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Zwölf Uhr. Das Marais frühstückt.
In die hallenden Klänge des Angelus von Saint-Paul, Saint-Gervais, Saint-Denis du Saint-Sacrement mischt sich, von den Höfen aufsteigend, die schrille Stimme der Fabrikglocken. Jedes einzelne Geläut hat seinen eigenthümlichen Klang. Traurige und muntere, hurtige und schläfrige Glockenstimmen tönen bunt durcheinander. Da giebt es reiche, glückliche Glocken, die für Hunderte von Arbeitern läuten, arme, scheue Glocken, die sich hinter den andern zu verstecken und sich ganz klein zu machen scheinen, als hätten sie Furcht, der Bankerott vernehme sie, und endlich auch freche, verlogene Glocken, die für die Außenwelt, für die Straße läuten, um den Glauben zu erwecken, man habe ein großes Geschäft und beschäftige viele Leute.
Gott sei Dank, die Glocke der Fromont'schen Fabrik ist keine von diesen. Es ist eine gute alte Glocke, die wohl einige Sprünge hat, die man aber im Marais seit vierzig Jahren kennt, und die immer nur an Sonn- und Revoltetagen gefeiert hat.
Bei ihrem Klange strömt ein ganzes Heer von Arbeitern unter dem Portale des ehemaligen Palastes hervor und zerstreut sich in die umliegenden Schenken. Die Lehrlinge lassen sich neben einer Schaar von Maurern auf den Bordsteinen des Trottoirs nieder. Um eine halbe Stunde Spielzeit zu gewinnen, frühstücken sie in fünf Minuten und zwar von allem, was in den Straßen von Paris für Lungernde und Hungernde feilgeboten wird: Kastanien, Nüsse oder Äpfel. Die Maurer neben ihnen verzehren währenddem große Wecken, die ganz mit Mehl- und Gypsstaub überzogen sind. Die Frauen haben Eile und entfernen sich laufend. Alle haben zu Hause oder in der Bewahranstalt ein Kind oder einen alten Verwandten zu überwachen oder die Wirtschaft zu besorgen. Mit gerötheten Lidern, von der Fabrikluft beengter Brust und vom feinen, zum Husten reizenden Staube der Sammttapeten bedecktem Haar eilen sie, einen Korb am Arme, die überfüllte Straße entlang, in der die Omnibusse bei dem drängenden Gewühl nur mit Mühe von der Stelle kommen.
In der Nähe der Thür, auf einem Prellsteine, von dem aus sich ihrer Zeit die Ritter in den Sattel schwangen, sitzt Risler und beobachtet lächelnd, wie die Fabrik sich entleert. Die achtungsvolle Zutraulichkeit aller dieser braven Leute, die er gekannt hat, als er selbst noch in bescheidener Stellung war wie sie, thut ihm immer wohl. Dies »Guten Tag, Herr Risler« von so vielen verschiedenen, aber sämmtlich freundschaftlich klingenden Stimmen macht ihm das Herz warm. Die Kinder treten ohne Scheu zu ihm heran, und die Zeichner mit den großen Bärten, ein Mittelschlag von Künstlern und Arbeitern, drücken ihm im Vorübergehen die Hand und reden ihn mit du an. Das alles zeugt vielleicht von einer etwas zu großen Vertraulichkeit, denn der brave Risler hat den Glanz und die Würde seiner neuen Stellung noch nicht recht erfaßt, und ich kenne jemand, der dies Benehmen für sehr erniedrigend hält. Aber dieser jemand kann ihn jetzt nicht sehen, und der Herr benutzt das, um den alten Buchhalter, den rothbäckigen, behäbigen Sigismund, zu umarmen, der, in einen großen Kragen eingeschachtelt, als der letzte von allen die Fabrik verläßt und immer, was es auch für Wetter sein mag, aus Furcht vor einem Schlaganfall ohne Kopfbedeckung geht.
Risler und Planus sind Landsleute. Sie hegen gegenseitig eine hohe Achtung vor einander, die sich noch von der Zeit ihres Eintritts in die Fabrik herschreibt, jener fernen Zeit, wo sie zusammen in der kleinen Milchhandlung an der Ecke frühstückten, in die jetzt Sigismund Planus allein eintritt, um sich auf der als Speisekarte an der Wand hängenden Schiefertafel ein Gericht auszuwählen ...
Aber Achtung! Da fährt der Wagen Fromont juniors durch das Portal. Er ist den ganzen Vormittag unterwegs gewesen, und nun plaudern die beiden Associés freundschaftlich von ihren Geschäften und schreiten dabei dem schmucken Hause im Hintergrunde des Gartens zu, das sie gemeinsam bewohnen.
»Ich war bei den Prochassons,« sagt Fromont junior. »Sie zeigten mir neue Muster – hübsche Sachen, meiner Treu! ... Man muß aufpassen. Wir haben an ihnen ernstliche Concurrenten.«
Aber Risler beunruhigt das nicht. Er kann sich auf sein Talent, seine Erfahrung verlassen, und außerdem – aber ganz im Vertrauen gesagt – ist er einer prächtigen Erfindung auf der Spur, einer vervollkommneten Druckpresse, etwas ganz – – doch man wird ja sehen. Plaudernd treten sie in den nach englischer Manier sorgfältig gepflegten Garten mit den Kugelakazien, die beinahe so alt sind wie der ehemalige Palast, und dem prächtigen Epheu, der die hohen, düsteren Mauern überzieht.
Neben Fromont junior nimmt Risler senior sich wie ein Commis aus, der dem Chef Bericht erstattet. Er bleibt, um reden zu können, bei jedem Schritte stehen, denn seine Geberden und Bewegungen sind schwerfällig, sein Gedankengang ist langsam, und nur mit Mühe findet er die passenden Worte. O, wenn er jetzt da oben an einem Fenster des zweiten Stocks das kleine, rosige Antlitz sehen könnte, das alles das so aufmerksam beobachtet ...
Frau Risler erwartet ihren Gatten zum Frühstück und wird beim Anblick dieser Langsamkeit verdrießlich. Sie macht ihm mit der Hand ein Zeichen: »Schnell doch!« – aber Risler bemerkt es nicht. Er ist ganz mit der kleinen Fromont, der Tochter von Georges und Clara, beschäftigt, die eben in ihrem Spitzenkleidchen von der Amme im Freien umhergetragen wird. Wie hübsch sie ist ...
»Ganz Ihr Ebenbild, Madam Schorsch.«
»Finden Sie, lieber Risler? Aber alle Welt sagt doch, sie sähe ihrem Vater ähnlich.«
»Ja, ein wenig ... aber« – – –
Und da stehen sie nun, der Vater, die Mutter, Risler und die Amme, und forschen ernsthaft nach einer Ähnlichkeit in diesem kleinen Gesichtchen, das sie mit seinen unklaren, vom Licht und vom Leben geblendeten Augen anschaut. Sidonie beugt sich währenddem aus dem halbgeöffneten Fenster, um zu sehen, was sie machen, und warum ihr Mann nicht heraufkommt.
Gerade in diesem Augenblicke hat Risler das Püppchen, dies kleine Bündel von weißem Linnen und hellfarbigen Bändern, in die Arme genommen und sucht es durch allerlei Liebkosungen und Schäkereien zum Lachen und Lallen zu bringen wie ein Großpapa. Wie alt er aussieht, der arme Mann! Seine Geberden, wenn er seine große Gestalt vor dem Kinde zusammenduckt und seine Stimme in ein dumpfes Brummen verwandelt, um ihren Klang zu mäßigen, sind ebenso häßlich als lächerlich.
Oben stampft seine Frau mit dem Fuße auf den Boden und murmelt zwischen den Zähnen:
Des Wartens müde, schickt sie endlich hinunter und läßt dem Herrn sagen, daß das Frühstück aufgetragen sei. Aber das Spiel ist so schön im Gange, daß der Herr nicht gleich weiß, wie er sich losmachen, wie er den Jubel und das Gekreisch des kleinen Vögelchens unterbrechen soll. Endlich gelingt es ihm aber, das Kind der Amme zurückzugeben, und aus vollem Herzen lachend eilt er die Treppe hinauf. Er lacht noch beim Eintritt in das Speisezimmer, ein Blick seiner Frau aber bringt ihn zum Verstummen.
Sidonie sitzt am Tisch vor dem gefüllten Theewärmer. Ihre Haltung als Opferlamm läßt erkennen, daß sie entschlossen ist, schlechter Laune zu sein.
»Sind Sie endlich da? ... Das ist ja recht hübsch.«
Risler nimmt ein wenig beschämt Platz.
»Was willst du, Kleine? Das Kind ist so« – – –
»Ich habe Sie schon wiederholt gebeten, mich nicht zu duzen. Das schickt sich nicht zwischen uns.«
»Aber wenn wir doch allein sind?« ...
»Seht einmal! Sie werden sich nie in unsere neue Stellung schicken lernen ... Und was folgt daraus? Niemand respectirt mich hier! Der alte Achille grüßt mich kaum, wenn ich an seiner Loge vorüberkomme ... Freilich, ich bin ja keine Fromont und habe keinen Wagen« ...
»Aber Kleine, du ... ich wollte sagen ... Sie wissen doch, daß du ... daß Sie sich jederzeit der Kutsche von Madam Schorsch bedienen können. Sie hat sie uns ja für immer zur Verfügung gestellt.«
»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich diesem Weibe keinen Dank schuldig sein will?«
»O! Sidonie!« ...
»Allerdings, wir wissen's ja, das ist ja bekannt – Frau Fromont ist der liebe Gott. Daran darf man nicht rühren. Und ich, ich muß mich darin fügen, eine Null hier im Hause zu sein, mich demüthigen, mich mit Füßen treten lassen« ...
»Aber Kleine« – – –
Der arme Risler sucht sich ins Mittel zu legen, ein Wort zu Gunsten seiner lieben Madam Schorsch vorzubringen. Aber er ist ungeschickt. Das ist das schlimmste Beschwichtigungsmittel, und dies Mal bricht Sidonie los:
»Ich sage Ihnen, dies Weib mit ihrer ruhigen Miene ist heimtückisch und hoffährtig ... Sie verabscheut mich, ich weiß es ... So lange ich die arme kleine Sidonie war, der man das zerbrochene Spielzeug und die abgetragenen Kleider zuwarf, so lange war's gut – jetzt aber, wo auch ich Herrin bin, kränkt und drückt sie meine Stellung ... Die gnädige Frau giebt mir von oben herab gute Rathschläge und bekrittelt all mein Thun und Lassen ... Es war unrecht von mir, daß ich mir eine Kammerjungfer genommen habe ... Natürlich! War ich nicht daran gewöhnt, mich selbst zu bedienen? ... Sie sucht alle Gelegenheiten hervor, um mich zu verletzen. Man muß nur hören, wie sie sich, wenn ich sie mittwochs besuche, vor aller Welt nach dem Befinden der guten Frau Chèbe erkundigt ... Ja, gewiß! Ich bin eine Chèbe und sie eine Fromont. Aber das gleicht sich aus, wie ich denke. Mein Großvater war Apotheker. Und was ist der ihre? Ein durch den Wucher reich gewordener Bauer ... O, wenn sie mir gar zu sehr die Stolze spielt, sage ich ihr das eines Tages doch noch und entdecke ihr auch, daß ihr Kind, ohne daß sie es ahnen, dem alten Gardinois ähnelt, der bei Gott! nicht hübsch ist.«
»O!« sagt Risler, der auf alles das keine Silbe zu erwidern weiß.
»Ja, bewundern Sie nur das Kind, ich rathe Ihnen dazu. Das Wurm ist immer krank. Die ganze Nacht heult es wie eine kleine Katze. Das hindert mich am Schlafen ... Und am Tage habe ich dann das Klavier der Mama und ihre Rouladen anzuhören ... tra la la la ... Wenn's noch wenigstens lustige Musik wäre.«
Risler hat das bessere Theil erwählt. Er sagt kein Wort mehr. Als er dann nach einer kleinen Pause bemerkt, daß sie ruhiger geworden, sucht er sie mit Complimenten vollends zu besänftigen.
»Wie hübsch sie heute ist! Man will wohl heute Besuche machen, nicht?« ...
Um das mißliche Du zu vermeiden, bedient er sich der unpersönlichen Redeweise.
»Nein, ich mache keine Besuche,« erwidert Sidonie mit einem gewissen Stolz. »Im Gegentheil, ich empfange. Heute ist mein Empfangstag« ...
Und da ihr Gatte bei dieser Erklärung ein merkwürdig verblüfftes Gesicht macht, fährt sie fort:
»Nun ja, mein Empfangstag ... Frau Fromont hat einen Empfangstag, da darf ich doch wohl auch einen haben, wie ich meine.«
»Gewiß, gewiß,« entgegnet der gute Risler und blickt sich etwas beunruhigt um. »Deshalb also sah ich überall, auf dem Flur und im Salon, so viel Blumen!« ...
»Ja, ich habe das Mädchen heute Morgen in den Garten hinuntergeschickt ... Habe ich etwa unrecht daran gethan? O, Sie sagen es nicht, aber ich bin überzeugt, daß Sie es denken ... Meiner Treu! ich glaubte, die Blumen im Garten gehörten ebenso gut uns als ihnen.«
»Gewiß, gewiß ... aber du ... Sie ... es wäre doch besser gewesen« ...
»Darum zu bitten? ... Das wäre nett ... mich noch für ein bißchen elenden Goldlack oder zwei oder drei grüne Zweige zu demüthigen! Übrigens habe ich mich ja nicht versteckt, als ich sie nahm, die Blumen, und wenn sie jetzt heraufkommt« – – –
»Sie kommt herauf? Ei, das ist hübsch!«
Entrüstet springt Sidonie auf.
»Wie? das ist hübsch? ... Wahrhaftig, das fehlte nur noch, daß sie nicht käme, während ich jeden Mittwoch zu ihr hinuntergehe und mich bei ihr mit einem Schwarm von Zieraffen und Modepuppen langweile!«
Dabei verschweigt sie, wie viel diese Mittwochsgesellschaften bei Frau Fromont ihr genützt haben, wie dieselben so zu sagen eine wöchentliche Modenzeitung für sie gewesen sind, eins jener kleinen Journale, aus denen man lernt, wie man einzutreten, hinauszugehen, zu grüßen, den Blumen- und den Rauchtisch zu ordnen hat, die Kleidermuster gar nicht zu rechnen, diese Heerschau über alles, was mit der Lebensart und dem Namen einer Frau der eleganten Welt verknüpft ist. Sidonie verschweigt auch, daß sie alle diese Freundinnen Claras, von denen sie so verächtlich spricht, dringend gebeten hat, sie an ihrem Empfangstage zu beehren, und daß dieser Tag von jenen selbst ausgewählt worden ist.
Werden sie kommen? Wird Frau Fromont junior der Frau Risler senior die Schmach anthun, an ihrem ersten Freitag zu fehlen? Diese Frage regt sie fieberhaft auf ...
»Aber beeilen Sie sich doch,« sagt Sidonie alle Augenblicke. »Guter Gott, wie langsam Sie aber auch frühstücken!«
In der That gehört es zu den Gewohnheiten des braven Risler, langsam zu essen, nach Tische seine Pfeife anzuzünden und dann behaglich seinen Kaffee zu schlürfen. Heute aber muß er auf diese theuren Gewohnheiten verzichten, die Pfeife des Rauches wegen im Etui lassen und sich, sobald er den letzten Bissen zu sich genommen, schleunigst ankleiden, denn seine Frau wünscht, daß er am Nachmittag heraufkomme, um die Damen zu begrüßen.
Risler an einem Wochentage in schwarzem Gehrock und weißer Cravatte – das ist ein Ereignis für die ganze Fabrik!
»Du gehst wohl zur Hochzeit?« ruft ihm der Kassirer Sigismund hinter seinem Gitter hervor zu.
Und Risler erwidert nicht ohne Stolz:
»Bei meiner Frau ist heute Empfang.«
Bald weiß alle Welt im Hause, daß heute Sidoniens Empfangstag ist, und Vater Achille, der den Garten besorgt, ist sogar sehr ungehalten darüber, weil man von den Winterlorbeern an der Einfahrt Zweige abgebrochen hat.
Inzwischen sitzt Risler im hellen Lichte der hohen Fenster vor seinem Zeichenbrette. Er hat den feinen Rock, der ihm unbequem ist, ausgezogen und die frischen Manschetten zurückgestreift. Aber der Gedanke, daß seine Frau Besuch erwartet, stört und beunruhigt ihn, und von Zeit zu Zeit wirft er sich wieder in Gala, um in seine Wohnung hinaufzugehen.
»Ist niemand gekommen?« fragt er zagend.
»Nein, Herr Risler, niemand.«
Während dem hat sich Sidonie als Frau des Hauses in dem schönen rothen Salon eingerichtet – denn die Rislers haben einen Salon mit einer Console zwischen den Fenstern und einem hübschen Tische mitten auf dem hellgeblümten Teppich – und eine Anzahl von Sesseln und Stühlen um sich her aufgepflanzt. Hier und da liegen Bücher und Zeitschriften, auf dem Tische steht ein kleines Arbeitskörbchen ohne Henkel mit seidenen Quasten, in einem Glase blüht ein Veilchenstrauß, die Blumentische sind mit Blattpflanzen besetzt. Das alles ist genau so angeordnet wie bei den Fromonts unten eine Etage tiefer – nur der Geschmack, diese unsichtbare Linie, die das wahrhaft Vornehme vom Gemeinen trennt, ist noch kein geläuterter. Das Ganze sieht wie die mittelmäßige Copie eines hübschen Genrebildes aus. Die Hausfrau selbst trägt ein noch zu neues Kleid und scheint eher selbst zu Besuch als in ihren eigenen Räumen zu sein. In Rislers Augen ist alles herrlich, tadellos, und er schickt sich eben an, das beim Eintritt in den Salon auszusprechen, aber dem zornigen Blicke seiner Frau gegenüber hält der arme Gatte schüchtern inne.
»Sie sehen, es ist vier Uhr,« sagt sie, indem sie mit zorniger Geberde auf die Standuhr deutet. »Es wird niemand kommen ... Besonders aber auf Clara bin ich wüthend, daß sie nicht erscheint ... Ich bin überzeugt, sie ist zu Hause ... ich höre es.«
In der That lauscht Sidonie seit Mittag auf das geringste Geräusch in der untern Etage, auf das Geschrei des Kindes, auf das Schließen der Thüren. Risler möchte wieder hinuntergehen und dadurch der Unterhaltung ausweichen, die in demselben Tone wie beim Frühstück von neuem beginnt, aber damit ist Sidonie durchaus nicht einverstanden. Sie darf doch wohl verlangen, daß er wenigstens ihr Gesellschaft leiste, da alle andern sie im Stiche lassen, und so bleibt denn der arme Tropf da, an seinen Platz genagelt, gleich jenen Leuten, die während des Gewitters keine Bewegung zu machen wagen, aus Furcht, sie möchten den Blitz auf sich herabbeschwören. Sidonie wird unruhig, sie geht im Salon auf und ab, schiebt einen Sessel weiter zurück, rückt ihn dann wieder an die alte Stelle, besieht sich im Vorübergehen im Spiegel – endlich klingelt sie dem Mädchen und befiehlt ihr, bei Vater Achille nachzufragen, ob niemand nach ihr verlangt habe. Er ist so boshaft, dieser alte Achille. Wenn jemand kommt, sagt er wohl gar, sie sei nicht zu Hause.
Aber nein! Der Portier hat noch niemand gesehen.
Schweigen und Bestürzung. Sidonie steht an dem Fenster zur Linken, Risler an dem zur Rechten. Von dort sehen sie den kleinen Garten, auf den die Nacht herabzusinken beginnt, und die schwarze Rauchwolke, die aus dem hohen Schornstein gegen den tief herabhängenden Himmel emporwirbelt. Im Erdgeschoß drüben in der Fabrik wird zuerst das Fenster des Kassirers hell: Sigismund Planus zündet mit der peinlichsten Sorgfalt eigenhändig seine Lampe an, und sein breiter Schatten wandelt vor der Flamme auf und ab und fällt in der Nähe des Gitters zur Hälfte auf die Wand. Sidoniens Zorn legt sich beim Anblick dieser bekannten Einzelheiten auf einen Augenblick.
Plötzlich fährt eine Equipage in den Garten ein und hält vor der Thür. Endlich jemand! In der reizenden Wolke von Seide, Blumen, Geschmeide, Schnüren und Pelzbesätzen, die eilig die Freitreppe hinanfliegt, hat Sidonie eine der elegantesten Besucherinnen des Fromont'schen Salons, die Frau eines reichen Bronzewaarenfabrikanten erkannt. Welche Ehre, einen solchen Besuch zu empfangen! Schnell nimmt die Familie Risler Stellung, der Herr am Kamin, die Frau in einem Lehnsessel, wobei sie nachlässig in einem Modejournale blättert. Verlorene Liebesmüh'! Die schöne Besucherin kam nicht Sidoniens wegen: sie ist in die untere Etage eingetreten ...
O, wenn jetzt Madam Schorsch hätte hören können, was ihre Nachbarin von ihr und ihren Freundinnen sagt ...
In diesem Momente öffnet sich die Thür, und das Mädchen meldet:
»Fräulein Planus.«
Fräulein Planus ist die Schwester des Kassirers, eine sanfte, bescheidene, arme alte Jungfer, die der Frau des Chefs ihres Bruders einen Pflichtbesuch zu machen gedachte und nun über den äußerst liebenswürdigen Empfang, der ihr zu Theil wird, ganz verlegen scheint. Man eilt ihr entgegen, man begrüßt sie aufs Zuvorkommendste. »Das ist hübsch von Ihnen ... Kommen Sie doch näher zum Kamin.« Und welche Aufmerksamkeit, welch' Interesse für ihre unbedeutendsten Worte! Der gute Risler lächelt so herzlich, als wolle er ihr für ihren Besuch von Herzen Dank sagen, und sogar Sidonie entfaltet ihre ganze Liebenswürdigkeit; sie ist glücklich darüber, daß sie sich vor einer ehemaligen Standesgenossin in ihrem vollen Glanze zeigen kann, und daß die da unter ihr hören muß, sie habe Besuch. Daher macht man auch beim Rücken der Stühle und dem Zurückschieben des Tisches so viel Geräusch wie irgend möglich, und als das alte Fräulein, verwirrt, entzückt und geblendet, sich schließlich empfiehlt, begleitet man sie rauschenden Gangs bis zur Treppe und ruft ihr, sich über das Geländer beugend, noch nach, daß man jeden Freitag zu Hause sei ... »Hören Sie ... jeden Freitag!« ...
*
Nun ist es Nacht. Im Salon brennen die beiden schweren Lampen. Im Nebenzimmer hört man das Mädchen den Tisch decken. Es ist zu Ende. Frau Fromont junior wird nicht kommen.
Sidonie ist bleich vor Wuth:
»Sehen Sie, das schnippische Ding kann nicht einmal achtzehn Stufen steigen ... Die gnädige Frau findet jedenfalls, daß wir gar zu kleine Leute für sie sind ... Aber ich werde mich rächen« ...
Und je mehr sie ihrem Zorn in ungerechten Worten Luft macht, um so gemeiner wird ihre Stimme und nimmt jenen vorstädtischen Klang, jenen pöbelhaften Ausdruck an, der die ehemalige Elevin des Magasin Le Mire verräth.
Unglücklicherweise wagt Risler eine Bemerkung.
»Wer weiß? Das Kind war vielleicht nicht recht.«
Wüthend fährt sie auf ihn los, als ob sie ihn zerreißen wolle.
»Werden Sie mich endlich mit dem Kinde in Ruhe lassen? ... Sie sind an allem schuld, was mir widerfährt ... Sie verstehen es nicht, mir Achtung zu verschaffen!«
Und während vom heftigen Zuwerfen der Zimmerthür die Lampenglocken und die Nippsachen auf den Etagèren zusammenklirren, steht Risler allein und unbeweglich im Salon, betrachtet mit bestürzter Miene seine schneeweißen Manschetten und seine breiten Lackstiefel und murmelt mechanisch:
»Der Empfangstag meiner Frau!«