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IV. Die Geschichte der kleinen Chèbe. – Die Johanniswürmchen von Savigny.

»Savigny-sur-Orge.

»Liebe Sidonie!

Gestern saßen wir in dem großen Speisezimmer, das Du ja kennst. Die Thür nach der blütenbedeckten Terrasse hin stand weit offen. Ich langweilte mich ein wenig. Großpapa war den ganzen Vormittag schlechter Laune gewesen, und meine arme Mutter, durch die gerunzelten Brauen, die ihr stets Gesetze vorgeschrieben haben, eingeschüchtert, wagte kein Wort zu sagen. Ich bedachte, daß es doch wirklich schade sei, den Sommer in einer so schönen Gegend so einsam verleben zu müssen, und daß ich jetzt, wo ich das Kloster verlassen habe und die ganze Saison auf dem Lande zubringen soll, sehr glücklich sein würde, wenn ich, wie früher, jemand um mich hätte, der mit mir durch Wald und Gebüsch streifte.

Georges kommt allerdings von Zeit zu Zeit, aber immer erst nachmittags, zum Diner, und reist dann am andern Morgen mit Papa wieder ab, noch ehe ich aufstehe. Außerdem ist Herr Georges jetzt ein ernster Mann. Er arbeitet in der Fabrik, und die Geschäftssorgen ziehen auch seine Stirn oft in Falten.

... So weit war ich in meinen Gedanken gekommen, als plötzlich Großpapa sich zu mir hinwandte:

– ›Was ist denn aus der kleinen Sidonie geworden? ... Es würde mich freuen, sie einige Zeit hier zu sehen.‹ –

Du kannst dir denken, wie froh ich war. Welche Freude, diese Herzensfreundschaft wieder anzuknüpfen, die eher durch die Schuld des Lebens als durch unsere eigene abgebrochen worden ist! Was haben wir uns nicht alles zu erzählen! Du, die allein im Stande war, dem schrecklichen Großvater ein Lächeln abzugewinnen – Du wirst uns die Heiterkeit mitbringen, und ich versichere Dich, daß wir dieselbe sehr nöthig haben.

Das schöne Savigny ist so öde! Stell' Dir vor, daß ich morgens zuweilen einen Anfall von Koketterie bekomme. Ich kleide mich an, mache mich schön, wähle eine recht hübsche Frisur und ein niedliches Costüm. Dann spaziere ich durch alle Alleen und entdecke plötzlich, daß ich mich nur für die Schwäne, die Enten, meinen Hund Kiß und die Kühe auf der Wiese in Unkosten gestürzt habe, die sich dessenungeachtet nicht einmal umdrehen, wenn ich vorübergehe. Vor Ärger laufe ich dann schleunigst ins Schloß zurück, ziehe ein linnen Kleid an und beschäftige mich in der Wirtschaft, in der Küche, ein wenig überall. Und meiner Treu! ich fange an zu glauben, daß die Langeweile mich vervollkommnet hat, und daß ich einmal eine tüchtige Hausfrau abgeben werde ...

Glücklicherweise ist bald die Jagdzeit da, und dann hoffe ich ein wenig Zerstreuung zu finden. Zunächst werden dann Georges und mein Vater, die beide große Jäger sind, öfter zu uns herauskommen. Außerdem wirst Du hier sein, Du ... denn Du wirst mich doch sofort benachrichtigen, daß Du zu uns kommst, nicht wahr? Herr Risler sagte letzthin, Du wärest leidend. Da wird Dir die Luft von Savigny sehr gut thun.

Hier wartet alle Welt auf Dich, und ich selbst athme kaum noch vor Ungeduld.

Clara«.

Nachdem sie diesen Brief geschrieben, setzte Clara Fromont – denn die ersten Augusttage waren heiß und sonnig – einen großen Strohhut auf und ging hinab, um das Schreiben eigenhändig in den kleinen Kasten zu werfen, den der Briefbote jeden Morgen beim Vorüberkommen leerte.

Dieser Kasten befand sich am Ende des Parks, an einer Biegung der Landstraße. Clara stand einen Augenblick still, um die Bäume am Wege und die ruhenden, sonnenbeglänzten Wiesen zu betrachten. Weiter hinten brachten einige Schnitter die letzten Garben ein. An einer anderen Stelle war man mit Pflügen beschäftigt. Aber die ganze Melancholie dieser lautlosen Arbeiten war für das junge Mädchen verloren, die vor Freude strahlte, daß sie die Freundin wiedersehen sollte.

Kein Hauch wehte von den hohen Hügeln am Horizonte her, kein Laut rauschte aus den Wipfeln der Bäume herab, um sie zu warnen, um sie an der Absendung dieses verhängnisvollen Briefes zu hindern. Und sobald sie in das Schloß zurückgekehrt war, machte sie sich unverzüglich daran, für Sidonie ein hübsches Zimmer neben dem ihren einrichten zu lassen.

Der Brief ging treulich seinen Weg. Vom grünen, geisblattumrankten Thore des Schlosses eilte er nach Paris und kam noch am selben Abend mit dem Poststempel Savigny und mit Landluft parfümirt in das fünfte Stockwerk der Rue de Braque.

Welch' ein Ereignis war das! Man las ihn drei Mal hinter einander, und acht Tage lang, bis zur Abreise, lag er auf dem Kamin neben den Reliquien der Frau Chèbe, der Standuhr mit der Glasglocke und den Schalen aus der Zeit des Kaiserreichs. Für Sidonie war er so zu sagen ein wunderbarer Roman voll Freuden und Verheißungen, den sie las, ohne ihn zu öffnen, indem sie einfach das weiße Couvert mit Clara Fromonts schön verschlungenem Namenszug betrachtete.

Von der Heirath war jetzt keine Rede mehr. Die Hauptsache war jetzt die Toilette, die sie bei ihrem Besuche auf dem Schlosse tragen sollte. Man hatte damit vollauf zu thun, man mußte Roben zuschneiden und anprobiren, Coiffüren erdenken und combiniren ... Armer Franz! Wie machten diese Vorbereitungen ihm das Herz schwer! Diese Reise nach Savigny, der er sich vergeblich zu widersetzen gesucht hatte, verzögerte zudem die Hochzeit, die Sidonie – ohne daß er wußte, weshalb – alle Tage ein wenig weiter hinausschob. Er konnte sie in Savigny nicht besuchen, und wer vermochte zu sagen, wie lange sie bleiben würde, wenn sie erst einmal dort war, umringt von Festen und Vergnügungen?

Der unglückliche Liebhaber klagte immer den Damen Delobelle sein Leid, ohne ein einziges Mal zu bemerken, wie Désirée, sobald er eintrat, sich lebhaft erhob, um ihm in ihrer Nähe einen Platz am Arbeitstische einzuräumen, und wie sie sich dann hochroth und mit glänzenden Augen wieder niedersetzte.

Seit einigen Tagen arbeitete man nicht mehr in »Vögeln und Käfern für Modeartikel«. Mutter und Tochter säumten jetzt rosa Volants für Sidoniens Kleid, und nie hatte die kleine Lahme so freudig genäht.

Sie war nicht umsonst die Tochter des berühmten Delobelle, die kleine Désirée.

Von ihrem Vater hatte sie die Fähigkeit geerbt, sich mit Leichtigkeit in Träume einzuwiegen, bis zum letzten Augenblicke Hoffnung zu hegen und sogar noch über diesen hinaus.

Während Franz ihr seine Liebesleiden erzählte, dachte Désirée daran, daß er, sobald erst Sidonie abgereist wäre, alle Tage zu ihnen kommen würde, wenn auch bloß, um von der Abwesenden zu reden, daß sie ihn dann ganz in ihrer Nähe haben, daß sie zusammen »den Vater« erwarten, und daß er doch vielleicht eines Abends, wenn er sie betrachte, den Unterschied bemerken würde, der zwischen einem Weibe, welches liebt, und einem, das sich lieben läßt, besteht.

Dann verlieh der Gedanke, daß jeder Stich an dem Kleide diese so ungeduldig herbeigesehnte Abreise beschleunigte, ihrer Nadel eine ungewöhnliche Behendigkeit, und der arme Liebhaber sah mit Schrecken, wie die Volants und Rüschen, sich wie kleine Wellen kräuselnd, sich um sie anhäuften.

Sobald das rosa Kleid fertig war, reiste Fräulein Chèbe nach Savigny ab.

Das Schloß des alten Gardinois lag im Thale der Orge, am Ufer jenes kleinen Flüßchens, das mit seinen Mühlen, Inseln, Schleusen und den großen Wiesen, die sich allenthalben an seinen Ufern entlang erstrecken, so phantastisch hübsch erscheint.

Der Herrensitz, ein altes Gebäude aus der Zeit Ludwigs XV., mit wenig hohen Räumen, aber sehr hohem Dache, hatte einen starken Anstrich von Melancholie, ein eigenthümliches Gepräge aristokratischen Alters: überall erblickte man breite Freitreppen, verrostete eiserne Balkons, vom Regen ausgewaschene alte Vasen, aus deren röthlichem Stein frische Blumen hervorschauten. Einen sanften Abhang hinab zogen sich, so weit man sah, zerbröckelnde, hangende Mauern bis zum Flusse hinunter. Darüber empor ragte dann das Schloß mit seinen Schieferdächern, die Meierei mit ihren rothen Ziegeln, der herrliche Park mit seinen Linden, Buchen, Pappeln und Kastanienbäumen, die sich zu einer dichten, dunkeln, nur hin und wieder von den Bogengängen der Alleen durchbrochenen Linie an einander schlossen.

Den schönsten Reiz des alten Besitzthums aber bildete das Wasser: das Wasser belebte seine Stille, verlieh seinem Anblick etwas Feierliches. Es gab in Savigny, ohne den Fluß zu rechnen, Quellen, Springbrunnen und Teiche, in denen die Sonne in all ihrem Glanze unterging, und das stand dem alten, bemoosten, grün schimmernden Hause, das ein wenig verwittert erschien wie ein Stein am Rande eines Baches, sehr gut.

Aber wie in den meisten jener herrlichen Pariser Sommersitze, deren sich die Emporkömmlinge des Handels und der Speculation bemächtigt haben, paßten unglücklicherweise auch in Savigny die Schloßbewohner nicht zum Schlosse.

Seitdem er das Schloß gekauft, beschäftigte sich der alte Gardinois mit nichts anderm als mit der Zerstörung dessen, was der Zufall ihm so schön überliefert hatte. Er ließ »der Aussicht wegen« Bäume fällen, verunstaltete seinen Park durch häßliche Zäune, um die Landstreicher abzuhalten, und wandte seine ganze Sorge einem prächtigen Gemüsegarten zu, der, da er einen reichlichen Ertrag an Obst und Gemüse lieferte, ihm eher sein Landgut, sein Bauerngut zu sein schien, als das Schloß und der Park.

Was die Teiche mit den zahllosen Wasserlilien, die Grotten, die Muschelbrücken und die großen Säle betrifft, in denen das reichgeschnitzte Getäfel vom Herbstnebel des Glanzes und der Farbe beraubt wurde, so legte er nur der Bewunderung der Fremden wegen Werth darauf, denn das alles zusammen bildete ja jenes Etwas, das der Eitelkeit des ehemaligen Viehhändlers so sehr schmeichelte: ein Schloß!

Da er schon bejahrt war und nicht mehr jagen und fischen konnte, so brachte er seine Zeit mit der Überwachung der unbedeutendsten Kleinigkeiten der ausgedehnten Wirthschaft hin. Das Hühnerfutter, der Preis des zuletzt verkauften Grummets, die Zahl der in einem prächtigen, rundgebauten Speicher lagernden Strohbündel gaben ihm Anlaß, einen ganzen Tag lang zu schelten, und sicher würde niemand beim Anblick des schönen Savigny, des Schlosses auf der Anhöhe, des Flüßchens, das daran vorüberfloß und ihm gleichsam als Spiegel diente, der hohen, epheuumschatteten Terrassen und der Stützmauern, die den Park auf dem Abhange des Terrains umgaben – sicher würde bei diesem Anblick niemand geahnt haben, wie knauserig und kleinlich der Besitzer war.

Dort lebte also Herr Gardinois, der sich in Paris langweilte, das ganze Jahr hindurch in der Muße, welche ihm sein Reichthum gewährte, und während der schönen Jahreszeit leisteten ihm die Fromonts Gesellschaft.

Frau Fromont war eine stille, einfache Frau, die der brutale Despotismus ihres Vaters frühzeitig an passiven und stetigen Gehorsam gewöhnt hatte. Dieselbe Haltung beobachtete sie auch ihrem Gatten gegenüber, dessen Güte und beständige Nachsicht bei dieser demüthigen, schweigsamen, gegen alles gleichgiltigen und so zu sagen unzurechnungsfähigen Natur nichts hatten ausrichten können. Da sie stets den Geschäften fern gestanden hatte, so war sie reich geworden, ohne es gewahr zu werden und ohne im geringsten Lust zu verspüren, von ihrem Reichthum Nutzen zu ziehen. Die schöne Wohnung in Paris, das prunkvolle Schloß ihres Vaters erregten ein peinliches Gefühl bei ihr. Sie nahm so wenig als möglich Raum in Anspruch und füllte ihr Leben mit einer einzigen Leidenschaft aus: mit der Ordnungsliebe, einer wunderlichen, phantastischen Ordnungsliebe, die darin bestand, daß sie eigenhändig und ohne Unterlaß die Spiegel, die Vergoldungen, die Zierathen an den Thüren abbürstete, abwischte, abstäubte und putzte.

Hatte sie nichts anderes mehr zu reinigen, so machte sich die wunderliche Frau an ihre Ringe, ihre Uhrkette, ihre Broschen, putzte die geschnittenen Steine, die Perlen und hatte bei dem Bemühen, ihren eigenen und den Namen ihres Gatten in ihrem Trauringe zum Glänzen zu bringen, alle Buchstaben derselben durch Reiben verwischt. Diese Manie verfolgte sie auch in Savigny. Sie las das trockne Holz in den Alleen zusammen, kratzte mit der Spitze ihres Sonnenschirms das Moos von den Bänken und hätte die Blätter abstäuben, die alten Bäume mit dem Besen abfegen mögen. Während der Fahrt auf der Eisenbahn warf sie oft neidische Blicke auf die nach der Schnur gebauten, weißen, saubern kleinen Villen am Wege mit den glänzenden Kupferzierrathen, der metallnen Gartenkugel und jenen kleinen, langgestreckten Gärten, die wie Schubladen aussehen: das waren Landhäuser nach ihrem Geschmack.

Auch Herr Fromont, der immer nur flüchtig und den Kopf voller Geschäfte hinauskam, hatte fast gar keinen Genuß von Savigny. Nur Clara war in diesem schönen Parke wirklich zu Hause. Sie kannte das kleinste Gebüsch in demselben. Wie alle einzigen Kinder auf sich selbst angewiesen, hatte sie sich bestimmte Spaziergänge zu einem Vergnügen gemacht, überwachte sie das Blühen und Gedeihen der Pflanzen, hatte sie ihre Lieblingsallee, ihren Lieblingsbaum, ihre Lieblingsbank, auf der sie sich zum Lesen niederzulassen pflegte. Die Tischglocke überraschte sie immer in der Tiefe des Parkes. Außer Athem, aber glückstrahlend, von der frischen Luft erquickt, kam sie dann zu Tisch. Der Schatten der Gebüsche, der über diese jugendliche Stirn hingeglitten war, schien eine milde Melancholie darauf erzeugt zu haben, und in ihren großen Augen spiegelte sich die blaue, strahlende Tiefe der Wasserbecken.

Die Schönheit der Landschaft hatte sie vor der Plattheit und Niedrigkeit ihrer Umgebung bewahrt. Herr Gardinois konnte stundenlang in ihrer Gegenwart die Verdorbenheit der Lieferanten, der Dienstboten beklagen und ihr vorrechnen, was ihm monatlich, wöchentlich, täglich, stündlich gestohlen wurde, Frau Fromont konnte ihr all die Verluste aufzählen, die sie durch Mäuse, Motten, Staub und Feuchtigkeit, welche auf die Zerstörung ihrer Kleidungsstücke erpicht und gegen ihre Schränke verschworen waren, erlitten hatte – nicht eine Silbe von diesen albernen Gesprächen blieb in Claras Geiste haften. Ein Lauf um den Rasenplatz, eine Stunde bei einem Buche am Rande des Teiches gaben dieser edlen, gesunden Natur sogleich die Ruhe wieder.

Der Großvater betrachtete sie wie ein fremdes Wesen, das gar nicht in seine Familie passe. Als Kind schon war sie ihm mit ihren großen, klaren Augen und ihrem geraden Sinne unbequem, weil er in ihr nicht seine unterwürfige, passive Tochter wiederfand.

»Das wird ein Naseweis und ein Trotzkopf wie ihr Vater,« sagte er, wenn er schlechter Laune war.

Wie viel besser gefiel ihm da die kleine Chèbe, die von Zeit zu Zeit herauskam, um in den Alleen von Savigny zu spielen! Das war wenigstens die der seinen verwandte Natur eines Kindes aus dem Volke mit einem Anfluge von Neid und Ehrgeiz, die sich schon damals in einem gewissen leisen Lachen mit den Mundwinkeln verriethen. Außerdem bezeigte die Kleine vor seinem Reichthum ein kindliches Erstaunen, eine naive Bewunderung, die dem Stolze des Emporkömmlings schmeichelten, und traf zuweilen, wenn er sie neckte, in ihren Antworten den drolligen Ton eines echten Pariser Kindes, wobei die Ausdrücke freilich etwas nach der Vorstadt schmeckten, aber durch das reizende Mienenspiel ihres feinen, bleichen Gesichtchens, auf dem die Plattheit noch eine gewisse Vornehmheit bewahrte, geadelt wurden. Daher hatte der Alte sie auch nie vergessen.

Besonders dies Mal, als Sidonie nach langer Abwesenheit mit ihrem gelockten Haar, ihrer schönen Figur, ihrer aufgeweckten, beweglichen Physiognomie und der ganzen Anmuth der ein wenig gezierten Manieren einer Ladenjungfer nach Savigny kam, erntete sie nicht wenig Beifall. Der alte Gardinois, nicht wenig erstaunt, statt des Kindes, das er erwartete, ein junges Mädchen vor sich zu sehen, fand sie hübscher und vor allem graciöser als Clara.

Fräulein Chèbe hatte in der That, als sie den Zug verließ und in der großen Kalesche des Schlosses Platz nahm, kein allzu schlechtes Benehmen, aber es fehlte ihr das, was die Schönheit und den Reiz ihrer Freundin bildete, der feine Ton, die vornehme Haltung, der Stolz, mit dem dieselbe die Künste der Koketterie verschmähte, und vor allem die innere Sicherheit. Ihre Grazie glich ein wenig ihren Roben, den leichten, billigen, aber nach dem Geschmack des Tages zugeschnittenen Stoffen, Lappen, wenn man will, aber Lappen, für die die Mode, diese gedankenlose, reizende Fee, Farbe, Verzierung und Schnitt angegeben hatte. Paris hat für diese Art Toiletten ganz besondere niedliche Gesichter, die äußerst leicht zu frisiren und anzukleiden sind, weil sie keinen bestimmten Charakter haben, und Fräulein Chèbe war eins von diesen Gesichtern.

Welch ein Entzücken erfaßte sie, als der Wagen in die lange, grüne, von hundertjährigen Buchen gebildete Allee einbog, an deren Ende Savigny mit weit geöffnetem Gitter ihrer harrte. Von diesem Tage ab führte sie das zauberische Dasein, von dem sie so lange geträumt hatte. Der Luxus erschien ihr hier in allen seinen Gestalten, von der Pracht der Säle, der gewaltigen Höhe der Zimmer, den Schätzen des Gewächshauses und den Reichthümern der Ställe an bis herab zu jenen winzigen Kleinigkeiten, in denen er sich gleichsam zu verdichten scheint, den feinen Parfüms, von denen ein einziger Tropfen genügt, um ein ganzes Zimmer mit Duft zu erfüllen, den Blumenkörben auf der Tafel, dem kalten Tone der Domestiken, dem trägen, gelangweilten »Laßt anspannen« der Frau Fromont ...

Und wie behaglich fühlte sie sich bei diesen verfeinerten Genüssen der Reichen. Wie sagte ihr dies Leben zu. Es war ihr, als ob sie nie ein anderes geführt hätte.

Da erhielt sie während dieses Rausches plötzlich einen Brief von Franz, der ihr die Wirklichkeit, ihre jämmerliche Stellung als künftige Beamtenfrau ins Bewußtsein zurückrief, der sie gewaltsam in die kleine, häßliche Wohnung versetzte, die sie unzweifelhaft eines Tages im obersten Stockwerk irgend eines düstern Hauses beziehen mußte, dessen dicke, elendgeschwängerte Luft sie schon jetzt zu athmen meinte.

Sollte sie die Verlobung aufheben?

Sie konnte das ohne Umstände, da sie kein ander Pfand als ihr Wort gegeben hatte. Aber wer konnte wissen, ob dieser Schritt, war er einmal gethan, sie nicht reuen würde?

In diesem kleinen, vom Ehrgeiz verdrehten Köpfchen wirrten die seltsamsten Einfälle durch einander. Zuweilen, wenn der Großvater Gardinois, der ihr zu Ehren seine alten Jagdröcke und seine wollenen Westen abgelegt hatte, sie neckte und ihr widersprach, um eine etwas gepfefferte Antwort von ihr zu erhalten, sah sie ihm, ohne zu antworten, fest und kalt in die Augen. O, wenn er nur zehn Jahre jünger gewesen wäre ... Aber der Gedanke, Frau Gardinois zu werden, beschäftigte sie nicht lange. Eine neue Person, eine neue Hoffnung war eben am Horizonte ihres Lebens aufgetaucht.

Seit der Ankunft Sidoniens hatte Georges Fromont, den man sonst fast nur sonntags in Savigny sah, die Gewohnheit angenommen, beinahe jeden Tag zum Diner im Schlosse zu erscheinen.

Er war ein großer, schwächlicher, bleicher Bursche von elegantem Benehmen. Als vater- und mutterlose Waise von seinem Onkel, Herrn Fromont, erzogen, sollte er einst das Geschäft übernehmen und jedenfalls auch Claras Gatte werden. Diese fertige Zukunft ließ ihn aber ziemlich kalt. Das Geschäft machte ihm Langeweile, und was seine Cousine betrifft, so verkehrte er mit ihr auf einem durch die gemeinsame Erziehung bedingten vertrauten Fuße: es herrschte zwischen ihnen eine zur Gewohnheit gewordene Vertraulichkeit, weiter aber auch nichts, wenigstens nicht von seiner Seite.

Sidonie gegenüber fühlte er sich dagegen vom ersten Augenblicke an befangen, schüchtern, gleichzeitig aber auch begierig zu gefallen, kurzum, völlig verändert. Sie besaß gerade jene etwas lockere, falsche Grazie, die dieser leichtlebigen Natur gefallen mußte, und bemerkte auch bald den Eindruck, den sie auf ihn machte.

Wenn die beiden jungen Mädchen im entlegensten Theile des Parkes spazieren gingen, so war es immer Sidonie, die zuerst an die Ankunftszeit des Pariser Zuges dachte. Beide eilten dann an das Gitter, um nach den Reisenden zu spähen, und Georges' erster Blick galt dann immer Fräulein Chèbe, die ein wenig hinter ihrer Freundin stand, aber in einer Haltung und mit einer Miene, die die Blicke auf sie ziehen mußten. Dies Verhältnis zwischen beiden dauerte geraume Zeit. Sie sprachen nicht von Liebe mit einander, aber alle Worte, alle Blicke, die zwischen ihnen gewechselt wurden, waren Geständnisse und abweisende Antworten.

Au einem schwülen, bewölkten Sommerabend, als die beiden Freundinnen sogleich nach beendeter Mahlzeit die Tafel verlassen hatten und in der langen Buchenallee spazieren gingen, schloß Georges sich ihnen an. Sie sprachen von gleichgiltigen Dingen mit einander und ließen den Kies unter ihren langsamen Schritten knirschen, als plötzlich Frau Fromonts Stimme vom Schloß her Clara zu sich rief. Georges und Sidonie blieben allein. Vom unbestimmten Schimmer des Sandes geleitet, setzten sie ihren Spaziergang fort, ohne ein Wort zu sprechen oder sich einander zu nähern.

Ein lauer Wind spielte mit dem Laub der Buchen. Die Wellen des Teiches plätscherten leise gegen die Bogen der kleinen Brücke, und die Akazien und Linden, deren Blüten der Wind abstreifte und wirbelnd umhertrieb, erfüllten die gewitterschwüle Luft mit ihrem Dufte ... Die beiden fühlten sich von einer erregten, schauernden Gewitteratmosphäre umgeben. In ihren irrenden Augen flammten helle Blitze wie am fernen Horizonte ...

»O die schönen Johanniswürmchen« ... sagte das junge Mädchen, welches dies Schweigen, das von den geheimnisvollen Stimmen der Natur unterbrochen wurde, beängstigte.

Zwischen den Grashalmen am Rande des Rasenplatzes blitzten unruhige, kleine, grüne Funken. Sie bückte sich, um einen auf den Handschuh zu nehmen. Er kniete neben ihr nieder, und tief über den Rasen gebeugt, Wange an Wange, so daß ihr Haar sich berührte, sahen sie beim Scheine der Johanniswürmchen eine Minute lang einander an. Wie eigentümlich schön und reizend erschien sie ihm bei diesem grünlichen Lichte, das sich über ihr herabgeneigtes Gesicht ergoß und sich wie ein feiner Dunst im feinen Geflecht ihres lockigen Haars verlor! ... Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt, und da er plötzlich fühlte, wie sie nachgab, preßte er sie lange, leidenschaftlich an sich.

»Was sucht ihr denn da?« fragte plötzlich Clara, im Schatten hinter ihnen stehend.

Georges, betroffen und gleichsam außer Athem, zitterte so stark, daß er nicht zu antworten vermochte. Sidonie dagegen richtete sich mit der größten Ruhe auf und sagte, indem sie ihre Röcke schüttelte:

»Johanniswürmchen ... Sieh nur, wie zahlreich sie heute Abend sind ... Und wie sie glänzen« ...

Ihre Augen blitzten ebenfalls in ungewöhnlichem Glanze.

»Das macht gewiß das Gewitter« ... murmelte Georges noch immer bebend.

Das Gewitter war in der That dem Ausbruch nahe. Schon tanzten zuweilen wirbelnde Säulen von Staub und Blättern von einem Ende der Buchenallee bis zum andern. Sie gingen noch eine kleine Strecke, dann kehrten alle drei in den Salon zurück. Die jungen Mädchen beschäftigten sich mit ihrer Handarbeit, Georges versuchte in einem Journal zu lesen, während Frau Fromont an ihren Ringen putzte und Herr Gardinois mit seinem Schwiegersohne im Nebenzimmer Billard spielte.

Wie entsetzlich lang kam dieser Abend Sidonien vor. Sie hatte nur den einen Wunsch, ihren Gedanken überlassen, allein zu sein.

In der Stille ihres kleinen Zimmers aber, als sie das Licht ausgeblasen hatte, das durch die zu klare Beleuchtung der Wirklichkeit dem Träumen hinderlich ist – welche Pläne, welcher Freudenrausch! Georges liebte sie, Georges Fromont, der künftige Erbe der Fabrik! ... Er würde sie heirathen, sie würde reich werden ... Denn in dieser feilen kleinen Seele hatte der erste Liebeskuß nur Gedanken des Ehrgeizes und der Habgier erweckt.

Um sich zu vergewissern, ob ihr Liebhaber es aufrichtig meine, suchte sie sich die geringsten Einzelheiten der Scene in der Buchenallee ins Gedächtnis zurückzurufen, den Ausdruck seiner Augen, die Glut seiner Umarmung, die Mund an Mund gestammelten Schwüre, gestammelt beim flüchtigen Schimmer der Johanniswürmchen, deren Bild ein feierlicher Augenblick für immer ihrem Gedächtnis eingeprägt hatte.

O, die Johanniswürmchen von Savigny!

Die ganze Nacht hindurch blinkten sie wie Sterne vor ihren geschlossenen Augen. Der Park war bis in die Tiefe seiner dunkelsten Gänge damit angefüllt. Längs der Rasenplätze, auf den Bäumen, im Gebüsch glänzten sie gleich Girandolen ... Der feine Sand in den Alleen, die Wogen des Teiches sprühten grüne Funken, und alle diese winzigen, leuchtenden Pünktchen bildeten eine festliche Beleuchtung, mit der Savigny sich zu umkränzen schien, um die Verlobung zwischen Georges und Sidonie zu feiern ...

Als sie am anderen Morgen aufstand, war ihr Plan fertig. Georges liebte sie – dessen war sie sicher. Aber dachte er daran, sie zu heirathen? ... Daran zweifelte sie sehr, die Schlaue. Doch das schreckte sie nicht. Sie fühlte sich stark genug, um dies zugleich schwache und leidenschaftliche Kinderherz nach Belieben zu lenken. Sie brauchte ihm nur Widerstand entgegenzusetzen, und das that sie.

Während der folgenden Tage war sie kalt, gleichgiltig, absichtlich blind und ohne Gedächtnis. Er wollte mit ihr reden, jenen seligen Augenblick von neuem heraufbeschwören, aber sie wich ihm aus, indem sie immer irgend jemand zwischen sich und ihn schob. Da schrieb er.

Eigenhändig trug er seine Briefe in eine Felsenhöhle im Hintergrunde des Parks bei einer klaren Quelle, die man »das Gespenst« nannte, und die mit Stroh überdacht war.

Sidonie fand das reizend. Da galt es abends zu lügen, einen Vorwand zu ersinnen, um allein nach dem »Gespenst« gehen zu können. Der quer über die Alleen fallende Schatten der Bäume, das Rauschen der stürmischen Nacht, der Lauf und die Aufregung verursachten ihr ein angenehmes Herzklopfen. Sie fand den Brief vom Thau benetzt, von der Kälte der Quelle angehaucht, und im Mondschein schimmerte er so blendend weiß, daß sie ihn schnell verbarg, aus Furcht, überrascht zu werden.

Und mit welcher Freude öffnete sie ihn dann, wenn sie allein war, mit welcher Wonne entzifferte sie diese magischen Zeichen, diese Liebesphrasen, deren Worte von blendenden blauen und gelben Kreisen umschwirrt erschienen, als ob sie ihren Brief im vollen Sonnenschein gelesen hätte.

»Ich liebe Sie ... Schenken Sie mir Gegenliebe« ... schrieb Georges in allen möglichen Tonarten.

Anfangs antwortete sie nicht. Später aber, als sie merkte, daß er aufs höchste in sie verliebt, daß er ganz ihr eigen war, und daß ihre Kälte ihn zur Verzweiflung brachte, da erklärte sie rundweg:

»Ich werde keinen andern als meinen Gatten lieben.«

Ja, sie war bereits ein richtiges Weib, diese kleine Chèbe ...


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