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Ein merkwürdiger Kranz! Unerhört in den Annalen der Festung. Schon daß er im Winter bei offenem Fenster stattfinden konnte, war unerhört. Anfang Februar!
348 Die Sonne schien, wie sie sonst etwa im März am Rhein scheint. Verfrühte Blumen, Schneeglöckchen und Veilchen auf dem Tisch, die Fenster weit offen, und das Geräusch der kleinen Stadt und großen Garnison in dem Gastzimmer: Signale, weit entfernte Kommandorufe, die durch die ruhige, stille Luft von den Kasernhöfen her ganz nah klangen, die Pfiffe der Lokomotiven und das Rattern der Züge, eine Abteilung Soldaten, die stampfend vorbeimarschierte, ein jeder Mann den Kopf halb seitlich gedreht und mir schlauen Augen dem »Schiff« zugewandt . . . Jeder wußte, daß hier das »Mädche« des schönen Leutnant Schneider wohnte, das schon Holischka, das schon Röder geliebt und so viel, viele andere – das träge Rumpeln eines Ökonomiewagens, ein paar schrille, ortsübliche Stimmen dazu, die sich hinüber und herüber Bemerkungen über das schöne Wetter zuriefen, das Bellen eines Hundes: Holischkas Karo, der wieder einmal heulend vor der Tür saß, wohl gesehen von den Spähaugen der alten Anathanen, die den betrübten und einsamen Hund wie immer hämisch draußen sitzen ließ.
Bäwele und Bäcker Bäckers Theodore, die heute zur Hilfe herbeigeholt worden, richteten eben die Tische. Es waren viele Damen angesagt, was das Bäwele mürrisch und verdrießlich machte. Sie hatte an allem etwas auszusetzen, was Theodore tat, fand sie zu geputzt, zu langsam, ärgerte sich, daß sie von Zeit zu Zeit zu dem offenen Fenster hinaussah.
»Warum soll ich dann nit? Mir können auf ›die Bach‹ gucke un in unsern Hof und sonscht nirgends hiñ. Du weißt, wann er kommt un brauchscht nit extra zu gucke, laß mich doch!«
»Meintwege, guck d'r een her,« sagte das liebenswürdige Bäwele.
»Es is doch eiñ Schkandal, wie ungepflegt dem Holischka sein Karo jetzt aussieht!« meinte Theodore. »Des arm' Vieh is 349 immer alleiñ un voller Flöh un heult de ganze Tag, ich weiß nit, vor Hunger oder vor Langweil.«
»Die Zeite sind vorbei, wo em des Betzerl Kuuche zugsteckt hat und jeden Tag e anner Schleifche! Jetzt hat se de Herr, de Hund könne die Flöh fresse, es kümmert sich keens um'n.«
»Undank is der Welt Lohn, un der Karo geht jetzt mit der Nelly oder mit'm alte Armhart schpaziere, der auch nirgends hingehört und am beschte so heule dhät wie der Karo,« philosophierte Theodore. »Wann der ›Unkebunk‹ glücklich uff der Welt is, trifft den Alte der Schlag vor lauter Angscht un Freud üwwer des, was er añgschtellt hat!«
Bäwele brummte etwas Unverständliches, denn sie zählte gerade die Plätze. »Einer zu wenig,« sagte sie sachlich, »die Amhartn kommt auch.«
»Was?« Theodore setzte sich vor Erstaunen auf einen Stuhl. »Wann's awwer im Kranz passiert?«
»Scheniert die nit! Als wann die Armharts üwwerhaupt was scheniere dät! Die Eva treibt sich die ganze Zeit do rum un lauert 'm Schneider auf. Daß sich die nit schämmt!«
»Wann se nur glücklich debei is,« seufzte Theodore, »unsereins hat gar nix. Die meint wenigschtens, sie hätt was!«
»Ah! Geschwätz!« tadelte Bäwele. Sie war für's Reale und stets unwirsch und grob, wenn Theodore überspannt war. Überhaupt ging sie gar nicht zart mit der Freundin um. So war's schon in früher Jugend gewesen, und dennoch hing die gutmütige Theodore an ihr, seit sie zusammen in die Schule gingen. Das bißchen Freude und Unterhaltung kam ja doch nur vom Bäwele, und wenn es ihr auch in abstoßender Form geboten wurde, Theodore hatte sich längst daran gewöhnt. Da sie die Empfängliche, die Phantasievolle war, blieb sie treu an Bäwele hängen. Der Vater hielt sie abgeschlossen, wie er auch die Mutter abgeschlossen gehalten hatte, und so oft sie auch in 350 ihrer Liebe und Wärme zurückgestoßen wurde, ihr Gefühl nahm nicht ab. Auf ihre Art hatte das Bäwele auch die Freundin gern, vertraute ihr alles an und frug sie um Rat, wenn es auch stets in barscher Form geschah. Sie konnten beide, so oft sie sich auch stritten, und so oft es bei Theodore Tränen gab, nicht voneinander lassen, und Bäweles Mutter mußte die Weinende oft trösten: »Och, loß des wüschd Mädche! Sie meent's awwer nit so bees. Mit mir macht s'es grad so, un Gott sei's geklagt, mit de Männer aach. Un doch sin se hinnerer her wie verrückt. Siehscht, Theodore, du bischt so e lieb Mädche . . .«
»Ja, gell, un krieg doch keen; ich weeß, was Sie sage wolle, Mamme. Nit emol en abgelegte vom Bäwele! Den dät sie mir nit emool vergunne, awwer mir hawwen nit de gleiche Gschmack. Mir gefallen solche wie der Hertwig, der Kofler, der Wasner un so; awwer die gucke mich nit an. Ich will halt zu hoch naus!«
»Es kommt schun emol eener!« tröstete die Alte.
»Awwer gschwind, Mamme (sie nannte Bäweles Mutter Mamme), sonscht bleib ich doch sitze, un's wär schad for mich!«
So scherzten wohl die Alte und Theodore und klagten sich verstohlen ihr Leid, wenn sie unter dem harten Regiment Bäweles seufzten. Nur das Bäwele durfte keine Ahnung davon haben, sonst kamen böse Zeiten, kritische Tage erster Ordnung!
Ein »kritischer Tag« lag, für Eingeweihte wohl vorauszuahnen, auch heute in der Luft. Das Bäwele war nämlich gar nicht fürs Außergewöhnliche. Es mußte bei ihr alles seinen soliden, gemächlichen Gang gehen, sollt es in seinem etwas mürrischen Gleichgewicht bleiben. Daß es der Gouverneurin, der es bis jetzt niemals eingefallen war, in den Kranz zu kommen, beliebte, sich heute anzusagen, war fast eine persönliche Beleidigung Bäweles, und die Königin dieses kleinen Wein-, Bier- und Kaffeereiches nahm sich deshalb vor, nicht allzu 351 liebenswürdig gegen die erste Dame der Festung zu sein. Ja, wenn es dabei geblieben wäre, daß dieses große Tier kommen wollte! Das sprach sich aber herum, und nun hatte jede Offiziersdame, auch jede Kaserninspektorin und Zahlmeisterin und was noch mehr solche »Halbdamen« waren, wie sie Theodore hieß, nichts eiligeres zu tun, als auch in den Kranz zu rennen. Es mußte eine schon gar kein »elegantes« oder »einigermaßen elegantes« Kleid haben, wenn sie sich heute nicht beteiligte!
Die vielen Leute gaben alle Hände voll Arbeit, mochte auch die Mutter schmunzeln, Bäwele schlug's nicht hoch an, lieber ein Regiment Offiziere, als einen »kompletten« Kranz! Es lag ihr überhaupt nicht, Frauen zu bedienen, die hatten Theodore oder die Mutter viel lieber und schnauzten sie gern ab, wie sie sie gern abschnauzte.
Die Damen, die nach und nach anrückten, zeigten alle etwas von der feierlich verhaltenen Erregung von Theater- und Kirchenbesuchern. Sie kamen sehr früh, ganz wie um sich einen guten Platz zu sichern. Die spitznasige Zahlmeisterin und die grobe Bayerin waren natürlich wieder die ersten. Die Zahlmeisterin fing sofort an, in dem Lokal herumzukommandieren, wollte Stühle verstellt, Tassen verrückt und Blumen anders aufgestellt haben. Bäwele hörte sie stumm an und lächelte nur ihr bekanntes Lächeln. Es fiel ihr aber gar nicht ein, auch nur einen Finger zu rühren, um den hervorsprudelnden Wünschen der Spitznasigen entgegenzukommen. Ja, als die Zahlmeisterin in ihrem brennenden Eifer anfing, selbst Hand anzulegen, packte sie das dünne Handgelenk der Eifrigen und sagte kurz, ein hartes Blinken in den Augen: »Da herin bin ich Herr und laß mir nichts einreden. Sind Sie so gut und richten Sie sich danach.«
Theodore wurde blaß und rot vor Schrecken. Der Spitznasigen Augen wurden spitz und stachen wie Dolche. Dann brach's los; sofort sekundierten die anwesenden Damen und fielen über 352 Bäwele her. Wenn man nicht einmal an einem so außergewöhnlichen Tag das Recht hat, alles nach Wunsch zu »arranschiere«, wie die Zahlmeisterin sich ausdrückte, da hörte sich doch alles auf! Wo man Jahr für Jahr, jede Woche so und so viel daließ! Es gibt noch andere Lokale! Jawohl, moderner ausgestattet und mit liebenswürdigerer Bedienung! Mit offenen Armen werde man dort aufgenommen! Man warte nur darauf! Ein Regiment Offiziere natürlich würde hier willkommener sein und ganz anders bedient werden!
Immer höher gingen die Wogen der Entrüstung. Draußen heulte Karo als Begleitung immer lauter und bellte sogar in Zwischenräumen, wenn die erregten Stimmen bis zu ihm über die Straße drangen. Jede neu ankommende Dame mischte sich sofort mit aller Hingabe in den Streit, der allerdings nur von Seiten der Kranzdamen geführt wurde, denn das Bäwele sagte kein Wort entgegen, half im Verein mit der bebenden Theodore beim Ablegen, obwohl sich die Zahlmeisterin immer zudrängte und das Bäwele wegpuffte, um ja jede Dame in fliegender Hast von der unglaublichen Art Bäweles unterrichten zu können. Theodore wollte sogar in Stille und Heimlichkeit beginnen, die Wünsche der Spitznasigen zu erfüllen, doch Bäwele sagte ihr bestimmt: »Laß! 's bleibt alles, wie's ist!« Und Theodore ließ es.
Auch die Mamme kam herbeigestürzt, das Staatshäubchen schief, die Knie unter dem Schwarzseidenen zitterten; kläglich schaute sie in der Runde um und lispelte Theodore zu: »Ochgott, Ochgott! Sie g'fährt m'r jo de ganze Kranz!«
Die Zahlmeisterin warf sich sofort der hilflosen Mamme entgegen, sie zischte vor Wut und wiederholte immer wieder dasselbe, kein anderes Wort findend: »M'r wird doch an so em Dag selwer arranschiere derfe! Noñ, wart norre! Des werd sich räche, awwer wie!«
353 In dem allgemeinen Tumult überhörte sie sogar den Eintritt der Gouverneurin. Erstaunt und belustigt sah sich Exzellenz in dem sonnenbeschienenen Zimmer um, in dem es summte wie in einem Bienenschwarm. Die Mamme war die erste, die den hohen Gast gewahrte; sie knixte vor Verwirrung so tief wie vor einer Fürstin, knixte ebenso vor Frau von Armhart, vor der Oberstin und zuletzt vor der Bergern, die in ein lautes Gelächter ausbrach und sofort eine andere Stimmung hereinbrachte: »Ja, was is dann, Frau Schweizer? So untertänig? Kennen se nit den scheene Vers:
. . . Was frog ich noch de Prinze?
Die schnaufe aa wie annere Leit,
Nor große Herre sin se!«
Exzellenz drehte sich lächelnd um und schüttelte Frau Berger die Hand. »Nur sich nicht verblüffen lassen, nicht wahr? Das ist eine feine Lebensweisheit! So lebhaft heute, meine Damen? Das ist recht, dann werden wir einen angeregten Kranz haben. Das freut mich, wenn ich einmal komme!« Sie schüttelte ein paar Damen die Hände und setzte sich gleich auf den nächsten Stuhl. Doch wie von der Tarantel gestochen fuhr die spitznasige Zahlmeisterin herum und deutete unter beständigen Verbeugungen auf den Lehnstuhl am Ende des Tisches: »Exzellenz, wir bitten, hier ist Ihr Platz, der Ehrenplatz für den hohen Gast! Exzellenz! Wir bitten! Wir bitten, Exzellenz!«
Exzellenz Mary nahm ihr Lorgnon vor, – sie sah doppelt hochmütig aus, wenn sie das Lorgnon vor den Augen hatte – schaute sich die schmächtige Zahlmeisterin sehr genau von oben bis unten an und sagte scharf: »Ich danke sehr, Frau . . . Frau . . . wie ist Ihr Name? Ich bleibe hier sitzen; ich sitze sehr gut, wo ich bin. Wir werden doch hier keine Rangordnung einführen? Das wäre noch schöner! Wollen Sie sich neben mich setzen, Frau Berger, und hier vielleicht Frau von Armhart? Stehen 354 Sie nicht so lange, Baronin, es ist jetzt nicht so leicht für Sie. Frau Bezirksamtmann Horler, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Sie kommen auch zu uns da herunter, nicht? . . . Ich bitte, daß sich die Damen doch setzen! Es ist ja ungemütlich.«
Die Stöpselzieherlocken der Bezirksamtmännin tanzten ein freudiges »ja«, sie war etwas verwirrt; sie hatte das spöttische Lächeln der Oberstin gesehen.
Es ging ja so absolut »zuchtlos« zu, nach Meinung der Oberstin. Das konnte wieder einen netten Klatsch geben, wenn Exzellenz sich so außer allem »Komment« benahm! Dieses Flüstern, diese bedeutsamen, verstohlenen Blicke oben am Tisch, wo der große Sessel leer stehen blieb, diese Betretenheit, dieses süße, gewaltsame und zugleich versteinerte Lächeln auf allen Gesichtern! Was die Offiziersdamen heute wohl alles zu Hause sagen würden?! Sie konnten sich ja jetzt kaum bemeistern!
Unbefangen allein schien Exzellenz Mary. Sie lachte Bäwele freundlich an, als sie ihr als Erste den Kaffee einschenkte und sagte: »Reizend ist hier gedeckt! So einfach und geschmackvoll! Wie schön die Schneeglöckchen in den weißen Gläsern zu dem weißen Tuch, und die dunklen Efeusträuße und Veilchen! Man möchte das malen! Haben Sie gedeckt?«
»Ja, Exzellenz,« sagte das Bäwele, noch Trotz in den Mundwinkeln, konnte aber nicht umhin, einen triumphierenden Blick nach der Ecke hinzuschleudern, in die die Zahlmeisterin sich geflüchtet hatte, »den andern Damen hat es nicht so ganz gefallen wollen.«
»Wieso?« sagte Exzellenz erstaunt, nahm das Lorgnon wieder vor und sah sich die Tafel und die Tafelrunde genau an.
»Ich für meine Person finde es sehr hübsch. Und Sie selbst sehen ebenso hübsch aus.«
Bäwele errötete, Exzellenz hatte ihr Herz gewonnen!
355 »Ich wundere mich nicht, wenn der größte Teil der Garnison Ihnen zu Füßen liegt!«
Bäwele wußte nicht, was tun. War das nun Spaß oder Ernst, was Exzellenz sagte? Am besten war, man machte schleunigst die Runde weiter mit der schönen Staatssilberkanne.
»Wie unpassend,« zischte die Oberstin ihrer Nachbarin leise zu, die Bergern aber lachte laut heraus und sagte: »Ja, sie is e Krott; der ächt Pälzer sagt awwer: Sie is e Oos, e Schinoos.«
»Das klingt schlimmer als es gemeint ist,« beeilte sich Frau Bezirksamtmann zu erläutern. »Das ›Oos‹ hat nicht die Bedeutung wie das hochdeutsche schlimme ›Aas‹ . . .«
»Ich bin doch keine prüde Jungfrau, Frau Bezirksamtmann, im Gegenteil, ich freue mich darüber, daß Frau Berger so originell ist; man bekommt ja hier vor lauter Etikette nichts Natürliches und Ursprüngliches zu sehen.«
»Oho! Die Nelly Horler is doch originell, do drüwwer is doch alles einig,« lachte die Bergern und blinkte der Frau Bezirksamtmann anerkennend zu.
Exzellenz nickte: »Ein famoser Kerl und auf jeden Fall ein Original.«
Nellys Mutter biß sich auf die Lippen. Sie liebte es nicht, wenn von dieser Tochter gesprochen wurde. Nelly, das war der dunkle Punkt in ihrer Zukunft! Als Frau von Welt steuerte sie glücklich um die Klippe, indem sie sich mit liebenswürdigem Lächeln zu Frau von Armhart beugte. Diese war, in einen schwarzen Kaschmirschal malerisch gehüllt, um ihre Figur zu verbergen und zu unterstreichen, bisher ganz still dagesessen an einer winzigen Häkelarbeit häkelnd.
»Hier meine verehrte Nachbarin, Baronin von Armhart, ist doch zweifellos ein Original, Exzellenz.«
»Pfff, pfff!« machte die Bergern und schaute zum Himmel auf.
356 »Ohne Frage,« meinte Exzellenz. »Die Originalität liegt in der Familie. Auch Rapunzelchen, Ihr Jüngstes, Baronin, ist originell, in ihrer Art vielleicht auch Stella.«
Frau Bezirksamtmann kriegte eine fruchtbaren Schrecken. Wenn nur jetzt niemand nach Resa-Rosa fragte!
Sie drängte krampfhaft das Gespräch nach einer andern Richtung: »Es ist besser, die Kinder sind nicht allzu originell, Exzellenz. Sie sind ohnehin so selbständig und von ihrem eigenen Wert überzeugt. Man ist ja nichts weiter als Objekt ihrer Beobachtung und Kritik. Als Respektsperson ist man längst abgesetzt.«
Am oberen Ende des Tisches sprach man nur in abgerissenen Sätzen und hatte Augen und Ohren immer herunten. Die grobe Bayerin war durch Zufall in den Ehrenstuhl gedrängt worden und saß dort, schwitzend vor Verlegenheit, mit blauroten Backen, in ihrer hochrotseidenen Staatsbluse. Sie wäre am liebsten in den Erdboden gesunken, wenn sie das Lorgnon der Exzellenz auf sich gerichtet fühlte und war starr über diese Bergern, die sich mit der Stricknadel in den Haaren kratzte wie an andern Kränzchentagen auch, in ihrem grauen Mixkleide mit dem schmalen, weißen Kragen dasaß fast wie eine Diakonissin und sich den Teufel um die Exzellenz scherte, sondern drauflos schwätzte, wie's ihr gerade einfiel.
»Wie?« sagte Binchen Baronin von Armhart und tat, als habe sie nicht recht gehört. »Man ist Objekt für die beobachtende Kritik der Kinder? Das wär' die verkehrte Welt. Die Mutter muß absolute Herrscherin sein« (»und der Vater?« warf die Bergern halblaut boshaft dazwischen) »und meine Kinder sind mir Objekt der Beobachtung und der Kritik. Was kann man nicht alles durch Erziehung tun? . . . Durch Erziehung vor der Geburt sogar? . . .«
»Das mag eine Hauptsache sein, wer es versteht,« erwiderte 357 Exzellenz in scheinbarem Ernst, »aber dazu gehören Berufene, Auserwählte, und Heil dem Kind, das diese vorsorgende Mutter hat!«
»Was wisse dann Sie vun Kinner, Exzellenz?« rief unwirsch die Bergern, die sich ärgerte, daß die Gouverneurin auf die Ideen der Baronin einging. »E bißche male, e bißche Klavier schpiele, Chaise fahre, geischtreiche Kränzche halte . . . Was dun Se dann jetz', wo Se de Kofler un de Hertwig nit mehr hawwen, mit dene paar Ruine?«
»Trauern, Frau Berger, und neue Freimaurer suchen! Haben Sie nicht Lust, die beiden Plätze zu besetzen? Zuzutrauen wäre es Ihnen schon!«
»Bewahr mich der Himmel devor! Do paß ich einfachi Frau nit hin, wann ich auch kein Vorurteil hab. Suchen Se doch die Baronin Armhart zu gewinne!«
Diese in hellem Spott und mit lästerlichem Gesichtsausdruck gesprochenen Worte nahm die Dame»Unkebunk« in vollem Ernst.
»Würde mir eine große Ehre sein,« sagte sie mit einfachem Anstand.
Nun war's an Exzellenz, sich unbehaglich zu fühlen. »Wer weiß, wie's im nächsten Winter wird,« suchte sie abzulenken.
»Warum? Exzellenz gehen doch nicht fort? Oder Fräulein Welser?« fragte Frau Bezirksamtmann sehr interessiert.
Es wurde ganz still am Tisch. Man hörte draußen ein paar Kinder, die frühjahrlich auf der Straße spielten, laut und gedehnt singen:
»Der Turm, der Turm ist gar zu hoch,
Da muß man einen Stein abhaun.«
»Hören Sie, was die Kinder singen?« lachte Exzellenz nervös. »Der Turm, der Turm ist gar zu hoch! Ich werde auch einen Stein abhauen! Und zwar einen sehr schweren und gewichtigen, den wichtigsten Stein in meinem Leben!« 358
»Der Turm, der Turm ist gar zu hoch,
Da muß man einen Stein abhaun.«
sangen wiederum die Kinder.
»Sie würden es ja in kurzer Zeit alle sowieso erfahren: ich beabsichtige nämlich, mich in Zukunft ganz der Malerei zu widmen . . .^
Eine Fliege summte durchs Zimmer, matt und schwerfällig . . . eine arme, von der verfrühten Sonne geweckte, unglückliche Fliege, die vorausbestimmt war, ihren Kopf an den Scheiben einzustoßen und elend zu verhungern oder zu erfrieren. Es war so still, daß man ihr dünnes Gesumme hörte.
Die Bergern, die nicht gewohnt war, Stimmungen zu unterliegen, faßte sich am ersten. »Hier awwer doch nit? Unser alter Theen kann Ihne doch nix beibringe?«
»Hier? Oh, Frau Berger, da brauchte ich keinen Stein abzuhauen, nur Steine dazu herschleppen und mich noch weiter einmauern.« Sie sprach nun plötzlich kurz, hart, sachlich: »Ich habe vor, ganz von hier wegzugehen, für immer, nach Berlin oder München . . .«
»Und der Gouverneur?« fragte mit der gleichen »angespannten« Sachlichkeit die Bergern. Sie hatte keinen Augenblick mit dem Stricken ausgesetzt, nun kratzte sie sich aber auf dem Kopf und zwar mit allen Zeichen der Erwartung.
»Mein Mann? . . . Der läßt sich nicht mit in der Malerei ausbilden, der bleibt natürlich in Ausübung seines Berufes hier.«
Es klang unbefangen, und doch war ein falscher Ton dabei. Der ganze Tisch hielt den Atem an. Sämtliche Näh- und Sticknadeln hoben und senkten sich beschleunigt in den Stickereien, sämtliche Häkelnadeln bohrten sich mit Nachdruck in die Häkelei, sämtliche Stricknadeln klapperten lauter und lauter. Nur Frau von Armhart und die Bezirksamtmännin arbeiteten nicht. Die 359 Oberstin wurde rot vor Freude über die »monströse« Taktlosigkeit der Yankee-Doodelin. . . . Keine sah auf, nur Frau von Armhart und die Bergern, die sich nicht und durch nichts verblüffen ließ. Eine hämische Freude lief still von einer zur andern, und wenn jemand redete, war ein Unterton von Geringschätzung in der Stimme.
Exzellenz Mary war mit einem Schlag nicht mehr die Gouverneurin, die erste Dame der Garnison, die Regentin; sie war schon die Exregentin, die Abgesetzte, und sie begriff die Situation vollkommen und sagte mit Humor:
»Le roi est mort, vive le roi!«
»Ich verschteh nit französisch,« sagte die Bergern geringschätzig, »awwer ich dät so e Stellung un so en Mann ewe nit uffgewe for e unsicher Lewe. Un Kunscht! Kunscht is keen Metier!«
»Mann aufgeben? Davon sagte ich nichts, Frau Berger,« antwortete Exzellenz Mary hochmütig. »Wie wir das festsetzen, lassen Sie das unsere Sache sein. Es liegt überdies noch in weiter Ferne, und dann: es lebe das Kommende, es lebe ›Unkebunk‹! Nicht wahr, Baronin?«
»Wie meinen Sie das, Exzellenz?« fragte Binchen Möller-Armhart, nun ihrerseits etwas verwirrt.
»Alles, was Sehnsucht ist, was schön und licht scheint, was Zukunft ist, was uns emporträgt, unser Bestes ist . . . Unkebunk, nicht?«
»Oh, das versteh ich, mit einem Wort: das Ideal,« sagte Binchen Baronin von Armhart, sieghaft strahlend, und suchte unauffällig ihre monströse Figur zu entschleiern.
»Ach was! Unkebunk ist alles Überspannte, für de Hertwig sein Studium und des Fräulein Welser, Unkebunk is die Tochter, die m'r kriegt anstatt em Sohñ, is . . . noñ ja, is e Erbschaft, die nach mehr aussieht als se is, is die Festung for gewisse Leit . . .«
360 »Das geht zu weit,« schrie Binchen und sprang mit einer Schnelligkeit und Gewandheit auf, die ihren schweren Körper Lügen strafte, »ich verbitte mir Anzüglichkeiten; Exzellenz, ich bitte um Ihren Schutz!«
»Mach dich nit lächerlich, setz dich widder, Unkebunken! Dich geht's ja gar nit an, mach dich nit so wichtig! Des ›Unkebunk‹ suchen ganz annere Leit!«
Daraufhin wurde es wieder ganz still, und hätte das Bäwele, selbst in Aufregung, nicht die große Kaffeekanne unvorsichtig und laut niedergesetzt, hätte die ganze Gesellschaft einem Wachsfigurenkabinett geglichen. So rührte sich, wie durch den Ton erweckt, die eine und andere, räusperte sich, hustete. . . . Scheu glitten die Blicke an Frau Bezirksamtmann Horler vorbei. Jede wußte, was die Bergern sagen wollte, nur Exzellenz sah diese fragend an. Die machte ihr liebes, rundes, rotes Kindergesicht, lächelnd, unschuldig, nur die blaugrünen Quecksilberäuglein hielten dem Blicke nicht ganz stand.
»Ja, es gibt Geschmäcker un Attraktione, 's is nit zu glaube.«
»Ich verstehe nicht« . . . sagte Exzellenz Mary ein wenig scharf.
»Is nit nötig, Exzellenz, nix vun Bedeutung für Sie, kein philosophisches Problem . . . e Problem schon.«
»Was verstehen denn Sie von Problemen!« rief die Oberstin herunter. War es nicht ein Skandal, daß Exzellenz hier nicht eingriff, sondern die Taktlosigkeiten dieses Weibes duldete, dessen böse Art sich heute ungeahnt entwickelte, gerade wie wenn sie sich von Exzellenz Mary unterstützt fühlte.
»Sie hawwen Recht, Frau Demharter (sie sagte um alles in der Welt nicht den Titel, ausgenommen Exzellenz), »ich versteh nit viel davon, von erotische Probleme schon gleich gar nit!«
Sie freute sich mit schäckerndem Behagen ihrer guten Antwort, hatte sie doch gleich zwei damit getroffen, die Oberstin, deren Verhältnis mit dem Adjutanten Stadtgespräch war, und 361 die Bezirksamtmännin mit ihrer hochnasigen Stella, die sich mit dem geschenkten Geld draußen herumtrieb, um Röder zu sehen. Aber es schienen sich noch mehrere getroffen zu fühlen; es gab rote Köpfe und verlegene Gesichter, einige hastig angefangene, halblaute Gespräche, versteckte Schadenfreude und wütendes Arbeiten.
»Erotische Probleme! Ach? Was? Hier? Das ist unmöglich,« spottete Exzellenz Mary.
»Jawohl, zu Befehl!« machte spaßhaft salutierend die Bergern. »Sie Amerkonerin verstehen ja doch nix von all dene Sache.«
»Exzellenz will nichts von Klatsch wissen, Frau Berger,« sagte in sanftem Ton, der alle Schärfe nehmen sollte, Frau Bezirksamtmann.
»Klatsch? Tatsache! Frau Horler, ich redd nur von Tatsache, ich kann alles beweise, was ich redd.« Und zur Bekräftigung ihres Ausspruchs klopfte sie nachdrücklich mit dem Fingerknöchel auf den Tisch und schaute sich in der Reihe um. Es schien, als duckten sich alle vor ihr, nur Exzellenz Marys Mienen drückten eine große Genugtuung aus. Das schien die Herrschsucht der Bergern zu reizen.
Sie blinzelte ein bißchen und fragte dann ganz sanft: »Das Fräulein Welser bleibt gewiß bei der Exzellenz, bei dem Gouverneur mein ich, wann Sie fortgehe, male lerne?«
Exzellenz lachte noch, aber ein paar böse Falten zogen sich um die Augen. »Sie sind kostbar, Frau Berger! ›Male lerne!‹ Ich habe schon gemalt, ehe ich meinen Mann kennen lernte, ich bin Malerin.«
»Ei, so male Se doch hier! Was brauche Se fortzugehe?«
»Hier?« Sie wurde plötzlich bitter. »Hier kann ich nur vegetieren, eine Kunst ausüben, ist für mich ausgeschlossen in dieser Atmosphäre.«
362 »Mir leben doch aach hier, un recht vergnügt. Un der Theen malt un der Maler Gert auch, un was for schöne Sache! Wann's sein muß, gehen Se halt e paar Monat fort, Malerin seiñ un lassen des Fräulein Welser hier, es scheint, der Herr Gouverneur hat se ganz gern.«
Das letztere sagte die Bergern auf eine Weise, daß alle die Köpfe hoben.
Exzellenz Mary erwiderte ganz harmlos: »Ja, gewiß!« machte dann eine Bewegung, als wolle sie aufstehen und weggehen. Alles Blut stürzte ihr ins Gesicht, doch beherrschte sie sich und begann mit Frau Bezirksamtmann Horler ein gleichgültiges Gespräch, an dem sich die Baronin von Armhart eifrig beteiligte. Aber bald erlahmte es. Eine dumpfe Unruhe war in den Kranz gekommen, eine unterdrückte Unstetheit; es lag heute zu viel halb Ausgesprochenes in der Luft. Und gar dieses Letzte! Es war ja unerhört! Und wenn's die Bergern sagte, stand es fest. Der Gouverneur hatte also ein Verhältnis mit der Welser! Er wollte sie wahrscheinlich heiraten, und nur deshalb verließ Exzellenz Mary die Stadt. Sie mußte den Weg frei geben! Darum kam sie in den Kranz! Das mit der Malerei war Vorwand. Dergleichen fiel doch dieser nüchternen Amerikanerin nicht ein! Sie hielt es wahrscheinlich zu Hause nicht mehr aus, weil diese scheinheilige, ränkesüchtige Welser sie Schritt für Schritt von ihrem Platz verdrängte, weil die beiden Herrn im Hause waren! Das kribbelte in jedem Hirn, lag auf jeder Zunge und lauerte in jedem Blick, und alle gönnten's der launenhaften Gouverneurin und freuten sich, daß man diesem Ehrenmann, der sich noch nie etwas hatte zu Schulden kommen lassen, endlich auch etwas anhängen konnte. Es war also der Skandal im Hause, ja, ein scheinbar ganz offener! Hätte denn sonst die Gouverneurin davon gesprochen? Und alle gönnten's auch Johanna Welser, daß sie ins Gerede kam und mißgönnten ihr 363 wieder, daß sie den Gouverneur heiraten sollte. Die als Gouverneurin!
Man konnte es kaum erwarten, bis die Zeit kam, daß man mit Anstand auseinandergehen konnte. Exzellenz, die Bezirksamtmännin und Frau von Armhart gingen gleich, und die Bergern sah ihnen hämisch nach und sagte halblaut: »Die hän ihr'n Treff!«
Aber niemand achtete auf sie. In kleinen Gruppen entfernten sich nach und nach die Damen, von Zeit zu Zeit stehenbleibend, kopfschüttelnd und mit erhitzten Gesichtern. Allmählich wurde es still in der Gasse und in der Stube, der Abendwind kam, ein kühler, hastiger Wind. Bäwele schloß die Fenster und sagte halb spöttisch, halb träumerisch vor sich hin: »Unkebunk«. Sie dachte an le joli tailleur, der schon drei Tage nicht mehr gekommen war. Dabei entging es ihr aber nicht, daß merkwürdig viele Kuchenstücke auf den Tellern lagen. Das kam fast nie vor, die Damen aßen sorgsam alles auf. Blieb einmal ein Stückchen übrig, so hatte es stets Holischkas Karo bekommen, das war so Gebrauch gewesen. Und so viele heute! Sie warf einen flüchtigen Blick durchs Fenster und durch die Dämmerung: richtig Karo saß noch immer vor dem Hause, gekauert, demütig. Er winselte leise und hob von Zeit zu Zeit horchend den Kopf, aber enttäuscht legte er ihn immer wieder auf die ausgestreckten Pfoten, ein Zittern lief durch seinen Körper . . . sollte sie Karo den vielen Kuchen geben?
»Geb doch'm Karo den Kuche,« bat Theodore.
Doch Bäweles Herz verhärtete sich schnell wieder. Nein, er bekam ihn nicht. Warum heiratete sein Herr auch das Betzerl? Wenn sie ihn auch nie geliebt hatte, was brauchte er zu heiraten? Und mit trotziger Miene und feindseliger Haltung trug sie die Teller in die Küche, wo sie sie unwirsch vor der Mama hinstellte und keine Antwort auf ihre Fragen hatte. Sie kehrte 364 sich kurz um, trat in das Gastzimmer zurück und setzte sich müde auf einen Stuhl. Plötzlich kam wie eine Vision der verhängnisvolle Frühmorgen: Sie sah ganz deutlich die Herren, den Eintritt Röders, sah Holischkas ängstliches Gesicht . . . Kofler . . . draußen heulte Karo. Doch sie schüttelte die Stimmung sofort ab, sie war keine Freundin von Stimmungen, stand rasch auf und zündete das Gas an, eine Flamme, das gab genug Licht für ihre Arbeit, bis die Gäste kamen.
*