Alphonse Daudet
Briefe aus meiner Mühle
Alphonse Daudet

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Die Ziege des Herrn Seguin.

An Herrn Pierre Gringoire, lyrischem Dichter in Paris.

Du bleibst doch immer derselbe, mein armer Gringoire!

Wie! Man bietet dir eine Stelle als Berichterstatter für ein gutes Pariser Journal und du hast den Mut sie zurückzuweisen . . . . Aber sieh dich doch an, armer Teufel! Sieh den durchlöcherten Überzieher, die ramponierten Beinkleider, das schmale Gesicht, aus dem der Hunger geschrieben steht. Dahin hat dich deine Leidenschaft für schöne Reime gebracht! Das hast du durch zehnjährige treue Dienste unter den Pagen des gnädigen Herrn Apollo erreicht . . . . Schämst du dich nicht?

Werde doch Berichterstatter, dummer Teufel, werde Berichterstatter! Da wirst du schöne Thaler im Umsehen verdienen, du wirst bei Brébant speisen und kannst bei jeder ersten Vorstellung dich mit einer neuen Feder hinter dem Ohre zeigen . . . . .

Du willst nicht? durchaus nicht? . . . Du willst nach deiner Weise frei bleiben bis an das Ende . . . Nun wohl, so laß dir die Geschichte der Ziege des Herrn Seguin erzählen. Hoffentlich wirst du daraus lernen, was man gewinnt, wenn man frei leben will.

*           *
*

Herr Seguin hatte noch nie Glück mit seinen Ziegen gehabt.

Er verlor sie alle auf gleiche Weise; eines schönen Morgens zerrissen sie ihren Strick, liefen fort in das Gebirge und dort oben fraß sie der Wolf. Nichts hielt sie zurück, weder die Liebkosungen ihres Herrn, noch die Furcht vor dem Wolfe. Es waren eben, wie es scheint, unabhängige Ziegen, die um jeden Preis ihre eignen Herren sein und frei leben wollten.

Der wackere Herr Seguin, der kein Verständnis für den Charakter seiner dummen Tiere hatte, war ganz bestürzt. Er sagte sich:

»Da hört alles auf; die Ziegen langweilen sich bei mir, ich werde wohl keine einzige behalten.«

Dennoch verlor er den Mut nicht und, nachdem er sechs Ziegen auf die gleiche Weise verloren hatte, kaufte er eine siebente; nur trug er dieses Mal Sorge, eine ganz junge zu wählen, damit sie sich besser daran gewöhne, bei ihm zu bleiben.

Ach! Gringoire! Wie hübsch war die kleine Ziege des Herrn Seguin! Wie hübsch war sie mit ihren sanften Augen, mit ihrem Unteroffiziersbarte, mit ihren schwarzen, glänzenden Klauen, ihren gestreiften Hörnern und ihren langen weißen Haaren, die sie wie ein Mantel umhüllten! Fast war sie so reizend, wie Esmeraldas Zicklein, du erinnerst dich doch, Gringoire? – und dann, wie war sie gelehrig, wie einschmeichelnd; wie ließ sie sich melken, ohne sich zu rühren, ohne ihren Fuß in den Melknapf zu setzen. Ein wahrer Schatz von einer kleinen Ziege . . . .

Herr Seguin hatte hinter seinem Hause ein Weißdorngehege. Dorthin brachte er seine neue Kostgängerin. Er band sie an einen Pfahl an der schönsten Stelle der eingehegten Wiese, trug Sorge dafür, daß der Strick lang genug war und kam von Zeit zu Zeit um nachzusehen, ob sie sich wohl befinde. Die Ziege war glücklich und that sich in dem saftigen Grase eine solche Güte, daß Herr Seguin ganz entzückt war.

»Endlich,« dachte der arme Mann, »endlich habe ich eine, die sich bei mir nicht langweilen wird.«

Herr Seguin irrte, seine Ziege langweilte sich.

*           *
*

Eines schönen Tags betrachtete sie das Gebirge und sprach zu sich:

»Wie muß es einem dort oben wohl sein! Welche Lust, in dem Haidekraut herumzuspringen, ohne den verdammten Strick, der einem den Hals zuschnürt! – Für einen Esel oder für einen Ochsen mag es gut genug sein, in einem Gehege zu grasen! . . . . Die Ziegen, die brauchen ein weiteres Feld.«

Von diesem Augenblick an schien ihr das Gras im Gehege unschmackhaft. Sie begann Langeweile zu empfinden. Sie magerte ab, ihre Milch fing an zu versiechen. Es war ein wahrer Jammer zu sehen, wie sie den ganzen Tag lang am Stricke zog, den Kopf nach dem Gebirge gekehrt, mit offenen Nüstern, traurig ihr Mäh, mäh! hervorstoßend.

Herr Seguin bemerkte wohl, daß seine Ziege etwas hatte, aber er wußte nicht, was . . . . Eines Morgens, als er sie eben fertig gemolken hatte, kehrte sich die Ziege um und sprach zu ihm in ihrem Kauderwälsch:

»Hören Sie einmal, Herr Seguin, ich bekomme bei Ihnen die Schwindsucht, lassen Sie mich hinauf in das Gebirge gehen.«

»Ach! mein Gott! auch sie!« rief Herr Seguin ganz versteinert und ließ vor Schreck den Melknapf fallen. Dann setzte er sich in das Gras neben seine Ziege und sprach:

»Wie, Blanquette, du willst mich verlassen!«

Und Blanquette antwortete:

»Ja, Herr Seguin.«

»Fehlt es dir denn hier an Futter?«

»O nein, Herr Seguin.«

»Oder bist du vielleicht zu kurz angebunden, willst du, daß ich den Strick länger mache?!«

»Das würde nicht der Mühe lohnen, Herr Seguin.«

»Nun, was fehlt dir denn eigentlich! Was willst du denn?«

»Ich will in das Gebirge gehen, Herr Seguin.«

»Aber, Unglückselige, weißt du denn nicht, daß der Wolf im Gebirge ist . . . Was willst du denn machen, wenn er kommt? . . .«

»Ich werde ihn mit meinen Hörnern stoßen, Herr Seguin.«

»Der Wolf verlacht deine Hörner. Er hat mir Ziegen gefressen, die viel größere Hörner hatten als du . . . . Du weißt doch, die arme alte Renaude, die voriges Jahr hier war? eine Kapitalziege, stark und boshaft wie ein Bock. Sie hat sich die ganze Nacht mit dem Wolf herumgeschlagen . . . dann, am Morgen, hat sie der Wolf doch gefressen.«

»Arme Renaude! . . . Doch das thut nichts, Herr Seguin. Lassen Sie mich in das Gebirge gehen.«

»Gütiger Gott! . . .« sagte Herr Seguin; »was soll es denn nur mit meinen Ziegen werden? Also noch eine, die der Wolf mir fressen soll . . . Aber nein . . . . ich werde dich retten, Undankbare, auch wider deinen Willen! Und damit du mir nicht etwa den Strick zerreißest, werde ich dich in den Stall einschließen und da sollst du für immer bleiben.«

Damit brachte Herr Seguin die Ziege in einen dunkelen Stall, dessen Thüre er vorsorglich doppelt verschloß. Unglücklicherweise hatte er das Fenster zu schließen vergessen, und kaum hatte er den Rücken gewendet, so ging die Kleine auf und davon . . .

Du lachst, Gringoire? Potztausend! Ich will es wohl glauben; du nimmst die Partei der Ziegen gegen den guten Herrn Seguin . . . Aber wir werden gleich sehen, ob dir das Lachen nicht vergeht.

Als die weiße Ziege in das Gebirge kam, da war alles ein Entzücken. Nie hatten die alten Tannen etwas so Hübsches gesehen. Man empfing sie wie eine kleine Königin. Die Kastanienbäume beugten sich bis zur Erde, um mit den Spitzen ihrer Zweige sie zu liebkosen. Der Goldginster öffnete seine Blüten, als sie vorübersprang, und duftete so stark er konnte. Das ganze Gebirge machte ihr den Hof.

Du kannst dir denken, Gringoire, daß unsre Ziege glücklich war! Keinen Strick mehr, keinen Pfahl . . . nichts, was sie gehindert hätte zu springen, zu grasen ganz nach Belieben . . . . Und welches Futter gab es da! Es reichte bis über die Hörner, mein Lieber! Und was für Kräuter! Saftig, zart, ein Allerlei von tausend schmackhaften Pflanzen . . . Das war ganz etwas andres, als der Rasen dort im Gehege. Und welche Blumen! . . . Große blaue Glockenblumen, purpurrote Fingerhüte mit langen Kelchen, ein ganzer Wald von wilden Blumen, strotzend von berauschendem Saft! . . . .

Halb trunken wälzte sich die weiße Ziege darin, die Beine in der Luft, und rollte sich den Abhang hinunter, das welke Laub, die gefallenen Kastanien mit sich reißend . . . . Dann plötzlich stand sie mit einem Sprunge wieder auf den Beinen. Hopp! fort war sie, den Kopf vorgestreckt flog sie über Stock und Stein . . . Bald war sie oben auf einem Felsen, bald unten auf dem Grunde einer Schlucht, oben, unten, überall . . . . Man hätte glauben können, zehn Ziegen des Herrn Seguin wären im Gebirge.

Das kam daher, daß Blanquette eben vor gar nichts Furcht hatte.

Mit einem Sprung setzte sie über breite Gießbäche weg, die sie dabei mit Tropfen und Schaum bedeckten. Triefend streckte sie sich dann auf irgend eine Felsenplatte und ließ sich von den Strahlen der Sonne trocknen . . . . Einmal als sie, eine Blüte des Goldregens zwischen den Zähnen, sich dem Rande einer Felsplatte näherte, bemerkte sie unten, ganz unten in der Ebene das Haus des Herrn Seguin und dahinter das Gehege. Das machte sie lachen bis zu Thränen.

»Wie klein das ist!« sagte sie; »wie habe ich nur darin Platz finden können? . . .«

Die ärmste! Da sie so hoch oben stand, hielt sie sich für mindestens ebenso groß, wie die ganze Welt . . .

Das war fürwahr ein schöner Tag für die Ziege des Herrn Seguin. Bald nach links, bald nach rechts laufend fand sie sich gegen Mittag unter einer Herde Gemsen, die eben im Zuge war einen Strauch wilden Weins abzuknuspern. Unser kleiner Springinsfeld im weißen Gewande machte Aufsehen. Man gab ihr den besten Platz am wilden Weine und alle die Herren waren sehr galant gegen sie . . . Ja es scheint selbst, – doch das muß unter uns bleiben, Gringoire, – daß ein Gemsenjüngling von dunkler Haarfarbe das Glück hatte, Blanquetten zu gefallen. Die beiden Liebenden verirrten sich eine oder zwei Stunden lang in dem Walde, und wenn du wissen willst, was sie dort einander sagten, so magst du die geschwätzigen Quellen fragen, die unsichtbar unter dem Moose dahinfließen.

*           *
*

Plötzlich erhob sich ein frischer Wind. Das Gebirge ward violett; der Abend kam . . . .

»Schon!« sagte die kleine Ziege und blieb ganz erstaunt stehen.

Unten lagen die Felder in Dunst gehüllt. Das Gehege des Herrn Seguin verschwand im Nebel und von dem Häuschen sah man nur das Dach mit ein wenig Rauch. Sie hörte die Glöckchen einer Herde, die man nach dem Stalle zurückführte, und ihre Seele wurde ganz traurig . . . Ein Geier, der vom Fluge zurückkehrte, streifte sie im Vorbeifliegen mit den Flügeln. Sie schrak zusammen . . . . dann erscholl aus dem Gebirge ein Geheul:

»Hu! Hu!«

Sie dachte an den Wolf; den ganzen Tag hatte die Ausgelassene nicht an ihn gedacht . . . . Im selben Augenblicke ertönte weit unten im Thale ein Horn. Es war der gute Herr Seguin, der ein letztes Mittel versuchte.

»Hu! Hu! . . .« heulte der Wolf.

»Komm zurück! Komm zurück! . . .« rief das Horn.

Blanquette hatte Lust umzukehren; aber sie erinnerte sich an den Pfahl, an den Strick, an die Hecke um das Gehege und da dachte sie, daß sie nun sich nicht mehr an dieses Leben gewöhnen könne und daß es besser sei zu bleiben.

Der Klang des Hornes war verstummt . . . .

Die Ziege hörte hinter sich ein Geräusch im Lande. Sie drehte sich um und sah in der Dämmerung zwei kurze Ohren, ganz aufgerichtet und zwei Augen, die durch das Dunkel leuchteten . . . . Das war der Wolf.

*           *
*

Da saß er auf seinem Hinterteil, gewaltig groß, unbeweglich und blickte nach der kleinen weißen Ziege, die ihm schon im voraus schmeckte. Der Wolf hatte keine Eile, wußte er doch bestimmt, daß er sie fressen würde; nur lachte er boshaft, als sie sich nach ihm umwendete.

»Ha! ha! die kleine Ziege des Herrn Seguin!« und dabei fuhr er mit seiner dicken roten Zunge über die bläulichen Lefzen.

Blanquette fühlte, daß sie verloren war . . . . Sie erinnerte sich an die Geschichte der alten Renaude, die sich eine ganze Nacht mit dem Wolf herumgeschlagen hatte, um am Morgen gefressen zu werden und dachte einen Augenblick, es sei vielleicht besser, sich gleich fressen zu lassen; dann besann sie sich eines Besseren, senkte den Kopf, die Hörner nach vorn gerichtet und nahm Stellung, wie es einer tapfern Ziege des Herrn Seguin ziemte, die sie war . . . . Nicht als ob sie die Hoffnung hegte den Wolf zu töten – Ziegen töten überhaupt den Wolf nicht, – sondern nur um zu sehen, ob sie so lange, wie Renaude, Stand halten könne . . . .

Nun nahte das Ungeheuer und die kleinen Hörner fingen an zu tanzen.

Ah! die tapfere kleine Ziege! Mehr als zehnmal – ich lüge nicht, Gringoire, – zwang sie den Wolf zurückzuweichen, um Atem zu schöpfen. Während dieser minutenlangen Pausen pflückte das kleine Leckermaul in Eile noch ein Paar Halme des saftigen Grases, dann kehrte sie mit voller Schnauze zum Kampfe zurück . . . Das dauerte die ganze Nacht. Von Zeit zu Zeit sah die Ziege des Herrn Seguin die Sterne am klaren Himmel tanzen und sprach zu sich:

»Ach! könnte ich es doch bis zur Morgenröte aushalten!«

Ein Stern nach dem andern erlosch. Blanquette verdoppelte die Stöße ihrer Hörner, der Wolf schnappte immer gieriger zu . . . . Ein blasser Lichtschein erhob sich am Horizonte . . . Das Krähen eines heiseren Hahns ertönte von einem Meierhofe herauf.

»Endlich!« sagte das arme Tier, das nur noch den Tag erwartete um zu sterben; und sie streckte sich auf der Erde aus in ihrem schönen weißen Pelze, der ganz mit Blut befleckt war . . . .

Dann stürzte der Wolf sich auf die kleine Ziege und fraß sie.

*           *
*

Lebe wohl, Gringoire!

Die Geschichte, die ich dir erzählt habe, ist nicht von mir erfunden. Kommst du jemals in die Provence, so werden die Leute dir oft von der Ziege des Herrn Seguin erzählen, welche sich eine ganze Nacht mit dem Wolfe herumschlug und dann am Morgen hat sie der Wolf gefressen.

Du verstehst mich doch, Gringoire:

Und dann am Morgen hat sie der Wolf gefressen. –


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