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Achtes Kapitel.

»Gut, Jessica, geh' nun in's Haus hinein;
Vielleicht komm' ich im Augenblicke wieder.
Thu, was ich dir gesagt, schließ hinter dir
Die Thüren: fest gebunden, fest gebunden!
Das denkt ein guter Wirth zu allen Stunden.«
Kaufmann von Venedig.

Demoiselle Barbérie hatte ihren Bewerber so kurz entlassen, nicht bloß weil die Unschicklichkeit seines Besuches zu einer so späten Stunde und auf eine so zweideutige Weise sie verletzte, sondern auch weil sie sich nach Muße sehnte, um über das Seltsame des eben Vorgefallenen nachzudenken. Als das Mädchen nun aber allein war, ging es ihr wie Jedem, der sich durch einen augenblicklichen Impuls hat hinreißen lassen: sie bereute ihre übergroße Hast; fünfzig Fragen, die zur Aufklärung des Geheimnisses hätten beitragen können, fielen ihr jetzt bei, und sie hätte viel darum gegeben, sie ihm gleich vortragen zu können. Es war indeß zu spät, denn eben hörte sie, wie Ludlow vom Bedienten Abschied nahm, und der athemlos Lauschenden entging selbst sein Tritt nicht, als er durch die Staudengewächse ihres kleinen Grünplatzes hindurchging. François kam noch einmal an die Thür, um sein herzliches bon soir zu wiederholen, und nun hoffte sie, nicht weiter diese Nacht gestört zu werden, da die Damen jener Zeit und jenes Landes bei'm gewöhnlichen An- und Auskleiden den Beistand ihrer Dienerinnen nicht bedurften.

Es war noch früh und durch die Unterredung mit Ludlow hatte sie alle Neigung zum Schlaf verloren. Sie stellte die Lichter in den Hintergrund des Zimmers und trat wieder an das Fenster. Unterdessen hatte der Mond eine andere Stellung gewonnen, daher das Wasser eine verschiedene Beleuchtung erhielt. Das hohle Geräusch der Brandung, der schwere Hauch der Seeluft, und die weichen Schatten von Baum und Berg waren noch so ziemlich dieselben. Die Coquette lag noch, wie vorher, dicht am Cap vor Anker, und im Süden blitzte der Lauf des Shrewsbury, bis er sich hinter einen vorragenden, hohen, fast senkrechten Hügel verbarg.

Es war eine tiefe Stille, denn mit Ausnahme des Hauses der Familie Hartshorne, auf dem an die Villa angrenzenden Gute, war innerhalb mehrerer Meilen in der Runde keine menschliche Wohnung. Diese einsame Lage war indessen hier nicht gefahrbringend; nie hörte man von gewaltsamen Thaten ruchloser Menschen, die in der Nähe verübt worden wären; der friedsame Charakter der Ansiedler im Binnenlande war sprüchwörtlich; eben so groß war die Einfachheit ihrer Sitten, und die umspielende See unentweihet von jenen Barbaren, die auf der andern Halbkugel die Naturreize einiger Küstenmeere durch die Schrecken ihrer Unthaten verfinsterten.

Ungeachtet dieser gewöhnlich herrschenden Stille, ungeachtet der späten Abendstunde, war Alida kaum einige Minuten in ihren Balkon getreten, als sie den Ton von Rudern hörte. Der Schlag war gemessen und das Geräusch dumpf und entfernt, obgleich deutlich genug für ihr geübtes Ohr. Befremdet über die schnelle Abfahrt Ludlows, der eben nicht allzueilig zu seyn pflegte, wenn er ihre Gesellschaft verließ, lehnte sie sich über das Gitter, um sein dahinsegelndes Boot, wenn auch nur auf einen Moment, zu erspähen. Sie harrte und harrte, in der Meinung, jetzt müsse die kleine Barke aus dem Schatten, den das Laub warf, hervorkommen, und auf der hellglänzenden, fast bis an das Kreuzerschiff reichenden Wasserfläche erscheinen. Sie hatte vergebens geharrt: keine Barke zeigte sich, obgleich das Rudergeplätscher nicht mehr zu hören war. Die Laterne an der Gaffelspitze der Coquette, das Zeichen, daß der Commandeur sich nicht im Schiffe befinde, hing noch immer aus.

Ein schönes Schiff im Mondglanz, mit seinen symmetrisch ausgestreckten Spieren und dem zarten Gewebe seines Tauwerks, dazu das schwere und großartige Heben und Sinken des Rumpfs auf den trägen Wogen einer ruhigen See, gewährt einen eben so gefälligen, als imposanten Anblick. Alida wußte, daß innerhalb der schwarzen ruhenden Masse mehr als hundert menschliche Wesen jetzt in den Armen des Schlafes lagen; dies lenkte fast unwillkührlich ihre Gedanken auf die Lebensbeschäftigung dieser Menschen, auf ihr, trotz des beschränkten Aufenthaltortes, herumirrendes Daseyn, auf ihr offenes männliches Benehmen, auf ihre Aufopferung für Andere, die ihre Wohnsitze nie verlassen, auf ihren unterbrochenen Zusammenhang mit der übrigen Menschenfamilie, endlich auf jene lose häusliche Bande und jenen Ruf der Unbeständigkeit, die natürlichen Folgen eines solchen Lebens. Sie seufzte, und wendete den Blick von dem Schiff hinweg auf das Element, auf dem es schwamm; ihr Auge überschweifte die weite unwohnbare Wasseröde in ihrer ganzen Ausdehnung, von dem fernen, niedern und fast unbemerkbaren Gestade der Insel Nassau bis zur Küste Neu-Jersey's. Selbst der Seevogel ruhte seinen müden Fittig ans, und trieb sicher schlafend auf den Wogen. Die ungeheure Fläche sah aus wie eine große, nie betretene Wüste, oder vielmehr wie ein zweites Firmament, nur dichter, materieller als das, von welchem es überwölbt war.

Eichen- und Fichtengehölz von verkrüppeltem Wuchse bedeckte, wie bereits erwähnt worden, einen großen Theil der sandigen Firste, woraus das Vorgebirge bestand. Von diesem Bäumen war auch das Wasser der Runden Bucht ringsherum umschattet. Es kam dem Mädchen vor, als erblickte sie über den Umrissen des Gehölzes am Seerande einen bewegten Gegenstand. Anfangs glaubte sie, irgend ein Baum mit kahlen Zweigen, wie es an der Küste viele gab, werfe seine nackte Linien auf das Wasser im Hintergrunde und täusche ihren Blick mit der Gestalt und dem Taugewebe eines leicht aufgetakelten Schiffes. Doch als die dunkeln, symmetrischen Raaen bei Gegenständen vorbeiglitten, von denen sie wußte, daß sie unbeweglich waren, konnte sie über das, was sie sah, nicht länger in Zweifel bleiben. Alida verwunderte sich, und ihre Verwunderung war nicht ganz ohne Mischung von Besorgniß. Es sah aus, als wenn der Fremde – denn ein anderes Schiff konnte es nicht seyn – sich in die Brandung, die selbst in ihrem ruhigsten Zustande einem so leichten Kiel gefährlich war, muthwillig hineinwagte und blindlings, keines Bösen gewärtig, auf's Land lossteuerte. Auch die Bewegung an sich hatte etwas Ungewöhnliches, Geheimnißvolles. Das Fahrzeug zeigte gar keine Segeltücher, und dennoch verschwanden die luftigen hohen Spieren bald hinter einem Dickicht, das einen Erdknollen am Meeresrande überkräuselte.

Alida erwartete jeden Augenblick das Nothgeschrei von Seeleuten zu hören; als nun aber Minute nach Minute dahinfloß, ohne daß die Stille der Nacht von jenen Schreckenstönen unterbrochen wurde, so fielen ihr jene seeräuberischen Schiffe ein, von welchen es in den Gewässern der kleinen Antillen wimmelte, und die, wie es hieß, zuweilen sogar die kleineren und abgelegeneren Seecanäle des amerikanischen Continents befuhren und sich dort ausbesserten. Die Erzählungen von den Thaten, dem Charakter und dem Ende des berüchtigten Kidd waren damals noch ganz neu, und obgleich sie das Schicksal aller Volkserzählungen theilten, übertrieben und entstellt zu werden, so glaubten doch auch die Gebildeteren genug davon, um seinem Leben und Tode den Stempel des Seltsamen und Geheimnißvollen aufzudrücken. Bald wünschte sie den jungen Commandanten der Coquette wieder zurückrufen zu können, damit sie ihn von der Nähe des Feindes unterrichtete; bald schämte sie sich ihrer Furcht, überredete sich, daß solche mehr aus weiblicher Schwäche hervorgehe, als sich auf Wahrheit gründe, und daß das Ganze weiter nichts sey, als die gewöhnliche Fahrt eines Küstenschiffes, das, mit den Umgebungen vollkommen vertraut, eben so wenig selbst in Gefahr seyn, als sie Anderen bringen könne. Ihre Gedanken waren gerade mit diesem natürlichen und beruhigenden Schluß beschäftigt, als sie deutlich Jemand in den Pavillon eintreten hörte, nicht weit von der Thüre ihres Zimmers. Athemlos, mehr aus aufgeregter Einbildungskraft, als aus irgend einer bestimmten Furcht, welche die neue Störung in ihr hervorgerufen hätte, eilte sie vom Balkon hinweg und lauschte, ohne sich zu regen. Die Thür wurde wirklich, und zwar mit äußerster Behutsamkeit geöffnet, und Alida's erschrockenem Blick bot sich Anfangs nichts dar, als ein sich im Kreise drehender Raum mit der Gestalt eines drohenden, raubgierigen Freibeuters in dessen Mittelpunkt.

»Potz Nordlichter und Mondschein!« polterte Alderman Van Beverout – denn es war kein Anderer als der Onkel der reichen Erbin, dessen unerwarteter Besuch ihr so viel Schrecken verursachte – »Diese Sternguckerei und Verwandlung der Nacht in Tag wird noch Deine Schönheit zerstören, Nichte, und dann werden wir sehen, wie viele Patroons sich zu Männern melden! Ein glänzendes Auge und eine blühende Wange, darin besteht Dein Waarenmagazin, Mädchen, und die verschlaudert Beides, welche noch nicht zu Bett ist, wenn die Glocke Zehn geschlagen hat.«

»Ihre Disciplin würde gar manche Schöne der Mittel berauben, ihre Macht zu gebrauchen,« erwiederte das Mädchen, und lachte vergnügt, theils darüber, daß ihre Furcht sich als ungegründet erwies, theils über die väterliche Besorgtheit des Tadlers. »Ich habe mir sagen lassen, zehn Uhr sey für die Zauberkraft der europäischen Damen die rechte Hexenstunde.«

»Hat sich was zu hexen! Das Wort erinnert Einen an die verschmitzten Yankihs, eine Race, die den Lucifer selbst überlisten würde, wenn man sie gewähren ließe. Da will der Patroon schon wieder eine ganze Familie von diesen Spitzbuben dem ehrlichen Holländer auf seinem Gute zugesellen. Eben haben wir uns darüber herumgestritten, und endlich den Streit durch ein erlaubtes Entscheidungsmittel ausgeglichen.«

»Hoffentlich, theuerster Onkel, nicht durch die Entscheidung des Schwertes.«

»Potz Friede und Oelzweige, nein! Der Patroon von Kinderhook ist der letzte Mann in ganz Amerika, der von den Schwertstreichen Myndert Van Beverout's etwas zu befürchten hätte. Ich forderte den Jungen blos auf, einen schönen Aal, welchen die Schwarzen zu unserm Frühstück im Fluß gefangen hatten, festzuhalten, als Probe, ob er der Mann sey, der mit den schlüpfrigen Gesellen fertig werden könne. Beim Verdienst des friedliebenden Sankt Nicolas! die Aufgabe machte dem Sohn des alten Hendrick Van Staats nicht wenig zu schaffen! Der Bursch faßte Dir den Fisch fest, wie Dein Onkel einst einen holländischen Gilder; sein Vater nämlich, so erzählt die Sage, soll ihm als Kind einst ein solches Geldstück in die Hand gegeben haben, um an der Art, wie er es halten würde, zu sehen, ob die rechte Himmelsgabe der Sparsamkeit sich wohl noch auf die nächste Generation der Familie forterben würde, was that Dein Onkel! er hielt den Gilder mit dem Gebisse fest! Doch um wieder auf den Aal zu kommen; mir ward bange, denn der junge Oloff hat 'ne Faust wie eine Schraube, und ich dachte schon, wie nun die Rentrolle des Guts besteckt werden und neben den stattlichen Namen der Harmans und der Rips, der Corneliusse und der Dircks, einst die schmutzige Gesellschaft eines Peleg, eines »Fruchtbarkeit« Leider nöthigen uns die Sitten der Puritaner schon wieder zu Sprachhärten. Die Leserinnen des Conanchet haben vielleicht den Herrn Capitän »Zufriedenheit«, und die Leser das eigensinnige Mädchen, Jungfer »Glaube«, noch in gutem Andenken. In der vorliegenden Stelle nun spricht der alte Holländer von denselben Sektierern mit ihren alttestamentlichen Namen. D. U. und ihres Gleichen stehen sollte: aber just, als der Patroon glaubte; die Wasserbestie beim Hals fest genug zu halten, gab sie einen schnellen Druck, und husch! war sie ihm durch die Finger. Potz Flecke und Schlupflöcher! in der Probe steckt eben so viel Weisheit als Witz!«

»Mir wenigstens scheint es weiser, da die Vorsehung einmal alle Kolonien unter eine und dieselbe Regierung gebracht hat, solche Vorurtheile aufzugeben. Wir sind ein Volk, das von verschiedenen Nationen abstammt, daher sollten wir uns bestreben, die schöne Gesinnung und die Kenntnisse einer jeden zu bewahren, aber die Schwächen aller in Vergessenheit zu begraben.«

»Wacker gesprochen, wie das ächte Kind eines Hugenotten! Aber den Mann will ich sehen, der mir vorwerfen kann, daß ich Vorurtheile hätte. Ich lobe mir einen muntern Handel und eine fertige Rechnengabe. Wenn es gilt, schnell herauszukriegen, wie die Billanz stehe, so zeige mir in ganz Neu-England denjenigen, der's mit einem Gewissen – ich mag ihn nur nicht nennen – aufnimmt, und ich suche meine Mappe hervor, und gehe wieder in die Schule. Ich hab's gern, wenn Einer auf das Seinige bedacht ist, so bin ich nun einmal; aber schon gewöhnliche Ehrlichkeit lehrt uns, daß die Menschen übereinkommen sollten, eine gewisse Grenze anzunehmen, über welche hinaus Keiner gehen dürfte, dem an seinem Ruf und Charakter was gelegen wäre.«

»Unter welcher Grenze denn Jeder verstehen würde, daß er so weit gehen dürfe, als seine Mittel reichen; ein vortreffliches Mittel, es dem Stumpfsinnigen möglich zu machen, mit dem Spekulativen zu wetteifern. Ich fürchte, ich fürchte, Onkel, man sollte an jeder Küste, die von Kauffartheischiffen besucht wird, einen Aal halten.«

»La, la, la, Du bist schläfrig, Kind, und da ist Dir nichts recht; es ist Zeit, daß Du zu Bett gehest; morgen wollen wir sehen, ob der junge Gutsbesitzer Oloff mehr Glück bei Dir macht, als bei dem Prototyp der Jonathans. Oho, lösch' diese blendenden Kerzen hübsch aus, und nimm ein bescheidenes Lämpchen mit in's Schlafgemach. Hellglänzende Fenster so nahe an Mitternacht bringen ein Haus in schlechten Ruf bei den Nachbarn.«

»Am Ende bekommen die Aale eine schlechtere Meinung von unserer Eingezogenheit,« erwiederte Alida lachend, »sonst wüßte ich wenig Wesen in der Nähe, die sich über unsere Verschwendung auslassen könnten.«

»Man kann nicht wissen, man kann nicht wissen,« flüsterte der Alderman, indem er die beiden großen Lichter seiner Mündel löschte und statt ihrer seinen kleinen Handleuchter hinstellte. »Dieses helle Licht hält Einen nur wach; nimm Du also lieber mein kleines Wachskerzchen hier, es ist so gut wie ein Schlaftränklein. Küß' mich, Muthwillige, und laß Deine Rouleaux sorgfältig herunter, denn die Neger werden bald aufstehen, um die Pirogue zu beladen, damit sie mit der Fluth nach der Stadt abgehen können. Der Lärm der geschwätzigen Schufte könnte Dich sonst aufwecken.«

»Wahrlich, man sollte meinen, hier gäb' es wenig, was so thätigen Verkehr zu Schiffe veranlassen könnte,« versetzte Alida, indem sie, den Befehlen des Onkels gehorchend, seine Wange küßte. »Das muß ein starker Trieb zum Handel seyn, der in einer solchen Einöde, wie diese, Stoff zu seiner Befriedigung findet.«

»Errathen, Kind, errathen. Ich weiß schon, Dein Vater, Monsieur de Barbérie, hatte seine eigenen Ansichten über den Gegenstand, und die hast Du ohne Zweifel größtentheils von ihm geerbt. Und bei alle dem, selbst der Hugenotte, als er aus seinem Schlosse und seinen lehmigen normännischen Ländereien vertrieben wurde, muß doch das Rechnungsführen auch nicht so ganz gegen seinen Geschmack gefunden haben, zumal wenn die Bilanz zu seinen Gunsten stand. Potz Charakter und Nationen! im Grunde genommen, find' ich wenig Unterschied, mit welcher Waare man Handel treibe; es ist am Ende ganz gleich, ob man mit einem Mohawk um seinen Pelzvorrath feilscht, oder mit einem französischen Seigneur um seine Ländereien. Der Eine wie der Andere bemüht sich, den Gewinn auf seine Seite zu bringen, und den Verlust auf die des Nachbars. Also, schlaf' wohl, Mädchen, und bedenke, daß Heirathen weiter nichts ist, als eine Haupt-Handels-Speculation, von deren Gelingen die Totalsumme weiblichen Glückes abhängt; drum, noch einmal, gute Nacht.«

Ehrerbietig gab die schöne Barbérie ihrem Onkel das Geleit bis an den Eingang des Pavillons, schloß die Thüre hinter sich ab, und fand dann für gut, das Flämmchen der kleinen Lampe, die er ihr zurückgelassen, und die ihr das Zimmer nicht hell genug machte, mit dem Docht der zwei von ihm ausgelöschten Kerzen in Berührung zu bringen. Es brannten nun drei Lichter, diese stellte sie neben einander auf den Tisch, und trat dann wieder an's Fenster. Der unerwartete Besuch des Onkels hatte mehrere Minuten hinweggenommen, und sie eilte daher, ob sie vielleicht erforschen könne, was es mit den seltsamen Bewegungen des geheimnißvollen Schiffes für eine nähere Bewandtniß habe.

Immer noch dieselbe tiefe Stille rund um die Villa, immer noch dasselbe schwerfällige Steigen und Fallen der Meereswogen. Alida blickte umher, Ludlow's Boot zu erspähen, allein ihr Auge schweifte vergebens über den hellen, breiten Meeresstrich, der sie von dem Kreuzer trennte. Wohl sah sie in den Strahlen des Mondes das Wasser abwechselnd hell und dunkel betupft, aber kein Fleck darunter bot einige Aehnlichkeit mit dem Schatten einer Barke dar. Die Laterne glänzte noch an der Spitze des Schiffes. Zwar ihr däuchte in der That einmal, als höre sie Ruderschlag, und zwar viel näher noch als vorher: wie sehr sie aber auch das scharfe Auge anstrengte, so blieb sie über den Ort des Boots im Dunkeln. Doch alle diese Zweifel verdrängte jetzt ein Schreck, der aus einer neuen und ganz verschiedenen Quelle kam.

Daß ein Canal bestehe, der den Ocean mit dem Wasser der Runden Bucht in Verbindung setze, war wenig anderen, außer denen bekannt, die ihre Beschäftigung häufig in die Nähe führte. Da die Durchfahrt bei weitem über die Hälfte des Jahres verstopft war, stets wechselte und selbst im besten Falle nur wenig Nutzen darbot, so blieb der Ort von den meisten Küstenschiffern unbeachtet. Selbst wenn der Canal offen stand, konnte man nie auf eine bestimmte Tiefe rechnen; herrschten eine oder zwei Wochen Windstille oder westliche Winde, so trocknete die Ebbe den Canal aus, und wehete einmal ein Sturm von Osten her, so ward das Bette gänzlich versandet. Kein Wunder also, wenn Alida's Erstaunen nicht ganz frei von abergläubischer Furcht war, als sie zu dieser Stunde, in solcher Umgebung ein Schiff aus dem Dickicht am äußern Rande der Runden Bucht bis in die Mitte derselben hereingleiten sah, gleichsam wie von selbst, ohne Hülfe von Segel oder Riemen.

Das sonderbare, unheimliche Fahrzeug war eine Brigantine von gemischter Bauart, welches die Vortheile eines Schiffs von langen Raaen und die eines von vorne nach hinten getakelten in sich vereinte. Selbst auf den ältesten und klassischsten Meeren der andern Hemisphäre sieht man viele solcher Fahrzeuge, doch nirgends von so schöner Form und symmetrischer Ausrüstung, als an den Küsten unserer Union. Am vordersten und kleinsten der Masten war die Maschinerie die gewöhnliche verwickelte, mit Haupt- und Unterspieren, mit den noch mehr ausgestreckten und doch leicht regierbaren Raaen, mit den mannigfaltigen, nach jeder Aenderung und Laune der Winde geformten und eingerichteten Segeln; dagegen stieg der hintere und größere Mast, gleich dem geraden Stamme einer Fichte aus dem Schiffsrumpfe in die Höhe, mit klarem, unverwickeltem Tauwerk und einem einzigen ausgebreiteten Segel, das aber auch allein hinreichte, die Wassermaschine mit ungeheurer Schnelligkeit durch die Wogen zu treiben. Der Rumpf war niedrig, von anmuthigen Umrissen, schwarz wie ein Rabenfittig und so gespannt, daß er einem von den Meereswogen einhergetragenen Seevogel glich. Das Spierenwerk war von vielen dünnen, zarten Linien durchwebt, welche dazu dienten, vor den leichten Winden im Nothfall mehr Segeltuch zu entfalten; aber diese Schattirung der Maschine, durch welche ihre Zeichnung bei Tage so vortheilhaft gehoben wurde, war jetzt, im blasseren, ungewisseren Lichte des Mondstrahls kaum sichtbar. Kurz, die zwanglose Bewegung des Schiffes, das mit der Fluth in die Runde Bucht hineinglitt, verbunden mit der wunderbaren, feenähnlich-anmuthigen Gestalt desselben, machte, daß Alida im ersten Momente ihren Sinnen nicht traute, sondern wähnte, das schöne Gebilde schwebe blos vor ihrer Phantasie. Gleich den meisten Anderen, war auch ihr unbekannt, daß der Hohlweg sich zuweilen in einen Kanal verwandele; dies und die Umstände der Zeit und des Orts machten es leicht, den angenehmen Wahn einen Augenblick lang für Wahrheit zu halten.

Aber nur einen Augenblick lang. Die Brigantine wendete plötzlich ihren Lauf, glitt nach einer Stelle hin, wo ihr die Einbiegung an dem Ufer der Runden Bucht den meisten Schutz gegen Wind und Wogen, und vielleicht auch gegen neugierige Augen zu versprechen schien, und kam dort zum Stehen. Ein heftiges Rauschen der Wasserfläche, das selbst bis zur Villa herandrang, zerstreute Alida's Geträume, denn nun wußte sie, daß wirklich ein Anker in die Bai gefallen sey.

Nordamerika's Küsten hatten für Seeräuber so wenig Lockendes, daß ihre Bewohner ruhig in diesem Sicherheitgefühle lebten; dessenungeachtet kam der jungen Erbin jetzt der Gedanke, daß die einsame Lage der Villa die Habgier lüstern gemacht haben dürfte. Sowohl sie, als ihr Vormund standen im Rufe des Reichthums: konnte es daher nicht seyn, daß verzweifelte Menschen, denen sich vielleicht auf offener See kein Gegenstand zum Plündern darbot, hier landeten, um auf festem Lande Raub und Mord zu begehen? Auch ging die allgemeine Sage, daß die Flibustier in früheren Zeiten die Küste des benachbarten Eilandes zu besuchen pflegten, und schon damals fing man an, nach verborgenen Schätzen und der von den Seeräubern versteckten Beute zu graben – Versuche, die von Zeit zu Zeit, bis auf unsere Tage, wiederholt worden sind.

Es gibt Lagen, in welchen der Geist Dingen Glauben schenkt, die er im ungetrübten Zustande als abgeschmackt verwirft. In einer solchen Lage befand sich Alida jetzt; obgleich mit einem klaren, männlichen Verstande begabt, fühlte sie sich geneigt anzunehmen, daß jene Erzählungen, die sie bisher als Mährchen verspottete, am Ende doch wahr seyn könnten. Das Auge unverwandt auf das regungslose Schiff haltend, trat sie innerhalb des Fensters zurück, und unentschlossen, ob sie Lärm machen sollte oder nicht, hüllte sie sich in die Fenstervorhänge, im Wahn, daß man sie sonst, trotz der Ferne, erspähen könne. Kaum hatte sie sich auf diese Weise verborgen, als es laut im Gesträuche raschelte, der Tritt eines Fußes auf dem grünen Platze unter dem Fenster ward hörbar, und gleich darauf schwang sich jemand in den Balcon und sprang von da in die Mitte des Zimmers, beides mit solcher Behendigkeit, daß das Herannahen der Gestalt der schwebenden Bewegung eines übernatürlichen Wesens glich.


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