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Das Segel

Mein Christ, du mußt dich selbst durch Gott vom Schlaf erwecken,
Ermunterst du dich nicht, du bleibst im Traume stecken.

Angelus Silesius: Der Cherubinische Wandersmann

Die Übereinkunft

Ich hoffe noch immer auf den Norden. Von langen Dünenstegen, über weichen Sand und schimmernde Wellen hinweg sehne ich mich nach schwimmenden Gletschern. Die mildere Ostsee ist mir beschieden. Große Wolken wie selbstbewußte Perlmuttergeschöpfe verkünden mir, den langsamen Nachmittag entlang, den jüngsten Mond. Die Sonne ist die große Liebe und das höchste Opfer. Die Sonne schwärmt, sonst wäre sie kalt und ewig. Sie will sich aufgeben. Aus grenzenloser Liebe wird sie verscheiden. Sie ist an jedem Tag ihre eigne Vorläuferin, denn für uns stirbt sie allabendlich, obschon ihre Wärme noch lange in uns erhalten bleibt.

So kann ich mit dem Abend anfangen. Mit silberner Sichel ernte ich mein letztes Erlebnis. Da steht sie schon am veilchenblauen Himmel. Die sichtbare Sichel. Alle Offenbarung ist unheimliche Schönheit. Und das ist der schönste Augenblick im Monat.

Und dazu das Meer. Der Wind hat seine wundertätigen Arme fallen lassen. Der Atem schaut in Andacht versunken. Alle Segel nahender Fischerbarken sind wie getroffne Reiher tot zusammengeschlafft. Und uns erfaßt unendliches Erwarten. Doch es kommt die Enttäuschung. Der kindliche Mond bleibt skeptisch.

Das lächelnde Mißtrauen wird sogar bei merklos nachsternender Nacht silbriger. Das aber regt wieder die laue Luft auf. Ein schlauer Windgriff zerrt heftig am Gebüsch. Auch die See merkt etwas davon. Sie ist ja doch vor allen laut begabt. Sie sollte sprechen. Zum Monde. Warum kann der nicht glauben? Hat bloß die Erde das Wort vernommen? Die Ostsee regt sich auf: sie hat den Sturm in alter Hut. Was ist ein Sturm? Der Wunsch, dem Mond des Menschen Wort zu sagen.

In meiner Seele sicheln die Gedanken still dahin. Sie schneiden immerwährend ahnungslose Schöpfungstriebe, unvermutete Glaubensregungen ab. Seht, das ist sieghaft und schmerzlich. Durch dieses unausstehliche Sterben bin ich bewußt. Ich sichle mich im Hirne leibhaftig zusammen. Der heimliche Unglaube ist mein Leib. Wäre ich überzeugt, so wäre ich nicht. In mir offenbart sich die Sonne, über mir entscheiden sich die Sterne, doch daß ich flüchtig und zugleich fühlbar wurde, ist der Mond. Und wir sollen sterben.

*

Nicht die Umstände, sondern die Verheißung: ich kann mit dem nordischen Meer beginnen. Ich liebe seine rundgeschliffnen, moosbedeckten Granitblöcke, auf denen sich hurtige Seehunde sonnen oder um Neumond tote Matrosen hocken. Denn nunmehr erspäh ich das eigene Ich aus der Vogelschau. Sprungweise mußt ich mich verwirklichen; das Leben ist wie das Buch eines Wahrsagers: alles steht drin, aber so durcheinander gewürfelt, daß wir uns nicht mehr zurechtfinden können. Es bedarf sogar eines Kunstgriffs, damit man sich nachträglich auskenne. Sichtung wäre dabei unzulänglich; dafür haben wir die Eingebung.

Dichtung beginnt auf einem Höhepunkt. Und nun habe ich meine Ostsee und ihren Leuchtturm. Jede geschichtliche Umständlichkeit bleibt abgetan: lebendige Bereitschaft in jeder Lage läßt auf Vollkommenheit schließen. Wer das Leben versteht, kürzt ab, überspringt die Zeit, damit sie verschwinde. Auf einmal liegt, was ich verwirklichen mußte, geformt vor mir. Viel kann ich aus der Vogelschau erkennen: meine Blutwege wurden sichtbar wie die türkischen Schriftzüge blauer Strömungen im grünglitzernden Meere. Geistreiche Einfälle überraschen mich, erfrischende Windsherzen, lustige Luftermunterungen silbern über die Ostsee rhythmisch ineinanderglitzernd dahin. Hat das nächtliche Meer seine Eigenscheinbarkeit? Oh ich weiß, der jüngste Mond ist bloß zu unsrer Beruhigung da. Wir wollen doch vernünftig bleiben, und es ist uns eine holde Erleichterung, glauben zu können, daß er alle die Lichter und Flammen ansteckt.

Eigentlich ist das Lächeln des Mondes anspruchslos. Vieles wird ihm zugeschrieben, was es gar nicht vollbringt. Er läßt sichs aber gefallen. Er ist einfach da, und wir sollen allerhand von ihm halten.

Mir verkündet der jüngste Mond bei Sonnenuntergang die höchste Schönheit. Mit der spitz zugeschliffnen Silbersichel ernte ich seltne Stunden: dabei habe ich mein In-die-Welt-Blicken begriffen. Einzige Augenblicke werden leibhaftig. In strahlender Eigenart, in deutlichen Abständen sternen sie auf. Mein Dasein hat soeben begonnen.

*

Es gibt auch eine Mondregion der Seele. Sogar eine der ersten Sichelsichtbarkeiten. Treuherzigsein ist nötig. Man braucht sich gar nicht zu versteigen: gutgläubig bleiben, mit Liebe schauen, das genügt. Zuerst wirds nicht ganz gelingen: wer dazukommen wird, hats immer nochmals versucht. Endlich gelangt man in die paradiesische See. Da wogen leuchtend Worte auf. Oder funkeln bloß ihre Schäume? Alles wirbelt empor, umhalst sich: ein bewegtes Abendmeer. Den träumenden Worten mußt du inbrünstig, leichtfüßig auf Versen nahn. Sie gleichen schmalen Dünenstegen. Am Ende wirst du stehn bleiben. Ein Schwestersteg hält auf gleicher Höhe inne. Hinter dir schließt der Hafen ein ruhiges Bild ab. Wie selbstverständlich sich die beiden Stege reimen. Deine Träume segeln aber weiter hinaus; schöne Vögel träumen dir von draußen zu. Du siehst nach dem Sichelmond. Da steht er. Alles nimmt vernünftig seinen Lauf.

Nun schwebst und schwimmst du draußen in einem Meer von Treuherzigkeit. Glutverwandt umschlingen sich blutjung die Worte. Die volle alte Sprache jagt daher. Du kannst dich aber fassen, und der Sturm tut dir nichts zu leid. Bring eine ganze Flotte von Träumen mit. Um alle Kiele schmiegen sich prachtvolle Reime wie schimmernder Gischt. Hinaus! Hinaus! Immer verwegener. Wenn nur der skeptische Sichelmond sichtbar bleibt, denn sonst ists um deine Segelschiffe getan. Wie Gespenster würden sie herumirren, tummelsüchtig, unwiederbringlich, ihren selbstleuchtenden Willkürlichkeiten überlassen. Ein wenig erkundbares Licht muß dabei sein: die wiedergekommene Mondsichel genügt.

*

Die Mondsichel entscheidet sich für den Vogelflug. Ohne ihr zartes Sich-den-Wellen-Hingeben, ohne ihr leichtes Sich-der-Schaumsee-Entschmiegen hätte es nie ein Aufschweben geben können. Die Sonne vollbringt den Sturm, der Viertelmond gibt Stille, regt aber auch den Segeleinfall an. Wie sich Gischt und Woge kräuselt, so legt sich die Lichtsichel um ihr finsteres Mond-Ich. Aller Gischt meint Möve. Zuerst waren alle Vögel weiß wie Schaum, denn Fliegen ist leichtes Dahinsilbern. Das können wir bloß im Schlaf verstehn. Nicht im Traum, im silbrigen Einschlummern, das der Flut bei Meerleuchten gleicht. Meerleuchten der Seele: also kein weißer Traum, sondern ein seliges Aus-sich-selbst-Emporflimmern. Ohne Vernunft und irdische Wirklichkeit? Die Sichel ist dann bereits untergetaucht. Der Flug in seiner ursprünglichen Vollkommenheit ist stumm. Das Singen haben die Vögel von Blatt und Quelle im Wald gelernt. Gesang ist aber nicht die Weisung des Vogels. Er ist ursprünglich wie die Vernunft: verwirklichte Selbstverständlichkeit. Sein Vorbild ist über uns gezückt: der erwartete jüngste Mond.

*

Der Berg und die Stadt

Alabastergestalten, bloße Gebirge der Sorglosigkeit segeln über die Ostsee. In dieser Wolkengemeinschaft ist nichts menschliches: eigentlich enthält sie die Seele des Schwanes. Sucht die Wolke ihr Gebirge? Es gibt aber auch Träume, die perlmutterhaft leuchtend über unsre Schlummerseligkeit dahingleiten: sie sind jedoch nicht wir, sie beschweben uns von außen her. Es gibt aber auch einen Traumberg in uns, meistens bleibt er von Brunststurm, einem Leidenschaftsuchen, von Zorngewittern umrauscht, doch auf einmal, überraschend, offenbart sich seine ewig strahlende Unerschütterlichkeit. Sein Gleichnis findet sich auf Erden.

Plötzlich tauchte es vor mir aus der Ostsee auf. Perlmutterhafte Schleierzüge entzückten sich an der Morgenstille; in weichem Bogen brachte hier und da ein weißer Vogel seine alte Stummheit in die mädchenhaft emporwallenden Nebelhallen. Alles erwachte zu heidnischer Andacht: dann wurde das zarte Gewölk langsam viel durchsichtiger, leichter, schweigsam schwebender, und ein verheißungsvolles Erleuchtetsein perlte überirdisch auf. Buchen, in ihrer wolkenhaften Gesamtheit, ließen ihr Frühlingsgrün durch- und mitschimmern, handhafte Tauquasten fielen über smaragdübersternte Florgebilde, ein Berg aus Mondflocken schaute mich an: das war mein Traumfelsen.

Das entschleierte Gebirge in der Seele kann uns steil überragen; dort sehn wir es in irdischer Gestalt, wir Wachwandelnden. Blendende Kreidefelsen stürzen sich also über die Ostsee, samtweiche Buchengemeinsamkeiten söhnen uns mit der blendenden Unerbittlichkeit der Kreidenase, als überschleierte Umrahmung, aus.

*

Ich soll das Leben meines Traumes schreiben. Unweigerlich steht er in uns. In einer Welt, in ders Kometen gibt, müssen auch Schwäne zu mir kommen: im Traumberg können sie nisten. Sagenhaft sind sie nicht, denn sie haben keinen Gesang. Sie verweilen in uns, aus Stummheit erheben sie sich, überschweben mich als weiße Gefühle.

Es gibt eine Windrose der Seele. Der perlmutternde Traumberg steht gegen Norden. Von dort kommen auch die schwanhaften Gesichte, die ganz weißen nisten in den Gefrierfernen des Geistes: sie gehn aber die schimmerhaft schlummernde Seele kaum an!

*

Die Gipfel wechseln schnell; doch es bleibt immer der gleiche, unerschütterliche Traum. Ich kann ihn bloß von einer Seite sehn, aber er übergipfelt mich unaufhörlich, denn das ist seine Lebendigkeit. Ein Traumberg ganz aus Mondflocken! Perlmutterhaft anschwellende, erleuchtete Felsseele, warum bist du bloß sichtbar bei bewußtseinspendendem Viertelmond? Vielleicht sehn wir uns ewig und wahrhaftig, nur können wir uns dessen nicht besinnen: wir schauen, aber wissen uns nicht. Der Sichelmond schweift von draußen in uns herüber, an ihn, der uns fremd ist, erinnern wir uns, er gibt uns das Bewußtsein, und es ist ein unverwandtes, ein sterbliches: also ans Sterben müssen wir uns halten.

*

Ich bin in mir so felsensicher, daß ich aus Selbstverständlichkeit zur Welt kommen durfte. Nun kann sich vieles von mir losträumen, in Bewußtheiten entkreisen, als Unermeßlichkeiten davonschwingen, von Gesetzlichkeiten zerfallender Welten wissen: Ich bin. In der Vollkommenheit faltet sich alles geteilte Sein wieder ineinander. In unerhörter Schönheit gesundet die Seele: wir kehren zu unsrer Ursprünglichkeit zurück. Die Vögel sind aber meine Freude, ich habe sie alle im Schweben unterwiesen. Denn der Flug ist der Mensch; und er drückt seinen Stolz darüber durch seinen Gesang über die Erde aus. Er verschmäht das Dahinfliegen, du kannst sagen: das überläßt er seinen Freudigkeiten. Der Flug des Ganzen hat den Menschen in seiner Mitte festgesetzt, daher umfaßt das Ich die Unendlichkeit: sein Vergnügen hat es aber an den Schwalben und Lerchen, am Adler kann es sich erbauen. Denn der Adler ist des Menschen Kunst. Ohne des Menschen Erbauung gibt es keinen Adler, nur für den Menschen kann der Adler fliegen. Der Mensch aber ist der Flug.

*

Vineta ist einmal unter uns umhergeschwommen, sonst könnte es nicht die schwebende Stadt sein. Vineta fliegt im Traum, folglich ist es endlos, unverletzlich. Ich liebe die Ostsee, die unsre Sagenstadt gewiegt, getragen, wieder eingelullt hat. Die Birken erinnern mich ans Wiegen, die Tannen haben getragen, die Weiden besinnen sich des Einschlafens. Dort lag Vineta. Seitdem Vineta da war, gibt es zahme Schwäne. Als die Schwebestadt aus dem Meere in die Wolken auffliegen wollte, ließ sie die sanft gewordenen Schwäne zur Erinnerung an sie zurück. Einst zog auch Vineta auf Raub aus, als es aber in der Ostsee eine Heimat gefunden hatte, wurde seine Seele still begabt und schwanenhaft schwermütig. Weil es uns damals traumhaft schien, ist es jetzt wirklich. Im Vinetasee der Seele schwebt es uns, sowie wir uns dort wiederfinden, entgegen. Unverhüllt blickt oft der Viertelmond skeptisch über die erleuchteten Vinetagewässer, denn sonst wüßten wir nichts davon.

*

Ausblick

Ich halte noch am Süden fest. Er war meine Gesundheit. Von breiten Molen im Mittelmeer ist mir der Ausblick zur Sonne gestattet. Schwarzgekleidete Frauen, glutäugig oder verschleiert, begleiten mich gen Tagesuntergang, damit sich Schönheit auftue. Am Abend haben wir das große Atemholen gelernt, am Abend hat uns die Schönheit zuerst angeblickt; ich stehe noch mit offenen Armen auf dem Molo, denn damals war ich dabei.

Der Tagesabbruch scheint vielverheißend, beinahe geberdenreich, der Süden aber ist einfältig: sein Meer eine einzige Treuherzigkeit! Daß überhaupt Menschen Segel aufgerichtet haben, sie gehören doch zu See und Wind!

Was sind Leiber, Menschenleiber? Doch sichtlich greifbar gewordene Beschlüsse, Augen gegen den Himmel zu richten. Wir aber blicken hinaus aufs Meer: das ist unser Eigenwille. Am Abend umarmen sich jedoch Himmel und Meer, die Sonne kommt mild und rosig, beinahe freudig und unscheinbar, zu uns herab, sie wird die Sterne nachziehn; und das ist Schönheit, die erlöst.

*

Es gibt nur selten Kometen, wir tun aber so, als gäb es viele, viele, denn die Welt ist kometenhaft. Fischerboote schleifen schwere Netze in den Hafen, große Segler werden von unzähligen Barken begleitet, Menschen bilden Schwärme um unsichtbare Führer; die Domglocke erdröhnt, und unglaubliche Herden kleiner Glöckchen tönen nach. Die Tauben fliegen als Gesamtheiten auf, die ersten Sterne bringen alle andern mit: es gibt Kometen in der Zeit.

*

Die Segel meiner Sehnsucht fangen an zu beben. Sowie die Sichel sichtbar wird, kann ich mich nach Venedig hinüberträumen. Vorher wäre das Wagestück zu gefährlich. Der Abend ist noch rhythmisch hörbar im Gange, und über meines Leibes Nacktheit hat sich ein Fiebermantel gebreitet. Ich gehöre zum Molo, seit undenklichen Zeiten stand ich da, nun habe ichs erforscht. Noch ist die Sonne zugegen, doch ich fühle schon die Sterne; ein ganzes Sternbild bebt nun dies eine Wissen: ich bin hier.

Goldene Kometenzüge, voll perlmutterblauer Augenblicksmuscheln kommen über See geflimmert. Schnellverzweigte Windgebilde voll von holden Sonnenherzen übersprühen des Meeres abendliches Großgewoge. Hier um meinen Standpunkt auf dem Damme möchte die aufgeregteste Stunde voll von Tierhaftigkeit und ganz hierweltliche Schönheit werden. Ich spüre keine Brandung: aber meine Segel schlagen wie Aufforderungen an. Möven schweifen geisterhaft durch die gedrängte Flotte, auch sie schlagen oft an die offenen Segel, und Delphine nahen sich dem Hafen, alles, was zu mir gehört, erbebe ich mit großer Spannung.

Abendmeer, gutes ernstes. Mutterhaft gutes. Alle Steine bedeckst du mit Moos, die Dünen behängt dein Geplätscher mit schwerduftendem Tang. Auf jeder Klippe sonnt sich ein weißer Vogel in Purpur und Wärme. Ein freundlicher Wind treibt Segelboote mit langen Silbernetzen, überzittert von opalisierenden Fischtressen, dem heimatlichen Hafen zu, und auf nahen Türmen werden Menschen Kometen anbrennen. Ich fühle bereits die wogsam sorgenden Herzen, die hilfreich spindelnden Hände, die dort drin das gute und wachsame Glanzwunder instand setzen. Wie ein aufgereckter weißer Finger steht ein Leuchtturm in meiner Anwesenheit am Meere. Dieser da bekommt einen riesigen Rubin in seinen goldenen Feuerring. Sowie der Abend ausgeblutet hat, laßt ihn uns schmücken. Dämmerung ist eine Verheißung, sonst bliebe der Wind aus. Niemals ist gesunde Lustigkeit erlaubter, sonst wären keine Delphine da.

*

Das Meer ist die gute Mutter, denn es macht keine Unterschiede mit den eignen Geschöpfen. Und alle gehören ihr, der einzigen Mutter. Sie liebt und hegt die Fische, die Kinder in ihrem Schoße, sie liebt und sorgt für die Seelen, die Fuß gefaßt haben. Vor allem für uns Menschen, und doch ebenso unerschöpflich für Bäume und Vögel. Wir alle saugen an der Mutter Brüsten, nur die Fische sind noch ungeboren. Wenns Abend wird, kann die Seele an der See gesättigt werden.

*

Ein ungeheuerer Sternschnuppenfall geht über Venedig nieder, als ob es zerstört werden sollte. Die Stadt ist aber ein Traum, wer will ihr da etwas anhaben! Der Silbermond steht sichtbar am Himmel: und so fühle ich mich ganz sicher. Venedig träumt in meinem Traum, oder mein Traum träumt sich in Venedig. Große Barken voll Waisen mit Mandolinen und Spinett schwimmen hinaus in die Lagune und empfangen dafür aus den angesammelten Gondeln kleine Spenden. Auch eine Barke mit Taubstummen ist draußen, um die Melodie Venedigs zu schauen. Drei Boote mit blinden Kindern kreuzen um die Insel der Irrsinnigen, um den Traum von Venedig mitzuträumen. Denn da Venedig ein Traum, so ists die einzige Stadt, die ein traumbegabter Blinder sehn kann. Nun strahlt mir ein Kometenkopf entgegen: die Serenade. Das hochbeleuchtete Musikschiff schwärmt mit lampiongeschmückten Gondeln in feurigen Zügen, wundervoll schmiegsam, durch die große Meteornacht. Ich aber schweife ab, es drängt mich in die unheimliche Einsamkeit zwischen verdunkelten Eilanden. Je ferner von den flimmernden Gondelwegen, desto mehr Venedig. Hier, auf offener Inselsee, wird jedoch der Sternschnuppenfall noch viel unweigerlicher. Ich suchte ihn nicht auf, aber seine Großartigkeit erlebe ich nun mit erstaunter Dankbarkeit. Auf einmal taucht die erleuchtete Barke auf. Wunderbare Feuerblüten stürzen vom Himmel. Das nahe Schiff wird eine durchsichtig umherschwirrende Meerblume. Sie zittert lilaweiß. Ihr Spiegelbild im Wasser ist noch flimmernder und beinahe mondhaft deutlich. Ich höre singen: meine Mutter. Die Stimme erkenne ich wohl, sie ist verklärt und doch so bestimmt die Seele meiner Mutter. Da steht sie; blind an den unsichtbaren Mast gelehnt, ich erkenns an ihrer Haltung. Sie sieht mich nicht, keine der ganz gebückten Frauengestalten in der Schiffsblume wird mich bemerken. Meine Mutter braucht mich nicht zu fühlen, sie singt unsre Nähe. Sie wollte immer Sängerin werden, das war ihr Traum, nun ist sies, ohne was davon zu wissen. Auf der Lagune von Venedig.

*

Einsicht

Ich hatte einmal meine Segelzeit. Damals war ich noch ein Knabe. Was ich erlebte, war das Eiland. Der erste Morgen vor Dalmatien, der erste Morgen bei Sizilien! Das Mittelmeer ein Eilandmeer: Griechenland. Ich schaute das Reich des Traumes, wo der Mond nie untergeht, und als seine Wirklichkeit erkannte ich den Ölbaum.

Hellas zeigt sich uns unter leicht über See gewellten Sonnenschleiern, die das Inselreich entirdischen. Allmorgendlich wird Kypris geboren; Griechenland ist die Ewigkeit der frühen Taustunde. Es ist nun wiederum homerisch geworden. Die Ilias ist seine vollendete Leibhaftigkeit. Die großen spätern Geschlechter sind verschleppt worden, die Ilias ist allein heimatlich geblieben. Die Odyssee hat heute italische Anmut und wunderreiche Abenteuerlichkeit. Achilles aber herrscht über sein vergeistigtes Vaterland. Kein Olymp, keine platonische Gemeinschaft, bloß Hellas' Held lebt in Eilandgewässern.

*

Das sah ich als Knabe eines Morgens vor Dalmatien, und dann fand ichs im Mittelmeer immer wieder. Unser Segelschiff umduftete herrliche Eilandluft, ich flog an den Ginsterküsten meiner Seelenheimat vorbei, das Land habe ich aber nie betreten, und ich kann es doch besitzen, oft träumen seine Inseln in meinen Traum herüber.

*

Eines Morgens stand vor mir, dem Kinde, der Ätna: wir segelten bis nahe an den Feuerberg heran und kreuzten dann gegen den Südwind auf Syrakus zu. Der Ätna ist für mich geblieben, was er im ersten Augenblick war: der Gipfel der Schönheit. Eine silberne Pyramide, die eine ganze Welt in ihre Vollkommenheit emportragen kann, und die ein silbernder Komet, vom Himmel aus, voll Inbrunst küßt und undenklich leicht in der Schwebe hält. Das ist der Ätna mit seiner Rauchwolke. Ähnlich ist überhaupt das Sinnbild jedes Nebelgebirges zu schauen, doch der Himmelberg Sizilien bleibt in seiner morgenhaften Einfachheit aller Berge ewiges Wahrzeichen.

*

Einmal begab sichs, viel später, daß ich in Syrakus das Land betrat. Schwermütig umfing mich das griechische Theater. Vom Ätna konnte ich dort bloß den Schneegipfel erspähn. Die Stadt sagte mir das eigne Trauerspiel; sie gab mir ein: Nur vom Theater wirst du es gewahren. Syrakus ist gestorben, doch weit verstreut in der Unterwelt seiner Steinbrüche verjüngt sich mit grünender Freudigkeit, überblüht sich seine abgeschiedne Seele noch immer mütterlich und zugleich brauthaft mild und keusch. Steigen von dort Chöre Toter empor? Wie sollt ichs wissen: das Land ist kahl geworden und hadert ohnmächtig mit Wind und Sonne. Schutzlos bliebs den ursprünglichsten Mächten ausgeliefert. Hier schaust du das Schicksal einer Landschaft. Die Quellen mußten verdursten, damit der Mensch frei werde, die heiligen Bäume mußten ersticken, damit der Mensch eigenmächtig werde. Als der tiefste Brunnen versagte, da wurde der Mann sprachbegabt. Als keine Früchte mehr die Staubwege der jüngsten Wüste überschütteten, da kam das Weib des Sohnes nieder. Der Wald schüttelte seine Geister ab, und Greise kamen in Scharen zur Stadt, um einen Helden zu schützen, und sie warnten unterwegs ihren eigenen König. Das Trauerspiel begann bei einfallender Dämmerung. Greisinnen begannen Unheil zu schauen, und sie klagten. Die ewigen Kinder, unsre lieben Sterne, lächelten einfältig und gläubig zu den Menschen hernieder.

Heute überdauern uns noch die Zypressen von Syrakus, in stummen Gemeinschaften leben sie noch in den altertümlichen Steinbrüchen; zu uns Menschen gelangen sie aber nicht mehr. Wer bestimmt unser Schicksal? Ich kann es nicht wissen: lenken wir uns selber? Es soll sich der Herr auf uns, nicht wir auf ihn verlassen.

Die Sichel wird zwischen lieblichen Abendschleiern deutlich sichtbar.

*

Die Segel trugen mich immer wieder fort vom Ätna. So kam ich oft in eine Bucht, wo Knaben am Strand im Schutz breitüberhängender Brotbäume badeten, denn der Tag stand groß am Himmel. Während ich die Segel einzog, wogte mein Boot hochschäumend bis an die Landungsklippe. Rasch setzte ich auf den Felsen und befand mich schon auf einem Eiland.

Alte Grotten funkelten mir zu Häupten. Sie schienen aus Bronze oder echtem Gold zu sein, so wunderbar dunkel und leuchtend war das Gestein geworden. Moose, wirkliche Moose, wie ich sie noch niemals sah, rankten sich in prachtvoller Verkettung wie edler Metallrost über die Schimmerwände empor. Spiegellichter des Meeres verlebendigten mit diamantner Helligkeit die steilen Bergeingänge. Als ich näher zusah, entdeckte ich aber auch Eidechsen, die beim Flimmergeschehn mitfunkelten. Sie bewegten sich so seltsam, als ob sie künstlich, gar kostbare Schmelzarbeit eines Goldschmiedes, mit feinstem Gehwerk, wären. Ich trat ein, es war die größte Grotte. Tropfsteine und ganz neue Tiere, wie Herzen oder Sterne, erzählten mir von ihrer innersten Gotik. Ich aber suchte weiter, ich wollte den Einsiedler finden, endlich kam ich zu mir. Der Traum war meine Wirklichkeit geworden. In der Seele fand ich jedes Eiland, dem ich nachsinnen wollte, in seiner alten Vollkommenheit, auf sich beschränkt, in sich abgeschlossen. Meine große Sehnsucht hatte ihre Flotte von Segelschiffen langsam fertig gebaut. Mir gehört die Insel der Ungestörten. Die Schönheit zieht als Schwan hinaus, zur Abschiedssonne. Der Sichelmond erglimmt, so kann ich wieder segeln.

*

Beruhigung

Zwischen Rügen und Sizilien habe ich an vielen Küsten angelegt. Nach Westen blickte ich aus der Bretagne. Die Segelfahrten waren kühn, stille stand der Traum.

Auf den Granitfelsen des letzten Frankreichs stauen sich die frühen Gläubigkeiten Europas. Die wahnhafte Wallfahrt Asiens steht am Meer. Denn es gibt eine gemeinsame alte Erde, die unsre, und ein altes Meer, das Wassergrab von Atlantis. Das Mittelmeer haben die drei Weltteile miteinander eingenommen, nun gehört es den Menschen; auf dem Urmeer ward es Licht, auf dem Mittelmeer ward es Geist. Die Ostsee zu erbringen, war ein großer Flottenversuch, er scheiterte. Noch kann man das Wrack des Admiralschiffs vor Danzig gewahren; die letzte Korvette, die Segel für den Wind bereit hält, liegt vor Königsberg. Hoch oben rüstet man in einer Werft.

Europa, nun aber bleibst du allein vor dem Ozean mit Ebbe und Flut. Ein anderes Träumen muß da anfangen; die Granitfelsen der Bretagne wanken erschreckt zurück und retten sich die ferne Keltenherrlichkeit. Die Seele Frankreich bückt sich darüber hinweg und blickt klaren Auges auf das Nahe: und da wird das Wesen des Westens.

*

Hochsommerlich bluten Kirschbäume bis hinunter zum pflaumenblauen Meer. Vor den strohgedeckten Bauernhäusern haben Malvenkerzen froh ihre rosa Blüten angesteckt; in den Himbeerzäunen lachen und singen kleine Blondköpfe mit blutroten Fingerchen; bunte Hennen scharren mit dickem Purpurkamm zwischen Klee und Stachelbeerstauden herum; und an den frischgeweißten Wänden des Hauses ranken sich Johannisbeerreben in voller Obstherrlichkeit empor. In einer sonnigen Ecke möchte ich mein Verträumtsein beschwichtigen.

Trüffeln gedeihn im Kastaniengehölz, und Morcheln erwachsen die Wiese entlang bis zu den lieblich silbernen Austerngestaden in der sonnigen Ginsterbucht. Hochrote Granitrecken stehn mit Moospantoffeln im Seerosensumpf, und wundervolle Büsche wilder Rosen beglücken die alten Stranddünen; ich träume die geliebte Bretagne.

*

Granitland, ich will mich ganz gern zu dir hinbücken: zwischen Felsenklippen erkenne ich wunderliebliche Pflanzengemeinden. Riesendisteln, wie Kandelaber auf einem östlichen Heiligtum, haben soeben ihre zweiwöchige Flamme rot angeblüht. Leise beschatten ihre stachligen Blätter grüne Klettersterne mit sehr tiefen Wurzeln im Sande, die nur in großer Zahl beieinander auf dem Boden kleben können. Sie aber halten gerade den Pflanzenstaat zusammen, während Efeugewinde als wuchernde Grenzen noch Strohblumen und allerhand Strandkraut in die Gemeinschaft des kleinen Reiches miteinbeziehn. Kohlweißlinge sind seine Götterchen. In der Nähe verstecken Möven ihr Nest.

Durch eine junge Forstanlage, voll von Blaubeeren, bummelt sichs rasch bis zu einer Quelle. Erdbeergeruch verkündet ein nahes Cyklamenländchen: einen Augenblick herrscht ein feuchter Duft. Aber schon bemerke ich zwischen Efeugrenzen einen andern Kleinstaat von Butterblumen, Gänseblümchen, einem Aaronstab und allerhand grünen oder goldnen Moosen. Darüber gebückt grüßt uns ein üppiges Hagebuttengeheck, und ein Hollunderbusch duftet bis herüber.

Hier ist eine große Schnecke der Gott, und im Frühling schlägt in dieser Eingeschiedenheit eine Nachtigall.

*

Armes Land, ich seh deine Fischerdörfer bei Windstille. In der Bucht lungern die Barken, ruhig beharren Ulmen beim Kreuzweg, und noch viel sanfter steigt Rauch aus Schornsteinen. Wie hochstämmige Bäume mit gewaltiger Laubkrone steht so ein Wald aus Qualm über strohgedeckten Dächern. Ein Traum von Wald, ein Wald von Träumen. Im Westen ist es dunstig, auch bei gutem Wetter; das Meer bleibt ruheloses Silber. Hat der Ginster einmal ausgeblüht, so überhaucht die Granitgestade bloß der Geruch von Algen, besonders bei Ebbe.

*

Welches Volk wird die Flut an sein Herz pressen, seine Seele mit der Ebbe entlassen, hinaussenden zu einem andern Volk, das eine Flut ans Herz preßt! Ozean, deine Geschichte hat noch nicht begonnen.

Zweimal am Tage gibst du uns die Aufgabe, dich herbeizuholen, das ist bei Flut; zweimal am Tage stellst du uns die Frage, wie dir in die Unendlichkeit zu folgen, das ist bei Ebbe. Ozean, du mußt warten.

*

Ihr armen Bretonen wartet. Die fremde Lehre vom Heil hat euch berauscht, der Gesang von Freiheit euch betroffen; die Druiden leben aber noch, und eure Fischer segeln immer wieder bis nach Island; die Beute bleibt oft aus, das Meer trägt jedoch jährlich seine Opfer in die Tiefe, doch bröckeln keine Felsen ab, damit ein neuer Flug gelinge.

*

Granitland, ich seh dich bei Weststurm. Mächtige Gischtarme flehn empor: Geister, springt in das Schaumgrab! Furchtbares Felsengewirr, gib dich auf! Schreckensgespenster, stürzt in den schaumhaften Wirbel, entsetzliches Heidengesetz, geh zugrunde!

Europa, granitgepanzertes Europa, du stehst da. Unbeirrbar festigst du geistige Erbschaft. Gräber von Sehern, heilige Hügel wachen im Westen.

*

Granitland, ich schau dich bei Ostwind. Träumereien, wie wildes Geflügel, Kundgebungen, wie Fledermäuse, jagen heran; der Landwind, der sie herbeifegt, bleibt aber leise dahinter, selten wuchtet er ruckweis, immer weht er beständig. Wärest du nicht, Granitland, so könnt er ungestört über See ziehn, hier aber hört er bald auf, verflüchtigt sich über der Heide, verästelt sich leicht im Gehölz, und das Weltmeer ebbt, wie entsetzt, in sich selber zurück. Der Seineatem wird das Granitgestade kaum erreichen. Männer aus Stein gehn ihrem Fischergewerbe voll Mut nach. Bei Ostwind fahren sie aus; der Weststurm bringt sie zurück, bis hinein in die heimischen Buchten. Der Granit von Europa ist nie zu bezwingen.

*


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