Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nichts ist, was sich bewegt, du selber bist das Rad,
Das auf dich selbsten läuft und keine Ruhe hat.
Angelus Silesius: Der Cherubinische Wandersmann
Ich höre ein Dengeln von Sensen. Die Ernte wird eingebracht; auch ich bin froh dabei. Schon bringen große Fuhrwerke das Getreide in die Scheunen. Strohblonde Kinder hocken droben und jauchzen. Wiederum ist die Champagne goldig geworden, und die letzte Sonne umflimmert die Reben im ersten Herbsttau; auch die sollen voll von Gold werden. Die Räder der Leiterwagen sind daher mit eisernen Ringen beschlagen und gesichert. Wie Sicheln fahren sie auf einen zu; auch sie ernten ein: die Strecke. Sichtbar besiegen sie Entfernungen.
Bei Vollmond gibts ein Erntefest. Allerhand Gelegenheitsarbeiter sind zusammengeströmt; bald werden sie aber wieder davon sein, um dann aber zur Weinlese nochmals aufzutauchen. Gauklerwagen stehn inmitten der Pappelallee und erschweren den Verkehr. Hunde bellen mehr als sonst; alle Tiere sind aufgeregt, die Gänse in einemfort im Wege, sie werden mit Geschnatter hin und her gescheucht und magern ab. Irgendwo ist eine Sau ausgekommen, und Kinder fangen mit ihr eine Gelegenheitshetze an. Von hochroten, ziemlich angetrunknen Kerlen wird Apfelwein aus Kellern in Bottiche hervorgepumpt, um auf Karren hinauszuschwanken zu Knechten, Mägden, Landstreichern und allem, was mithilft. Solch ungewöhnliche Aufregung tut dem Dorf wohl.
*
Der Vollmond geht soeben auf; das Fest kann seinen Lauf nehmen. Eine Drehorgel: einige Paare fangen an zu tanzen. Nun erschallt eine Stimme, die Zirkus ankündigt; die Leute rücken rings um einen leeren Kreis von eineinander. Zwischen zwei Bäumen wurde ein Seil gespannt: eine rosa Jungfrau mit Seidenblume und Silberähren im Haare geht drauf mit einem Riesensonnenschirm spazieren. Ein Affe in roter Hose mit Soldatenmütze springt auf die Drehorgel, und ein Clown mit Mehlgesicht und Silbersonne auf den Pluderhosen schlägt Purzelbäume. Der Mondschein blaut durch die Blätter auf lauter lachende Gesichter.
Rote, kugelrunde Lampions beleuchten einen Schanktisch. Große Fässer Apfelwein stehn im Umkreis. Wassermelonen aus dem Süden werden in schönen rosa Scheiben feilgeboten; man schlürft die Frucht beinahe ein, so zuckerig und schaumig schmeckt sie. Auch der Apfelwein mundet ausgezeichnet; aber die meisten denken ans Tanzen: wenn doch die Zirkusgeschichte endlich ihr Ende nähme! Ein dicker Papierballon mit entzündetem Schwamm hat sich gut erhitzt und schaukelt nun über Köpfe und Laubkronen hinweg in die fast windstille Mondnacht.
Nur wenige haben ihn bemerkt, und ein paar Kinder verfolgen ihn mit den Blicken.
*
Eine geschminkte Dame mit einer lebendigen Riesenschlange um den Hals und über die Schultern zeigt sich dem Publikum. Sie schleppt gewissermaßen das letzte Zirkusende mit sich fort und bringts handgreiflich um den Schanktisch jedem einzelnen dar. Man darfs eigenhändig befühlen. Ein paar Landmädchen erschrecken vor der Schlange und laufen davon; unternehmende Burschen ihnen nach.
Es soll aber noch einen Ball geben. Die Musik ist nun einmal bestellt und zur Stelle: zwei Geigen und ein Cello. Heftig-lila Azetylenlichter verstärken die purpurne Lampionsbeleuchtung, und der Tanz ist schon im Gange: die Paare kugeln sich in der Vertikalen.
*
Wenn nicht Geschlecht und Lust einmal zu oberst und der Verstand mit seinem Kopf zu unterst zu stehn kommen, so kann die Welt nicht weiter fortrollen. Ihr Schnitter und Säemänner seid eben dabei, die Erde im Geleise zu erhalten. Die Mägde sind auch gern dabei und hoch erfreut, sie finden die Weltordnung ausgezeichnet. Gesetze und Weltgründe, um die sich Seher und Späher nächtelang abquälen, sind immer sprungbereit, um im Bewußtsein aufgenommen, durchgefühlt zu werden; man muß nur wissen, wies richtig angepackt wird, damit sie forsch ins Lebendige eingebracht werden. Was so ein lachendes Mädchen doch alles von der Mondvollkommenheit weiß!
*
Wundervolle Champagne, die Fruchtbarkeit gärt in deinen Ähren, und es ist ein großer Sternschnuppentag. Die Stunden wurden nämlich umgekehrt, die Nacht hat man zum Tag gemacht. Der Apfelwein ist auf das Feld zurückgekehrt, die jungen Leute kriegen kugelrunde Räusche. Sie purzeln ja beim Stehn; nun, so bleiben sie viel lieber gleich beisammen liegen. Wenn dann die Sonne aufkommt, können sies ja gut verschlafen. Alles, was Nacht ist, bleibt wach: es gab noch nie ein besseres Erntejahr und auch noch keinen solchen Sternschnuppenregen. Die Nacht ist warm. Der Wein kann froh gedeihn, doch schenken Sterne, die erst spät heraufziehn, eine unerwünschte Kühle. Das Gras wird naß: das kann nichts tun, ein guter Rausch hält sich die jungen Menschen bis zur Wiederkunft der Sonne heiß und glücklich.
*
Ist denn Paris unerschöpflich an Fuhrwerk? Aus allen Straßen läppert sichs seit einer Stunde zusammen. Die Omnibusse, vollbesetzt, mit großen Reklamebuchstaben und buntgeputzten Menschen auf dem Dach, kommen Droschken unaufhörlich in die Quere. Wie sich die armen Klepper mühn: hin und her gerüttelt werden Kutscher, Vorbeigehende und Insassen. Auch die grauen Staubschlangen der Automobile keilen sich, große Aufregung hervorrufend, zwischen vierfache Wagenreihen, denn was nur irgendwie über Räder verfügen kann, setzt sich zur selben Tageszeit in gleicher Richtung in Bewegung. Zum Triumphbogen gehts zuerst empor und dann hinunter zur großen Rennbahn. Unterirdisch läufts genau so. Elektrisierte Züge stürzen sich auf ihre Gleise und vertilgen Entfernungen. Rastlos tost der Wahnwitz des Großverkehrs. Oben beim Triumphbogen füllen sich unterm Boden mit einander verbundne Schraubengänge, elektrisch übersichtlich beleuchtete Labyrinthe, voll mit Menschen. Plötzlich entwimmeln ihnen schwarze Kometen, lauter Pariser, und begeben sich sofort in die Richtung der dunkeln Droschkenraketen. Lebendige Spiralen, alles Leute, nehmen im Nu den runden Sportplatz für sich in Anspruch: das Rad verrückt soeben das körperlich Bewegbare in der Großstadt in der entgegengesetzten Richtung der Achsenbewegung der Erde.
*
Die Menschen graben sich immer häufiger in eine Unterwelt ein. Vor allem die Bergarbeiter, überhaupt alle gewerblichen Grubenbeschreiter, schließlich der Weltstädter. Dämmerhaft rast es im Bodengekröse seinem Ziel zu: der Dämon muß verschwinden. So gewöhnt man sich nämlich leibhaftig an seinen Traumschacht: langsam wird er alle Schrecken verlieren. Wie ein Riesenkeil aus durchsichtigem Metall stürzt sich der Raum in der Tiefbahn auf den im verglasten Zug Dahinsausenden. Zuerst der Eindruck unweigerlicher Grausamkeit, endlich die Gewißheit, daß Geist über uns hereinbrechen muß. Noch schaudert einem davor. Daß man sich an das täglich Ereignisreiche rasch gewöhnt, bleibt unheimlich. So wird aber Gewohnheit ein mächtiger Trumpf des erobernden Gewissens.
*
Überall blitzts auf. Die Sterne werden nicht scheinen; die Stadt macht sichs in jeder Nacht so hell, wies dereinst bei Vollmond war. Gutmütig gelaunte Droschken schlenkern daher; ihre Geschwindigkeit hat nichts Betörendes. Das geht wirklich beruhigend gleichgültig zu, immer noch ein Wagen hinterm andern; obs vom Rennplatz kommt oder zum Theater geht, Paris hats genau so eilig, wies eine Droschke leisten kann. Doch nie kommt man zu spät. Automobile schnarren mit einem gewissen Mutwillen durch die Allee; sind sie aber einmal vorbei, so geht gleich nur das allabendliche Droschkengeklapper an den Ohren des Parisers vorbei; unaufhörlich, unweigerlich immer dasselbe. Dieses Tempo besagt, du sollst dich gewöhnen, du wirst dich gewöhnen, du kannst dich gewöhnen, du mußt dich gewöhnen, du hast dich gewöhnt. Schließlich befindet sich, wer eine Droschke nahm, doch am Ziel, sei es nun zu Hause, im Theater, im Paris bei Lärm.
*
Dem Eiffelturm hat man sein Licht ausgeblasen, dafür dreht sich allabendlich ein schwarzer Kranz mit leuchtenden Früchten um Paris: das Riesenrad. Das ringsum sichtbare Zeichen prahlt: in Paris gibts unausgesetzt Jahrmarkt! Entweder zu Füßen des Rades oder auf der Esplanade oder in irgendeinem alten Vororte, irgendwo gehn die Ringelspiele im Kreis herum. Ladenschwengel mit flammender Krawatte spreizen ihre Beine über einer rosalackierten Holzsau. Aufgeputzte Mamsellen schaukeln in versilberter Muschel mit blitzender Spiegelaufmachung und bunter Papierblumenbekränzung zwischen den berittnen Schweinen rund herum. So gehts ganze Alleen lang, so dröhnts Hügel auf, Hügel ab, eine Nacht wie die andre. Tätowierte Frauen laden vor ihren Gekreischbuden zum Bauchtanz, den sie eigenhändig aufführen werden, ein. Brüllende Tigerbändiger fordern zum Schauspiel mit brennenden Reifen und hindurchspringenden Bestien auf. Noch viel anderes und sehr Ausschreiungswürdiges gibts zu sehen, wenn in Paris Jahrmarkt ist, einmal im Jahr in jeder großen Vorstadt.
Soeben macht sich die Volkstümlichkeit sogar im Westen, im Viertel hinterm Triumphbogen breit. Hier draußen erscheint auch, so gewissermaßen zum Scherz, die bessere Gesellschaft und die mittlere Halbwelt beim Fest. Wie das heut Abend von schamlos falschen Edelsteinen, Geschmeiden für entblößtes elektrisches Licht herumäugt, gleißt, blitzt und bei der Jahrmarktflimmerigkeit mittut! Wer nicht in der Buntschimmerei hektisch aussehn will, hat Schminke nötig. Junge Damen mit hochroten Zuckermündern pfeffern in Schießbuden auf pendelnde Porzellanschalen, auf Kindergeschirr, Puppen in fremdländischer Uniform und allerhand baumelnde Holztiere unentwegt drauf los. Das geschieht alles mit größter Unbefangenheit, und auch die Herren sind ganz natürlich und unbefangen beim Spaß dabei.
Mondlandschaft mit mechanisch bewegten Schattenfiguren: ein schlecht aufgenommenes Kinobild. Es dient als Reklame für ein Flohtheater. Die Melba singt: ein ausgezeichnetes Grammophon! Soll aber bloß auf ein Aquarium mit echtem Urinocowasser und richtigen Krokodilen vom Viktoria- und Albertsee aufmerksam machen.
Ich entdecke für mich das Spiegellabyrinth im Innern einer Moschee aus Pappdeckel.
*
Das Labyrinth zerspiegelt mich; mein Raumgefühl ist weggeblendet, dafür drängt sich die Wahrnehmung der Dauer sehr nervös auf. Immer hörbarer hämmert das Herz, immer eiliger. Ich komm nicht fort: erfaßt mich Schrecken? Wenn ich nur nach oben hinaus könnte! Also Schweben unmöglich; wenn ich aber träumte, dann müßt es doch gelingen! Nun, ich beherrsche mich: der folgende Gedankengang Bergsons wird mir klar: Tiere haben kein Raumgefühl wie wir, ihr Instinkt nimmt Verschiedenheiten um sich auf, zu einer Vereinheitlichung sind sie unfähig, und darum stürzen sich Wandervögel dem Geruch nach auf ihre Richtung. Irgendwo komme ich nicht herum: ich habe soeben die Windrose der Seele verloren. Ich kann mich aber fassen, und dabei weiß ich im voraus: wenn ich ablebe, wird mich der Instinkt in die Richtung meines Weiterlebens werfen: sein Klarermachen ist mein irdisches Dahingehn. Wie der Same seine Blüte, so findet auch die Seele dereinst ihre Schwebefreiheit, um zu weitern Leichtigkeiten hinan zu geistern. Menschlich ausgedrückt heißt das Bild: Schwerpunkt zu sich beim Sturz nach oben.
*
Das Spiegellabyrinth war ein panisches Erlebnis. Ich komme wohl endlich vom Fleck, doch nun gehts in die Umsturzkammer. Wir stehn auf dem Kopf; man geht mit den Füßen nach oben; auch die Hände hängen nach oben herunter, und das ist das Unheimlichste. Unzählige Menschen sinds, alles unsre Antipoden: da bin ich, ich zehnmal, immer wieder ich, vielleicht ich allein! Diese unaufhörlichen Ichs! Wie pack ich mich in meiner Einzigkeit? Ist das überhaupt noch Spiegelei? War ich am Ende gestorben, soeben im Labyrinth: und nun komme ich in die Hölle! Meine Strafe: der eigne Antipode, zehnmal der eigne Doppelgänger. Fort, hinaus von hier!
*
Vor mir steht ein Rad. Eigentlich eine Trommel. Drin ist ein Zimmer, wohl eingerichtet, Menschen dürfens betreten, und alles dreht sich rund herum. Ich kann nicht hinein, ich höre schon von draußen, wie Leutchen drin herumquietschen. Quietschen ist so halb Wimmern, halb Lachen. Also ein andrer Höllenscherz, dieser drehbare Riesenbauch aus Holz, oder vielleicht ein Scherz über die Hölle oder sogar, ohne daß mans ahnte, eine Verspottung des Umsturzes. Wer ist eigentlich Umstürzler? Immer der, für den tierhafte Mitgaben im Menschen vor unsre geistige Begabung gehn. Die Hölle wäre somit das Rad, wo der Kopf wirklich nach unten zu stehn kommt, wo der Unberufne, der Ungeborne herrscht: Hölle ist auch aufgewirbelter Staub.
*
Looping the loop! Ein metaphysisches Kolossalpanorama: Todessturz, Höllenpfuhl, Auferstehung, alles eine Schleifenfahrt. Soeben gehts los: mit Schreien beginnts. (Wir hören meistens den Todesschrei nicht, da er bereits drüben gellt, genau so wie bei uns der Geburtsschrei.) Mächtig stürzen die Wesen in sich zusammen, (der Tod ereignet sich immer zu gleicher Zeit in einer Unmenge) haltlos sind dabei die meisten, zumal die Toten, die weiblich waren; durch Angstketten hängen sie noch aneinander, doch schon verwirklichen sie den Höllenbrei, sie sind bereits das Nichts. Ihr Kopfüber nähert sie jedoch abermals der Erde, die Wucht des allgemeinen Sterbenssturzes wirkt fort; bevor sie ganz vergangen sind, schießen sie wieder nach oben, aufwärts mit der Schleife, kunterbunt durch einander gerüttelt sind sie wieder da. Sozusagen aufrecht. Bei uns. Hier kommt man betäubt, gedächtnisschwach zu sich.
*
Wird die Hölle aufgeräumt? Könnten wir uns sonst so einen Teufelsspott erlauben? Soll der Mensch sich an den Todessturz gewöhnen? Warum machen wir lachend die Schrecken des Schlundsprunges mit? Wie ists, spielen wir mit der Angst oder spielt die Angst mit uns? Vielleicht überwinden wir dabei das Kopfüber.
Überall gibts Rutschbahnen, Höllenschleifen, Karusselkarawanen; es lebt noch immer der alte Wiener Wurstelprater. Amerika erfindet uns tagtäglich neue Sturzabenteuer, Leiber-Niagaras. Wer täte da nicht mit, so weit es moderne Menschen gibt! Ganz unheimlich, man hat die Hölle des verrollenden Raumbesitzes »Lunapark« getauft.
*
Das Fest geht zu Ende. Vor einem Zirkus steht ein Dutzend buntscheckiger Menschen, beiderlei Geschlechts und verschiedenen Kalibers, der Größe nach, auf den Händen mit dem Kopf nach unten und grüßt mit den Füßen. Dabei werden wir für morgen ganz speziell in den Zirkus eingeladen. Das Kopfüber ist das Komische; das Rad in uns bringt uns zum Lachen.
*
Auf dem Montmartre malen zwei Mühlen, die eine ist rot und hat ein rotes Rad, die andre gelb und hat ein gelbes Rad. Dort hinauf gefällt sich gelegentlich auch der Jahrmarkt; da er jedoch aus andern Vorstädten stammt, so gefällt er sich eigentlich nicht am selbstbewußten Zweimühlenberg. Denn gerade die Windmühlen wollen, daß sich ihre rot oder gelb beglühten Riesenflügel ungestört und rings bemerkt drehn können, sichtbar den ganzen eignen Boulevard entlang, und auch noch unten sofort kenntlich in den neidischen Nachbarvierteln, ja sogar drüben noch wahrnehmbar beim befreundeten Riesenrad hinterm Eiffelturm.
Hier gibts Cabarets, wo man sich geistreich über Himmel und Hölle lustig macht. Und zwar über die unsern, nicht die Offenbachschen! Schließlich ists einer der vielen lustigen Versuche, den Karneval zu ersetzen und endlich ganz unbrauchbar zu machen. Die Sittenverwaltungsbeflissnen der Christenheit hatten nichts dagegen, wenn sich Gläubige zu gewissen Zeiten einfach auf den Kopf stellten; heute wird so etwas immer mehr nur an bestimmten Orten gestattet. Ein bißchen harmlose Blasphemie schlüpft immer noch unten durch, trotz unsrer freien Zeitläufte; den letzten Verärgerten tut sie ein wenig wohl, und wie könnte sie der Gesamtheit weiter schaden?
Auch der Montmartre erlebt sein frühes Ende; vorläufig auf dem Montmartre, oder sagen wir, er wandert aus. Irgendwo wird er schon noch in veränderter Aufmachung aufkommen; vielleicht in San Franzisko oder in Shanghai? In diesem Augenblick ist er aber noch der Tummelplatz für die Ausgelassenheit der vielen Kleinstädte, die miteinander unser einziges Paris ausmachen.
*
Das Theater geht bereits auf dem Boulevard an: Souffleur rechts, Souffleur links, der Tadellose in der Mitte. Wenn jemand einen Buckel oder zum Beispiel bloß ein ausgequollnes Auge hat, so daß er nicht irgendwo drin, wie ers gerne möchte, etwas mitzutun bekommt, so versucht ers immer noch auf der Straße, ob Sonnenschein, ob Regen. Die unzähligen Theater haben alle ihr Café, mit dem sie eigentlich eins sind. Draußen in den blitzblanken Räumlichkeiten mit Riesenspiegeln und Marmortischchen, ja sogar auf dem Boulevard bei Mond und Sternen, erquicken sich und rauchen in den Pausen die Zuschauer. Drinnen, das heißt, wo die Logen, das Parkett, die Bühne sind, werden Limonaden und Tabak feilgeboten, Zeitungen ausgeschrien; und selbst während der Vorstellung trinkt der brave Pariser sein Bier oder nimmt eingelegte Kirschen und Kaffee zu sich. Häufig wird auch während des Dramas oder der Luftgymnastik geraucht. Kurz, ein Untereinander, das leicht zum Kopfüber wird.
Die Herrschenden in diesen Stücken sind eigentlich die Lebedamen. Am Tage gelten auch die Künstler des Viertels etwas, nachts sind aber gerade sie den Schönen des nachgiebigen Geschlechts untertan. Bei den Damen, meistens draußen in einer eingeglasten Terrasse, benimmt sich alles ganz gewohnheitsmäßig und somit am besten. Man traktiert einander mit köstlichen Getränken, Champagner, Südweinen und ausgesucht feinen Likören. Absinth bleibt das bevorzugte Elixir der jung Vergifteten, der Sonderlinge und raffiniert Genußsüchtigen. Bei elektrischem Licht schimmert seine Farbe namenlos unheimlich.
In den verqualmten Sälen spielen Zigeuner; bei den Geigern überperlen sich Kopf und Hände mit Schweiß, dem Zembalisten sternen geradezu die falschen Diamanten von der Stirn. Er kann sich nicht erholen, er darf sich nicht erholen: er muß spielen. Unaufhörlich, unaufhaltsam! In den Pausen kommen noch die Raucher aus dem Theater hinzu.
Dort drin im Zigarettennebel bei den spielenden Zigeunern, beim klimpernden Zembalisten halten sich die ältlichen Koketten am liebsten auf. Sie brauchen Musik, fortwährende Musik, um in der Stimmung zu bleiben, die Stimmung aufrecht zu halten. Plötzlich aber stürzt eine hinaus in frischere Zugluft, damit ihr nicht zur Überraschung Rubinen von Mund und Wange fallen. Die Damen nähren sich von Naschwerk und süßen Schnäpsen: Zigaretten sind das Allerweltmittel, erprobt gegen Hunger, Schläfrigkeit und Zahnweh.
Mitternacht ist die Stunde der gebackenen Kartoffelscheibchen. Pommes frites, recht ausgiebig gesalzen, regen Durst an. Alles knuspert dran herum und bestellt sehr bald Getränke. Auch die verschmähten Schönen kriegen unwiderstehlichen Durst und dazu den Mut, sich auszusprechen. Übrigens ists nun allmählich auch ihre Stunde.
Die Theater gehn eins nach dem andern zu Ende. Da wirds aber in den Lokalen noch lauter und lustiger. Der Augenblick, da der Schwerpunkt der Seele, wie ein Gewicht, in den Schichten des Schlafes zu versinken pflegt, ist da. Auch bei den tapfer Wachgebliebenen macht sich Duslichkeit bemerkbar. Blicke pendeln, ja schielen sogar hin und her. Plötzlich verglasen sie und bleiben an ihrem Bestechungsgegenstand hangen. Dieser, oder sagen wir diese, lächelt. Es ist eine Dame. Jetzt kommt sogar der Kellner mit Salzoliven, Krabben und Krebsen, für die besten Kunden bringt er Hummer. Kinder von der Straße verkaufen Knackobst. Zuerst wird der Gaumen angefeuchtet und belebt, plötzlich brennen Gefühle der Unbeschreiblichkeit lichterloh empor; doch man beherrscht sich vorderhand. Nun verstummen aber langsam die fröhlichsten Gespräche, und die meisten fangen an zu brüten. Auf einmal ein Blick; ein Stuhlrücken genügt. Schon nähert sich die Droschke, noch während man sich in der Garderobe zurecht macht, steht sie draußen bereit, und die Schwermütigen, ebenso wie die Übermütigen, alle Angeheiterten, sämtliche Weltschmerzler lassen sich in die heimlichen Schlünde ihrer Menschlichkeit hinabgleiten.
*
Am Montmartre gabs am längsten ein rassiges Varieté! Die Revue am Schluß jeder Vorstellung soll vor allem diese Behauptung rechtfertigen. Eine ausgesprochene politische Tendenz hatte sie immer. In einigen Halls war sie rücksichtslos sozialistisch, in andern unbeirrbar nationalistisch. Umstürzlerisch eigentlich durchwegs. So stimmt wohl auch zum Ganzen, daß in den Varietés Zirkusnummern eingelegt wurden, wobei prachtvolle, unzähmbare Wüstentiere vorgeführt wurden. Auch in uns gibts noch ein gut Stück Einöde, und wir wollen Löwen brüllen hören, Tiger fauchen und Schlangen zischen sehn. Bei Vollmond, wenn Hunde nicht zur Ruhe kommen, machen sich Hyänen auf zur Aassuche, Wölfe werden heißhungerig, und der Zerberus drin in unsrer Seele, der Höllenhund heult und heult wie wahnumfuchtelt. Wir haltens nicht länger aus, ihm zuzuhören und reißen aus: und dann befinden wir uns mit Leichtigkeit auf dem Montmartre. Vielleicht sind wir im Theater, bei einem aufrührerischen Volksstück, das ein Hungerleider mit blutigen Fingern zusammengekittet hat. Die Gallerie ist voll: Apachen, geborne Lanzenknechte, überlaute Draufgänger regen sich bei Blutszenen auf, und dabei wird ihnen schließlich ihr Mütchen gekühlt. Statt ihrer Bravourstücke, die sie nicht aufführen dürfen, können sie auf der Bühne das hitzig Gewünschte zum Schein verkörperlicht sehn. Theater und Varieté schaffen ihnen immerhin Genuß und Ablenkung. So ein richtiger Montmartreabend mit Nachspiel nach dem Schaustück kann für eine Woche Beruhigung verschaffen.
*
Im Varieté: Menschen hängen minutenlang wie in einem Schlächterladen, mit dem Kopf nach unten, bei einander. Ich muß unwillkürlich an ein paar berühmte Romane aus dem vorigen Jahrhundert denken. Jetzt ein Sturz, selbst aufs Sicherungsnetz, ohne schlimme Folgen, wäre schrecklich. Trotz des Kopfübers hätte es nichts Komisches an sich. Sonst ist doch jedes Abwärtspendeln, selbst wenn es Verhängnis mit sich reißt, irgendwie lächerlich. Sollte das an dem Unbeabsichtigten liegen? So ein Rad, wies die Körper soeben vor meinen Augen, in feinen Sichelzügen vorbereitend, plötzlich akrobatisch zum Durchschlag bringen, bedeutet als Ausdruck ebenso wie das Kopfuntenhängen eine Vollkommenheit. Vielleicht sagt so etwas sogar sinnbildlich: Seht das Kunststück, ich kann mit Tod und Unterwelt spielen, wer vermags auf seine Art? Es kommt ja gar nicht auf die Gefahr an. Das Rad genügt: es bedeutet Todessturz, Niedergang, sichtbare Beschliessung unsrer Kreisbestimmung. Kunstgerechtes Akrobatentum ist Höchstmöglichkeit, das Rad zu erbringen: Ansätze sind das einleitend Spannende, Entladung im Rad ist auch Entlastung und ergibt ausschwingend das Kugelrunde: Vollkommenheit ist akrobatisch erreicht.
*
Die Sängerin, oben auf der Bühne, gebraucht die Stimme, um die falschen Edelsteine ihrer Brustbehänge in Wallung zu bringen. Der reichliche Glanzbesatz wird beim Vortrag dem elektrischen Bogenlicht entgegen geatmet, zugefächelt. So eine Brust soll alle Rundheiten der Welt vor die Sinne flimmern. Das Hinabschimmernde auf reichbesetzten Ärmeln und Röckchen dient nur noch, um alle Bewegungen hinweg zu zittern, die nicht bloß die Üppigkeit des Busens zu vollster Geltung hervorzuzaubern helfen.
Die befrackten Musikanten machen hastig Scherzbewegungen ins Nichts: sie fackeln überhaupt wie mechanische Schattenausschnitte hin und her. Jedes Geigers, jedes Flötisten pomadisiertes Haar wirkt wie eine leuchtende Perücke; des Kapellmeisters Glatze schwitzt und spiegelt wie frischer Lack. Echt wirkt bloß oben die singende Büste, immer echter, immer glühender übersprühn sich ihre Üppigkeiten mit dahinperlendem Gehauchtsein märchenhafter Edellichter; alles ist dort oben voll von wogender Melodienanmut. Beklatscht sie, beklatscht die anerkannte Berühmtheit, feiert sie bei elektrischem Bogenlicht!
*
In grünem Tüll überrascht uns der menschliche Kreisel. Zart und gewandt ist die Tänzerin da. Nein, überall wo anders als da. Und jetzt, doch abermals da.
Sie trippelt: es sollen die Füßchen verschwinden. Sie gehn so geschwind, man kann sie nicht sehn. Der Kopf und die Büste sind klein, auch die Hände gering: wir werden bloß ihre Kreisung wie Silber erleben. Sie faßt ihren Tüllsaum, sie sichelt nach rechts. Sie saust fort im Tüllschaum, sie sichelt nach links. Jetzt hüpfen die Beinchen ihr feinstes Pirouettchen. Sie beugt sich herüber, sie fliegt fast zu uns. Wir sehn bloß ein grünes beflittertes Rund. Spitz wirbelt die Kreiselmaid vor. Sie wendete, sie schwang sich herum. Nun zeigen sich uns ihre reichen Dessous: wunderhübsch lila und weiß. Ein Handlanger ihrer Regie zieht plötzlich die Kugel herab vom elektrischen Licht: jetzt blendet es aderblau, nackt. Wie strahlen und blitzen die lila Dessous! Der rundeste Körperteil mit den zwei Halbmonden zeigt sich enttüllt. Spaßhaft wird er in Frankreich la lune genannt.
Vorhang.
*
Wenn ein schwächlicher Schnee sich auf den Straßen von Paris vertändelt, so kommt auch der stumme Zug der zarten Pierrots angeschwirbelt. Diese weißen Sternchen sind Seleniten; sie bringen auch ihre Pierrots, wie eine leichte Schwebegemeinschaft, in herantrippelnden Reihen, mit. Es gibt unter ihnen zwei Stimmungen: die mit den lila Knöpfen und die mit den gelben Knöpfen. Ebenso kennt man zwei Pierrotstände: die im weißen Satin und die in weißer Seide; sie kommen aber sehr friedlich mit einander aus.
Soeben schwirren sie vom Montparnasse und aus dem lateinischen Viertel auf. Sie haben bereits ganze Parks von Stellwagen überrumpelt, denn sie wollen auf die Höhen von Montmartre. Schon gehts los: mit Gestolper und Geholper durchkreuzt die weiße Gesellschaft ihr helles Paris. Oben, vor der roten Mühle angelangt, spaltet sich die stumme Vetternverbindung in zwei Mondschaften: die eine springt nach rechts ab, bildet ihren weißen Halbkreis mit hocherhobnen, brennenden Laternen und schwenkt sie zum Gruß hinüber zu der andern Mondschaft, die linker Hand das gleiche tat und nun ebenfalls mit Laternengeflimmer davonflattert. Einige weiße Schattengebilde erklettern noch rasch die Gaskandelaber und drehn das Licht ab, damit die eigne blasse Mondhaftigkeit desto deutlicher zur Geltung komme.
*
Der liebe Fasching gelangt nur noch bis auf Montmartre, um Abschied zu nehmen. Das Akrobatenrad hat das Faschingsrad langsam zum Stillstehn gebracht. New-York löst allmählich Rom ab. Nur gewaltsam kann noch die alte Maskenpracht entfaltet werden; und eigentlich überhaupt bloß auf Bällen. Die bunte Fahne des Prinzen Karneval wird in Paris bei Schneegestöber eingeholt. Der Pierrot, die letzte siegreiche Mondmaske, veranlaßt und vertritt in loser Zerfahrenheit, durch sein stummes Ausgelassensein, einen Schneesturm vor Frühlingsanfang. Sie wandern ja mit dem Monde, die hohen Feste des Jahres: Ostern, Pfingsten, Fasching. Sie bestehn zusammen auf demselben Mond, um den sich kleinere Feiertage wie Trabanten herumdrehn. Übrigens hat der Mond auch die Idee zur Larve unsern Urvoreltern eingegeben.
Früher drehte sich das Karnevalsrad tief durch die menschliche Seele; was kam da nicht, von breiten Schaufeln aufgerüttelt, zum Vorschein! Vor Ostern sollte die Seele gesäubert werden. Ostern brachte dann den Entschluß zur Freiheit. Zu Christi Himmelfahrt sollte man den übersinnlichen Aufschwung wagen, zu Mariae Himmelfahrt konnte die Seele in reiner Paradiesesfreudigkeit über die Erde emporschweben.
Karneval durfte sein! Er lebt sogar heute noch: soeben bewimpeln und bebändern sich die kahlen Bäume auf den Boulevards. Oh die schönen, schrecklich vielen bunten Papierschleifen!
Sowie die gelbe Märzsonne durch die fladigen Schneenebel sticht, geht sofort ein Papierschnitzelfall auf den Boulevards an. Aus kleinen Kinderhändchen fliegt er auf, weiß und rot. Von hohen, dicht besetzten Balkonreihen, aus überfüllten Fenstern, schwirbelt das bunte Gestöber auf die Vorüberziehenden nieder. Unaufhörlich tummeln sich unten schwarze Gemenge Straße auf, Straße ab, umher, bis sie alle zu Tausenden und Hunderttausenden durch den Papierschnee ein festliches Aussehn nach Hause tragen können. Mutwillig zieht das große Kopfüber nochmals vorbei. Alljährlich könnte ich mich fragen: Zum letztenmal? Wie viel Frauen sind im Augenblick als Männer verkleidet? Dort unten laufen sie in Rudeln; und dazu gleich als Jäger mit der Flinte. Knapp daneben eine andre Schar: junge Mädchen als Raufbolde mit rotem Schlips. Knaben wackeln in Röcken daher, oft zum Verwechseln gut verkleidet, nur am aufgetragnen Gang kenntlich. Plötzliche Riesen auf Klappscheren ragen bis zur zweiten Balkonreihe empor. Eine Minute lang tun sie schön mit lebhaften Fräuleins, bekommen sogar eine Blume, machen dankbare Geberden, und schwups sind sie wieder zusammengeschrumpft. Erwachsene halten die alte Babymaske durch. Mit Riesenlackköpfen, Tüllhauben, Milchflasche und Kindertrompete machen sie einen großen Aufwand an Lärm und Lächerlichkeit.
Sucht noch irgendwer ein Abenteuer? Vielleicht die vornehmen Dominos? Oder die Wahrsagerin? Ist die überhaupt eine Frau?
Konfettifall, lustiger Karnevalsschnee, stürze dich über die zwitschernden Masken, beweis, daß du lebst, vielleicht erwarten uns leichtere Tage.
*
Auf einmal beginnt das gewohnheitsmäßige Pariser Pferdegeklapper, nur um eine Stunde verfrüht. Es ist sogar viel deutlicher als sonst: noch rhythmisch ungeheuerlicher. Das hat doch was von einer Mühle, vom Dengeln von Sensen, mitunter vom Dreschen. Was ist aber auch so ein Kleppergeklapper anderes als das Geräusch einer Tretmühle! Furchtbar und unsichtbar gehn die Schaufeln jedes Arbeitsrades durch die Seele. Der Sonne großes Tagewerk wird in uns voll Deutlichkeit und doch unwägbar vollbracht. Das obere Halbrad ist der Tag, das untere die Nacht: in dir, Mensch, ruht die Achse.
*
Auch der Karneval hat seine fabelhaften Schaufeln: fürchterlich lockert er auf. Betrachten wir die Masken: wie Tiergespenster schleichen sie umher. Erhascht sie doch beim Schnüffeln, denn sie tuns. Unter der Larve lassen sich Menschen leichter eintieren, denn sie glauben sich ungesehn, sind aber bloß unkenntlich. Plötzlich wirft eine Maske die Schale des Nachgeschmacks weg: wir verstehn keinen Vorgang, schmecken aber dafür um so deutlicher die symbolische Geste. Karneval ist das Fest der Fetzen.
*
Abends überschwärmen sich die Boulevards nochmals mit Maskenzügen. Wagen gibts und Wagenfrachten. In allen Theatern geht was an, in jedem Café ist was los. Oben in gelb erleuchteten und grün umspiegelten Foyers huschen schon kunstgerechte Frisuren, Schwanenhälse, entblößt und mit Edelsteinen geziert, an den hohen Schmalfenstern vorbei.
Die Boulevards tragen selber ein langes Schleppkleid aus weißem Licht: von Warten auf Mansardendächern lassen Scheinwerfer ihre Kometen aus leuchtendem Schnee über die Karnevalslaunen dahinschweifen.
*
In der großen Oper lebt des Faschings Herrlichkeit noch immer in Samt und Seide auf. Allerdings nur einmal im Jahr. Einige wenige erfreun sich an den Seltsamkeiten des Irdischen. Das Vergnügen der Mächtigen hat einen besondern Zweck. Trübselig würden wir werden, wenn nicht ein Lichtschimmer von den Besitzenden durch die Fenster zu den Wartenden herunterglitte. Denn dafür hält sich jeder! Wer wollte nicht im Leben, auf der Bühne, Hochgestellte in Glück und Untergang über sich wissen! Irgendwer soll große Freude erleben, sein Leid sei ganz seelisch, kein Makel des Materiellen soll daran haften. So scheints uns gerecht und natürlich. Durch des Menschen himmelnde Seele ziehn Kometen dahin; Kometen, bloß damit Schönheit sei. Nur wenige sind ihrer teilhaftig: die Damen, die zum goldnen Sternenschweif gehören, tragen Schleppgewänder. Die Hohen von Geburt schreiten über Purpur und kostbare Teppiche dahin, damit der Komet offenkundig werde.
Soeben birgt das Opernhaus den Kometen von Paris. Aus roten, goldgerahmten Logen leuchten Ehrensterne, die großen Orden aus dem Osten lassen ihre Rubine zwischen Saphirträumen oder Smaragdgeheimnissen bluten. Geschichtlich berühmte Brillanten aus dem Schmuck gewesener Königinnen verraten ihre Trägerinnen: am Geschmeide kann man die Maske erkennen! Die Larve ist ja nur eine kleine Gelegenheitsneckerei, ein kleines Zeichen zur Erinnerung an den Prinzen Karneval, der doch von alter Herkunft ist. Zwischen silbernem Geschirr und lila Spiegeln, zwischen traumumsponnenen Glasbüsten und seidenen Schleppkleidern, rauscht der Komet der Bevorzugten wesenhaft und doch unergreifbar dahin. Wer weiß, woher er kam: wer wagte seinen Adel anzutasten?
*
Spanier ziehn mit Spanierinnen auf die Anhöhe von Montmartre: mit ihren Gitarren und Kastagnetten hört man sie von ferne. Studenten sinds, lustige Mädchen, pfiffige Knaben. Fischer aus Neapel mischen sich im Nu unter die Andalusier. Fischer und Fischerinnen spielen Mandoline. Es sollen unter ihnen Künstler und Künstlerinnen sein. Etwas Süden zieht voll Fröhlichkeit hinauf zu den zwei Mühlen über Paris. Dort ist das Stelldichein der Aufgemischten.
*
Wo aber sind die Künstler von Montmartre? Ihr Komet ist fortgezogen: nur für Allerweltfremde stehn ihre Cabarets noch offen. Sie heißen wie dereinst: Himmel, Hölle, Todesschrecken und der fürchterliche Grobian. Schließlich mahlen auch die alten Mühlen nur noch für das angereiste Publikum, rechts die rote, links die gelbe, doch der eigentliche Montmartre ist nicht mehr.
*
Im Frühjahr läßt man die Künstler noch einmal ihr Faschingsfeuerwerk abbrennen. Unterm Schutz des roten Windmühlrades sternt, mondet, besonnt sich und zerperlt eine Orgie vor den Sinnen nachgeborner Romantiker. Auf Kulissen soll sich das Mittelalter nochmals vor unsern Augen entfalten. Die Künstler glauben daran, selbst wenn sie vorgeben, daß sie sich darüber bloß lustig machen; für sie ist Eros im fünfzehnten Jahrhundert im Abendland wiedergeboren worden und zu alter Herrlichkeit gekommen. Die Weiblein glauben nichts und treten gleich nackt auf, mit einem Lärvchen vor den Augen. In ihnen ist tolle Brunst und glühender Liebesrausch eng ineinander geschlossen: sie schleudert sofort die Raketen feuriger Trieblichkeiten und bloßes Nichts.
Die Künstler glauben an den fernen Osten. Sie malen ihre zahlreichen Vorstellungen vom Orient auf Theaterhintergrund, Kulisse und Vorhang. Sie sind voll von Eitelkeit und verkleiden sich als Priester, Könige, Wahrsager und Dichter; die Mädchen brechen durch den Vorhang hervor, zerreißen die letzten Lappen, die sie auf dem Leib haben, zerzupfen ihre Blumengewinde, werfen Tand und Schleier weg, denn sie glauben weder an Odalisken, noch an Prinzen aus dem Morgenland. Ihr leichter Sinn rankt sich hoch, sie zerren die Trachtgespenster ins triebhafte Entzücktsein und machen aus ihnen lauter begehrliche Männlein.
Die Künstler wissen etwas über ihre bleiche Mondheit. Bei den Wasserspielen zwischen Palmen unter Kronleuchtern stehn die Zelte, wo die alten Weine glühn, wo die Pagen lüstern auf die Edeldamen blicken. Diese Damen werfen aber rasch den Mantel weg und beginnen sofort mit der Orgie, deren sich das Männervolk besinnen soll.
Der Fasching starb, durch das Weib mahlt aber das Rad weiter.
*
Nun erzähle ich einen Traum: Er war mein Erwachen in wilder Romantik.
Auf steinernen Brücken standen vermummte Gestalten, alle mir zugewendet und doch mit den Blicken hinunter auf den Fluß.
Das hatte Grauses zu bedeuten: ich wollte den Pont du Carrousel erreichen, um Einschau in die Maskenzüge zu bekommen, oder wenigstens in meine Wohnung übern Strom heimschleichen zu können.
Endlich gelangs: kaum aber stand ich oben auf der Brücke, als auch schon alle Sichtbaren zusammengefegt, von mir hinweg an fernere Steinbrüstungen angedrückt oder ins Wasser hinabgestoßen waren; einige sträubten sich. Unheimlich: es war doch windstill. Ich schleppte mich bis zur Mitte der Brücke, und viele andre Brücken konnte ich übersehn, alle waren überfüllt, überall die taumelnden Gespenster. Angst überwirbelte mich; diese Vermummten konnten ja plötzlich wieder beiderseits um mich auftauchen. Vorläufig bliebs aber still: wenn ich hinlauschte, so wurden die Pappeln am Ufer, die Seinegeräusche hörbar; die Tuilerien lagen dunkel, wunderbar vom Fluß angekündigt, in Blaudunst da. Ich atmete sehr schwer: doch ein paar Schritte gelangen mir, nach meinem Ufer zu. Doch da jagten auf einmal ganze Karawanen über die Nachbarbrücken, vielleicht mir beiderseits entgegen, um mein Michvorwärtsbringen zu verhindern. Nun suchte ich aber, schon aus Furcht, noch kräftiger, mich meinem Hause drüben, überm Fluß, zu nähern, allerdings mit der entschiedenen Absicht, niederzuhocken, wenns um mich her losginge. Ich tastete, krallte mich noch etwas vor. Endlich, es war wie eine Überraschung oder Eingebung, krampfte ich mich an einer Ecklaterne der Brücke fest: also die Seine war überstanden. Ich blickte mich um: und das Getümmel? Vielleicht lauerten maskierte Absichtler in den Nebenstraßen auf mich; ich mußte ja doch noch durch einige kommen. Doch schon dort, knapp vor der Brücke, wo am Tage immer Wachen standen, erwarteten mich zwei verkappte, ich wußte zuerst nicht was: Gerippe warens. Auf wen hatten sies abgesehn? Auf mich! Die eine Vermummung blickte grau verkauert hinunter in den Fluß, die andre, ein Riese, hob die Kapuze auf. Das schreckliche Skelett sah mich an, mit einem Rubin; die zweite Augenhöhle war leer. Ich fühlte eigentlich eine Warnung, keinen Schreck: ich sollte mich nicht weiter nach Hause schleppen! Es gelang auch nicht, über den Kai zu kommen; so raffte ich mich an den Ufermauern, während ich immer in mich zusammenzuschlappen glaubte, weiter. Bis zum Pont des Arts war niemand um mich. Dort zogen soeben Studenten mit blutroten Lampions, die Schritte rhythmisch angebend, über den eisernen Steg. Ungeheuerlich kamen sie vom Louvre angewimmelt. Ich wollte einen Zusammenstoß mit den jungen Tumultuanten vermeiden und duckte mich, zusammen mit meinem Schatten, hart an den Rand des Wassers. Ich war sofort derart in mich hineingeschrumpft, in die eigne Schattenhaftigkeit zusammengefaltet, daß mich die Bengel für etwas Unsichtbares halten mußten; sie bewarfen mich auch nicht, weder mit Flüchen, noch mit Fetzen: übrigens sinds lauter Tote gewesen. Nun saß ich aber derart in mich verkauert da, daß ich fürchten mußte, wie eine Schwimmkugel von der Flut umhascht und davongespült zu werden. Ich sah mich beinah schon als Ball in den leicht-blauen Schattierungen des Mondes auf der silbrigen Seine dahintollen. Hätt ich mich aber ganz als so ein Etwas erblickt, so wäre ich auch schon rettungslos, unter den Brücken durch, gegen Saint Cloud hinuntergetanzt. Ich merkte aber noch rechtzeitig die Gefahr und riß mich raschentschlossen aus aller Drangsal: so glückte mirs, mit flinkem Griff einen Metallstab über mir zu erlangen, wobei allerdings mein Leib durch die höchste Gewaltmaßnahme entzweibarst. Das mußte aber sein: ich war durch den Ruck aus einer Verkugelung wieder zu meiner gewohnten Verkörperung eines Selbst geworden. Die Beine sind bei dieser Wiederineinanderkegelung der eignen Aufrichtigkeit allerdings ins Wasser geplatscht; ich mußte aber immerhin sehr zufrieden sein, daß es so abgegangen war, daß meine Glieder im Augenblick des Auseinanderreckens nicht ganz in zwei gerissen wurden, denn meine Anstrengung, mich vor totaler Verkapselung zu retten, ist ungeheuer gewesen. Nun schlammte das Seinewasser etwas Körperlichkühles an meinen Unterleib an. Was wars? Ich konnt es nicht fassen: mir kams vor wie verfleischlichte Flut, vielleicht ein Aas? Endlich fiel mirs ein: eine Kindsleiche! Hatte mir doch gestern ein Arzt lachend von der abgetriebnen Frucht seiner Geliebten erzählt. Angeekelt, entsetzt, machte ich große Anstrengungen, um mich aus dem Fluß zu recken. Es ging aber vorläufig nicht, und ich war froh, daß ich in der Baumellage blieb, ohne ersaufen zu müssen. Der Kopf, das wußte ich, war zu leicht und überdies atmete meine Brust gut auf und ab, so konnte eigentlich nichts geschehn.
Auf einmal schlug die Uhr von Saint Germain de l'Auxerrois. Zuerst ein dumpfer Schlag: eine Ratte klatschte, wie eine tiergewordne Leiblichkeit des Klanges, ins Wasser. Ein zweiter, gleich schwerer Schlag, platsch, eine Ratte folgt der andern. Noch ein Schlag: wieder eine Plantschratte. Ein vierter: dasselbe. Dann folgten zwölf feine silberne Glockengrüße: Mitternacht! Nach jedem Uhrzeichen war eine Maus in die Seine hinuntergepiepst. Ich hatte das Ganze genau mit angesehn: während die Ratten bald verschwunden waren, schwamm nun das Dutzend Wimmerchen putzig auf mich zu. Wie silberne Pfropfen hüpften sie durchs Wasser; es mußten aber Tierchen sein, denn sie hatten deutlich Richtung eingeschlagen. Ich war glücklich, daß wenigstens keine Ratten dabei waren; wie genau erkennbar wurden aber allmählich die Mäuslein: schwupps, war die erste, schwupps, die zweite, schwupps, die dritte Maus, schließlich das ganze Dutzend Mäuse neben mir am Ufer; jede einzelne schüttelte Nässe und Kälte ab. Dabei fingen alle zwölf an zu klingeln. Ich sah noch schärfer hin: es waren wirklich Mäuslein, hatten aber lila Röckchen an. Aus Silber konnten sie nicht sein, denn sie waren ziemlich durchsichtig. Was sie wohl Eitles um mich herum trieben? Sie irrlichterten ein wenig im Kreise hin und her, auf und ab, dann verlöschten sie oder waren plötzlich weg.
Ich hatte aber unterdessen so viel Gewalt über mich bekommen, daß ich meine Schwere fühlte und bemaß, um wieder hinauf zu können; und zwar nicht bloß aus dem Wasser, sondern mit starkem Entschluß bis zum Brückengeländer. Es ging sofort. Kaum war ich oben, so fiel mir jetzt das Gehn so leicht, daß ich geradezu dahinfegte. Alle Straßen waren ausgestorben; wo ich ankam, wars finster; vor und hinter mir glänzten unerreichbare Laternenreihen. Wie mocht es wohl zugehn, daß bei meinem Nahen die Lichter immer ausgingen und sofort wieder aufsprühten, wenn ich von ihnen weggeglitten war. Auf einmal faßte ich eine verzweifelte Entscheidung: ich mußte mich zusammenballen, um aufzuschweben. Es ging, nur wurde ich elastisch emporgeworfen, ich flog nicht. Nun aber rasch nach Hause! Ich witterte über die Dächer hin. Plötzlich schoß ich auf meine Wohnung los. Komisch, ich trat wie immer durch die Tür ins Zimmer. Ich weiß sogar, daß ich mit dem Schlüssel ganz folgerichtig aufsperrte. Dabei fiel mir ein, daß die Stube gerade frisch geweißt wurde. Als ich geöffnet hatte, betrat ich einen Totenkopf; die beiden Fenster an zwei Seiten waren rund geworden: die Augen! Im Augenblick meines Eintretens rafften sich von Bett und Sofa die Decken zusammen, hüllten sich in schattenhaftes Grau, stürzten sich selbstmörderisch kopfüber auf die Straße: unten schlugen sie zusammen auf. Zwei Tote auf einen Schlag: die Uhr auf dem Turm von Saint Germain des Prés schlug viertel eins. Ich erwachte; während ich noch durchs Schlafzimmer ging, ich war schon halb ausgekleidet, wie konnte alles das geschehn sein? Um wieder ganz klar zu Bewußtsein zu kommen, trat ich ans Fenster. Es stand offen, auch das andre; ich blickte in der Richtung der Seine, von wo ich jedenfalls gekommen sein mußte. Über Paris stand die neue Kirche Sacré Coeur wie eine Vision in Elfenbein gedacht und gemeißelt. Eine weiße Rakete stieg ungeheuerlich über die Anhöhe empor, doch sie zerzitterte nicht, sie wurde sogar unweigerlich kenntlicher, sie knitterte gewissermaßen gelenkig auseinander und stellte sich auf, denn sie war ein Gerippe geworden; der riesigste Knochenmann mit dem Monde, dem wirklichen Monde als Kopf, überreckte die Stadt. Ich sah noch, ganz wach geworden, hin: der Mond war im Abnehmen und zeigte mir die Fratze eines Engländers, eines berüchtigten Lords. Dann auf einmal war er bloß ein Monokel, man denke, der ganze Mond!
*
Ich trat einmal ans Fenster, verschlafen und beinahe schon eingeträumt. Ein Mond im Niedergang zerspiegelte in Scheiben und Spiegeln wie ein gelber Kranz von Larven. So silberig und entsetzlich hatte ich ihn noch nie gesehn; dann nahm mein Geträume einen ganz eignen Lauf. Gepuderte Jungens balgten sich auf dem Boden; einige clownhafte Gefährten mit rasiertem Milchgesicht gaben Weisungen zum Prügeln und Purzelbaumschlagen. Sie waren die eigentlichen Hanswürste; die armen Knaben schnappten immer wieder nach Atem und schienen etwas ganz anderes zu beabsichtigen. Schneeweiße Pferde, jedes mit einer Silbersichel auf dem Kopf und mit höchst gepflegten, eigenartig langgesträhnten Schweifen, liefen in bestimmten geometrischen Anreihungen, immer im Kreise durch die Schar der Bartlosen und Balger. Offenbar war ich im Zirkus: ich erwartete aber eine Deutung dieses Begebnisses, zumal ich hinterm weißen Vorhang mit Silbertressen Gebrüll von Wüstentieren vernahm. Es kam aber keine Bestie aus, hingegen teilte sich ganz unerwartet der Vorhang, und eine Muschel ging vor meinen Traumaugen flimmernd, doch genau unterscheidbar, auf und auseinander, so daß bald eine Dame in Weiß in ihrem Innern sichtbar wurde. Unter der Muschel und ihrer großartigen Insassin fing ein Kunstwasserfall an zu plätschern. Übrigens war die Gestalt wunderschön und machte mit den Armen eine Bewegung, als wollte sie einen Korb hochhalten, sie hatte aber nichts in Händen. Bald senkten sich die Arme wieder und blieben dann sehr ruhig in einer unauffälligen Lage; im gleichen Augenblick begannen aber noch andre Wasserfälle zu silbern und zu perlen, und die ganze Balgergesellschaft kam dadurch ins Nasse. Das Wasser stieg sogar sehr rasch, und da krampften sich alle Wichte an die Schweife der schneeweißen Pferde und baumelten im Kreise herum. So verhielt sichs eine gute Weile vor meinem Staunen. Die Dame in Weiß regte sich überhaupt nicht mehr, schließlich fings aber an um sie herum wie zu schneien, aber auch nur so lange, bis sich ihr ein Zitterschleier aus leichten Sternchen über Haar, Brust und Schleppkleid gelegt hatte. Die Flut im Zirkus war unterdessen sehr gestiegen; die kleinen Kerle und die großen Clowns konnten sich bloß im Schwung der nunmehr dahinrasenden Schimmel an deren Schweifen in der Schwebe über Wasser halten. Endlich wurde aber den Pferden das Geschleppe zu viel, sie fauchten alle auf einmal Gewölk aus den Nüstern, rissen sich von den eignen Schweifen los und stürzten sich mit dem Geschäume des Katarakts selbst davon. Die Schweife blieben alle in der Luft schweben, und an jedem baumelte ein weißbestrichnes Menschenskind. Nun sank das Wasser, versank beinah mit Hengst und Stute; ein Löwe brüllte aus tiefster Wüstenwelt; der abnehmende Mond wurde in einem Duftgedicht von Flieder und Hyazinthen sichtbar. Das Meer war einfach da, glanzhaft und glatt wie eine offne Perlmuschel, das Mondbild spiegelte sich darin, und die marmorhafte Traumgöttin zog über leise atmende Alabasterwolken. In höchster Schönheit flogen Kometen mit, das waren die schwebenden Schimmelschweife, der Blick des hold-hoheitsvollen Weibes hatte sie entzaubert. An jedem Kometen lehnte, leicht dahin segelnd, der Genius eines vergangenen Volkes und träumte sich durch seine Ewigkeit. Wie still und sanft war die wundergute Frau und Mutter; alles schien beruhigt, nur in einem Himmelsstrich, nahe dem für Menschenblicke verwirklichten Mond, daher ziemlich gut sichtbar, kämpfte noch ein herrliches Weltgeschlecht mit seinem Kometen. In mir ward die Erkenntnis wach: Frankreich. Da hörte ich ein Wüstentier fürchterlich vom Himmel brüllen, und das große Geschaute entnebelte mir, schwand. Ich weiß nicht, wollte das strahlende Volk den Kometen zu sich herabziehn oder sollte es mit ihm davonklimmen.
*
In unsrer alten Nacht war einmal ein unsagbarer Komet erschienen. Wir standen am östlichen Meer und erhoben die Hände, wir machten Zeichen, baten, flehten, der Komet möge uns näher kommen. Er blieb aber still in seinen erdentrückten Kreisungen am südlichen Sternhimmel. Sein Licht war sanft und bläulich, beinahe purpurn im Dunkel der Nacht, und bei den kleinern Sternen lieblich grün in den Strahlen des Mondes; die Großgestirne funkelten diamanthaft durch seine schleierhafte Anwesenheit. Um uns war windstille Schwüle, hoch oben mußte sich jedoch ein Wutsturm von der bergigen Erde losgerissen haben, denn nun jagten unvorhergesehne Nebelerscheinungen, wahrscheinlich geschlagene Heere, über unsern Köpfen furchtbar dahin. Zerschmetterte Helden stürzten ins Meer unsers Entsetzens ab: auf einmal machten sich ganze Bergländer mit Städten und Seen auf und davon. Über uns, hoch oben, immer höher tobte die große Flucht. Da fiels uns plötzlich ein, wir müßten dem Wolkenbeispiel folgen. Ganze Völker brachen auf: wir, mein eignes Volk war dabei, zogen dem Kometen, hochlobend, seiner leibhaftigen Begeistertheit entgegen. Wir wanderten lange und unaufhörlich, wir trugen abwechselnd unsre Weiber oder Kinder und kamen einmal nachts vor die Alpen. Wir beschlossen, sie sogleich zu übersteigen, und übergipfelten emporwolkende Wandergebirge. Endlich waren wir am Meer. Und das blieb still bei unsrer Ankunft: es hatte uns erwartet. Hoch oben glühte der Komet und spiegelte sich in den Tiefen der See und in unsrer Seele. Unter uns kams wie eine beruhigende Glückseligkeit. Als aber immer mehr Wandervölker herbeikamen und am Meer ihre Zelte aufschlugen, da sah der Komet unser aller Spiegelbild neben dem seinen in der Nachtsee, und der Wanderstern verließ die Gestirne der Ewigkeit und kam auf uns zu. Erdbeben meldete sein Nahen. Einsame Berge schleuderten ihm Kometen aus ihren Feuerinnern entgegen. Die wandernden oder wallfahrtenden Wolken entluden ihre Vergangenheiten ins jüngste Sturmfluten und blieben stehn. Weiber kamen wissender Kinder nieder. Unsichtbare Völker standen plötzlich da und harrten auf die Ankunft des Kometen. Blutigrot war dann auf einmal die Einsicht über uns gekommen: wir stehn im Kometen. Alle Völker griffen nach ihren Herzen; jeder wollte ihn für sich haben. Ekstatiker verkündigten, er war in uns, bei uns, über uns; niemand sah ihn, niemand wußte, wo er umging. Ich glaubte, daß ihn mein Nachbar besaß, argwöhnisch wurde aber auch ich angeschaut: wir mußten über uns herfallen. Zu unserm Glück geschahs von Volk gegen Volk.
Wir, die wir allein den Kometen erobert hatten, dachten, daß ihn uns die andern Wanderscharen rauben wollten, denn alle Völker, die in Frieden mit uns herabgestiegen waren, blickten uns voll Groll an, weil sie meinten, daß sie den Kometen zur Landung gezwungen hatten, und fürchteten, wir könnten ihnen Neider werden. Das war ihre Torheit: denn in uns war die Begeisterung emporgekommen, den Kometen fürs eigne Land zu erhalten, und unsre Krieger ließen sich bereits mit Weib und Kind nieder, um besser allen wandernden Nachbarschaften trotzen zu können. Aber auch andre Völker taten das gleiche und bebauten ihren Boden noch näher beim Wasser.
Wir führten Krieg um Recht und Ruhe. Wir mußten siegen. So geschahs. Kaum standen wir dann wirklich still, mit der Absicht, unsern Kometen festzubinden, für immer ans eigne Erbland anzuschließen, als sich ein Sturm von unsrer Seele losriß und Gespenster sich um unsre Heimstätten herumtummelten, die Fieberkranken plagten und den schwangern Frauen Angst machten. Uns dürstete, da flohen uns die Brunnen. Wir verhungerten, doch der Sommer ging nicht außer Land, bis die Felder und Weinberge verdorrt und ausgetrocknet waren. Da wollten wir nochmals aufbrechen: das Meer war verschwunden. Der Sturm der Seele suchte eine Auskunft und stürzte sich auf die Wüste. Sie brannte ja schon in uns, dort wo die große See gewesen; wir waren ein verlornes Volk.
Da warfen wir uns selbstverschwenderisch in uns selber, in den Selbstmord. Wir töteten Götter, schwelgten mit den Weibern, überfielen den Nachbarn, raubten ihm die Kinder, brandschatzten Stätten. Die Nachbarn stürmten unsre Burgen, sie wollten uns würgen, doch wir rissen sie mit. Damals tat sich die Hölle unter den Menschen auf. Sie kluftete aus den Senkungen, wo die See gewesen ist. Wir, mein Volk, hatten sie geöffnet, wir überstürzten uns mutwillig: wir wurden der Umsturz. Hatten wir den Kometen vom Himmel heruntergeholt, so konnten wir ihn auch in den Schluchten des Ichs verscharren: das Land war verödet, das Meer ausgetrocknet, alle Triebe in Menschen, Tieren und Pflanzen gluteten hinunter. Wir stürzten ein. Der eigne Nabel riß alle Völker, die Anspruch auf den Kometen gehabt hatten, unwiderruflich zu sich. Unsre Erfindung war also die Hölle: eigenwillig sind Menschen dazugelangt, sie sich zu schaffen. Wir kämpften sogar um den eignen Untergang.
Wir stürzten ein: alle Völker, die sich des Kometen bemächtigt hatten, mußten umkommen. Die Leiber überhitzter Weiber überschlugen sich noch schneller als wir selber. Da raubten wir sie uns mit angemaßten Schwingen im Fluge zurück und kollerten, rollten bei holdestem Bewußtsein den andern Völkern voraus in die Schlünde des Entsetzens. Wo immer wir anschwebten, öffnete sich ein Abgrund. Ich glaube auch jetzt noch, daß wir fielen oder uns fortwährend senkten; vielleicht blieben wir aber, vom Schwindel gepackt, in der Schwebe oder tauchten sogar wie Ertrunkene plötzlich auf. Die Feinde und mein Volk waren durcheinander nur noch ein einziger Zusammenbruch. Hätten wir uns damals nicht zur Hölle fahren lassen, die Hölle wäre nie geworden. Ich lache noch heute, wenn ich dran denke, daß mirs gelang, einen Kometen im eignen Bauch bestattet und in die menschliche Tierheit hineingekreist zu haben. Tiefer als wir damals verschwanden, gibts keinen Fall: denn unter uns süchtete nicht einmal das Nichts, wir waren bis ins Selbst hinein vertilgt. Das Wunderbare eines Untenseins war entworden, doch unheimlich: ich wußts am Ich. Da befaßten wir uns mit Selbstheit. Unser Wunsch war der Komet, nicht die Gier ums Wir. Endlich entwirrte sich das Wir: ich kam abermals zum Ich. Das Wissen vom Dabei und Daneben war zersponnen, da aber blutete das Nicht-Ich empor: die Hölle. Früher war sie das Nichts in Finsternis, nun rollte sie entflammt auf und ab. Feuerzipfel zuckten ans Ich heran, als wollten sie untersuchen, obs vorhanden sei. Glut umstarrte das Ich, bis das Selbst niedergebrannt war, aber der Komet war mir im Wirwittern entwichen: er wallte dahin, entwurde. Ich war allein. Da erschien der abnehmende Mond, schon sichtlich zugesichelt. An ihm hatte ich einen Verbündeten. Ungeborene Völker stiegen im verklärten Wir, ohne mich zu schauen, kometbringend aus dem Tartarus empor. Andre Völker mußten ganz untergehn: der große Umsturz war gekommen.