Alphonse Daudet
Briefe aus meiner Mühle
Alphonse Daudet

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Die Legende vom Manne mit dem goldnen Gehirn.

An die Dame, die heitere Geschichten zu lesen wünscht.

Als ich Ihren Brief las, Madame, habe ich einigermaßen Gewissensbisse gefühlt. Ich war mir selbst ein wenig böse wegen der Färbung meiner kleinen Geschichten, die etwas zu viel nach Halbtrauer aussehen, und ich versprach mir, Ihnen heute etwas heiteres, etwas tolllustiges darzubieten.

Warum sollte ich überhaupt traurig sein? Ich lebe tausend Stunden weit entfernt von den Pariser Nebeln auf einem Hügel voller Licht, in dem Lande der Tamburins und des Muskatweins. Um meine Wohnung herum ist alles Sonne und Musik; ich habe Orchester von Bekassinen und Meisen, des Morgens lassen die Brachvögel ihr »kurli, kurli!« erschallen, des Mittags zirpen die Grillen; dann blasen die Hirten ihre Querpfeifen und in den Weingärten erschallt das Gelächter der hübschen braunen Mädchen . . . . Wahrhaftig, der Ort ist schlecht gewählt, um düstere Farben auf die Palette zu bringen; ich sollte vielmehr den Damen nur rosenfarbene Gedichte und Körbe voll galanter Erzählungen liefern.

Doch nein! ich bin noch viel zu nahe bei Paris; alle Tage schickt es mir Abfälle seiner Trübsal bis in meine Tannen . . . Jetzt eben, wo ich diese Zeilen niederschreibe, erfahre ich den elenden Tod des armen Charles Barbara und meine Mühle ist darüber ganz in Trauer. Gott befohlen, ihr Meisen, ihr Grillen! Ich habe nicht mehr das Herz lustig zu sein . . . Und das ist der Grund, Madame, warum Sie statt einer hübschen heiteren Geschichte, die ich mir vorgenommen hatte Ihnen zu erzählen, auch heute nur eine melancholische Legende zu lesen bekommen.

*           *
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Es war einmal ein Mann, der hatte ein Gehirn von Gold; ja, Madame, ein Gehirn von purem Gold. Als er zur Welt kam, glaubten die Arzte, das Kind werde nicht leben bleiben; sein Kopf war zu schwer, sein Schädel zu groß. Dennoch blieb es am Leben und wuchs in der Sonne empor wie ein hübscher Olivensetzling; nur zog sein schwerer Kopf es immer nieder und es war ein Jammer zu sehen, wie es sich beim Gehen an allen Möbeln anklammerte . . . . Gar oft fiel es. Eines Tags rollte es eine Treppe herab und fiel mit der Stirn gegen eine Marmorstufe. Dabei gab sein Schädel einen Klang von sich wie ein Barren Metall. Man hielt es für tot; allein, als man es aufhob, fand man an ihm nur eine leichte Wunde und zwei oder drei Tröpfchen Gold, die an seinen blonden Haaren klebten. Auf diese Weise erfuhren die Eltern, daß das Kind ein goldenes Gehirn besaß.

Die Sache wurde geheim gehalten; der arme Kleine selbst hatte keine Ahnung davon. Von Zeit zu Zeit fragte er, warum man ihn nicht mehr mit den Straßenbuben vor der Thüre herumlaufen ließ.

»Man würde dich stehlen, süßer Schatz.« antwortete ihm die Mutter.

Da bekam der Kleine große Angst gestohlen zu werden und spielte fortan, ohne ein Wort zu sagen, ganz für sich allein, indem er sich schwerfällig von einem Saale zum andern hinschleppte . . . .

Erst mit achtzehn Jahren teilten ihm seine Eltern mit, welches außerordentliche Geschenk ihm vom Schicksal zu teil geworden war; und da sie ihn bis dahin ernährt und erzogen hatten, so verlangten sie von ihm als Gegengabe ein wenig von seinem Golde. Der Junge zögerte nicht; sofort riß er – wie? und durch welche Mittel? sagt die Legende nicht – von seinem Gehirn ein Stück gediegenes Gold ab, ein Stück etwa so groß wie eine Haselnuß, und warf es stolz seiner Mutter in den Schoß . . . . Ganz geblendet von dem Reichtum, den er im Kopfe trug, toll vor Wünschen, trunken von seiner Macht verließ er dann das väterliche Haus und zog in die Welt hinaus, indem er seinen Schatz vergeudete.

*           *
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Er führte ein wahrhaft königliches Leben und streute das Gold, ohne es zu zählen, nach allen Seiten aus. Man hätte glauben sollen, sein Gehirn sei unerschöpflich . . . Indessen nahm es wirklich ab und in dem Maße, wie es abnahm, sah man seine Augen erlöschen, seine Wangen hohler werden. Eines Tages endlich, am Morgen nach einer toll durchlebten Nacht, allein zwischen den Überresten des Gelags und den erblassenden Kerzen der Kronleuchter, erschrak der Unglückliche über die gewaltige Lücke, die schon in seinem Goldhirn klaffte; es war hohe Zeit einzuhalten.

Von da an begann ein neues Leben. Der Mann mit dem Goldhirn zog sich zurück, lebte von seiner Hände Arbeit, argwöhnisch und furchtsam wie ein Geizhals, mied sorgfältig jede Versuchung und suchte selbst die verhängnisvollen Schätze zu vergessen, die er nicht mehr anzugreifen gesonnen war . . . . Unglücklicherweise war ihm ein Freund in die Einsamkeit gefolgt und dieser Freund kannte sein Geheimnis.

Eines nachts wurde der arme Mann plötzlich aus seinem Schlafe gerissen durch einen Schmerz in seinem Kopfe, einen ganz entsetzlichen Schmerz. Bestürzt richtete er sich auf und sah beim Scheine des Mondes seinen Freund, welcher floh und dabei etwas unter seinem Mantel verbarg . . . .

Es war wieder ein Stück von seinem Gehirn, das man ihm entführte! . . .

Einige Zeit später verliebte sich der Mann mit dem Goldhirn und nun war alles aus . . . . Er liebte von ganzem Herzen eine kleine blonde Frau und diese liebte ihn wieder, aber noch mehr liebte sie Spitzen, weiße Straußfedern und goldne Eicheln an den Stiefelchen.

Unter den Händen dieses zierlichen Geschöpfchens – halb Vogel, halb Puppe – schmolzen die Goldstücke, daß es eine wahre Lust war. Sie hatte alle möglichen launenhaften Wünsche; und er wagte nie, »nein« zu sagen; ja, aus Furcht ihr Sorge zu machen, verschwieg er ihr bis zuletzt das traurige Geheimnis seines Schicksals.

»Wir sind also sehr reich?« fragte sie.

Der arme Mann antwortete:

»Gewiß! . . . sehr reich!«

Und er lächelte liebevoll dem kleinen blauen Vogel zu, der in aller Unschuld sein Gehirn aufzehrte. Zuweilen freilich ergriff ihn die Furcht, er spürte große Lust geizig zu werden; aber dann kam die kleine Frau hüpfend zu ihm heran und sagte:

»Lieber Mann, du bist so reich! kaufe mir doch etwas recht teures! . . .«

Und er kaufte ihr etwas recht teures.

Das dauerte so zwei Jahre lang; da starb eines Morgens die kleine Frau, ohne daß man wußte warum, wie ein Vogel . . . . Der Schatz ging auf die Neige – mit dem, was ihm verblieben war, richtete der Witwer seiner geliebten Toten ein schönes Begräbnis aus. Volles Glockengeläute, schwarz drapierte Kutschen, schwarz behangene Pferde, silberne Thränen in den Behängen, nichts schien ihm zu schön. Was machte er sich jetzt aus seinem Golde? . . . Er gab davon der Kirche, den Trägern, den Imortellenverkäuferinnen; er gab davon nach allen Seiten, ohne zu handeln . . . Als er den Friedhof verließ, blieb ihm fast nichts von seinem wunderbaren Gehirn übrig; kaum daß noch ein paar kleine Stückchen an den Wänden seiner Schädeldecke hafteten.

Dann sah man ihn mit verstörtem Gesichte durch die Straßen gehen, die Hände nach vorn, stolpernd wie ein trunkener Mensch. Abends, als man in den Bazars die Flammen angezündet hatte, blieb er vor einer mächtigen Glasscheibe stehen, hinter welcher Stoffe und Putzartikel aller Art ausgebreitet waren, und betrachtete lange ein paar Stiefelchen von blauem Atlas, mit Schwanenpelz eingefaßt. »Ich weiß jemand, dem diese Stiefelchen Vergnügen machen würden,« sagte er lächelnd zu sich und ging hinein, um sie zu kaufen. Er hatte bereits vergessen, daß seine kleine Frau gestorben war.

In ihrem Hinterzimmer horte die Verkäuferin einen lauten Schrei; sie eilte in den Laden, prallte aber entsetzt zurück, als sie einen Mann erblickte, der sich an den Ladentisch lehnte und sie mit blödem, aber schmerzerfülltem Blicke ansah. In der einen Hand hielt er die blauen, mit Schwanenpelz besetzten Stiefelchen, die andere, ganz blutige, streckte er ihr entgegen. Die Enden der Nägel trugen den Preis der Stiefelchen, den Rest des Goldhirns, den er mit ihnen von der Schädeldecke abgekratzt hatte.

Das, Madame, ist die Legende von dem Manne mit dem goldnen Gehirne.

*           *
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Trotz ihres phantastischen Aussehens ist übrigens diese Legende wahr vom Anfang bis zum Ende . . . Es giebt auf der ganzen Welt arme Leute, die dazu verdammt sind, von ihrem Gehirne zu leben und die in gutem, feinen Golde, mit ihrem Mark, mit ihrem Gehirn auch die geringsten Bedürfnisse des Lebens erkaufen müssen. Das ist ein Schmerz, der sich jeden Tag erneuert und dann, wenn sie der Schmerzen müde sind . . . .


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