fleckchen, da sprießt wieder Gras
Dann erscheint eine Hütte, da stürzt Quell in Quell.
Dann bäumt sich der Gießbach und springt dir voran
durch blühende Wiesen ins nächtige Waldtal.
Da hörst du im Schlaf rings die Haustierheerden
geisterhaft läuten; und andern Tags
bist du vielleicht schon fern, siehst die Bäche
zum See gesammelt, der Schiffe trägt,
klirrst mit schweren Schuhn durch die große Stadt,
hörst den Menschenlärm brausen, hörst ihn nicht,
hörst noch immer um deine hämmernden Schläfen
mit unendlichen Flügeln von Schneefeld zu Schneefeld
das Schweigen der Jahrtausende geistern,
so verfolgt dich die Musik des Mont Blanc.

Dann willst du, wie sonst, mit ergebenem Schritt
an dein Tagwerk gehn, dein vergängliches Werk.
Gehst wie sonst deinen Weg, gehst über die Brücke,
wo du tausendmal wie Tausende gingst,
blickst wie sonst hinab mit gesenkter Stirn,
da wölbt sich ihr Bild, da spiegelt's dich mit,
spiegelt Tausende mit, da bäumt sich dein Herz,
nicht wie sonst, nicht wie sonst: wie der Gießbach bäumt sich's
und kommt von der Höhe und will ins Weite
und fühlt, wie Welle in Welle tief
sich bindet, sich drängt, vieltausendwerkig
voll Ahnung, voll Sehnsucht – Das bleibt! das bleibt!
das wird rauschender Strom und verrauscht ins Meer,
in Stürme, in Wolken, ins Luftmeer, Lichtmeer,
von Raum zu Räumen, ins Freie, ins Freie –
so verschwebt, o Welt, die Musik des Mont Blanc.


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