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Am nächsten Morgen herrschte Ruhe, bis auf schwaches Schießen im Norden, in der Richtung auf Los Hatos. Kapitän Mitchell hatte es von seinem Balkon aus besorgt mit angehört. Der Satz: »In meiner heiklen Lage, als der damals einzige Konsularagent im Hafen, war alles, Herr, alles begründeter Anlaß zur Sorge«, dieser Satz kehrte unweigerlich in dem ziemlich gleichbleibenden Bericht über die »Geschichtlichen Ereignisse« wieder, der während der nächsten Jahre vornehmen Fremden bei ihrem Besuch in Sulaco aufgetischt wurde. Gleich danach kam die Erwähnung der Würde und Neutralität der Flagge, die unter den gegebenen Umständen so schwierig zu bewahren gewesen wäre, »mittendrin in alldem, zwischen der Gesetzlosigkeit dieses schuftigen Piraten Sotillo und der etwas ordnungsmäßiger eingesetzten, doch kaum weniger grausamen Tyrannei Seiner Exzellenz Don Pedrito Monteros«. Kapitän Mitchell war nicht der Mann, sich über bloße Gefahr besonders zu verbreiten. Doch hob er hervor, es sei ein merkwürdiger Tag gewesen. An jenem Tag hatte er um die Dämmerung Nostromo gesehen, »meinen armen Burschen, den Seemann, den ich entdeckt und, ich darf wohl sagen, gemacht habe, Herr. Der Mann des berühmten Rittes nach Cayta, Herr. Ein geschichtliches Ereignis, Herr!«
Von der O. S. N. Gesellschaft als alter, treuer Diener geachtet, durfte Kapitän Mitchell in würdiger Muße an der Spitze des ungeheuer ausgedehnten Unternehmens das Ende seiner Dienstzeit abwarten. Der Aufschwung des Unternehmens mit der Unmenge von Beamten, einem Stadtkontor, dem alten Kontor am Hafen, der Teilung in verschiedene Zweige – Passagier-, Fracht-, Leichterdienst und so weiter – sicherte Kapitän Mitchell für seine letzten Jahre in dem wiederaufgebauten Sulaco, der Hauptstadt der Westlichen Republik, mehr freie Zeit zu. Die Eingeborenen mochten ihn gerne wegen seiner Gutmütigkeit und seines vollendeten Benehmens; selbstgefällig und arglos, seit langen Jahren als ein »Freund unseres Landes« bekannt, fühlte er sich als einer der bemerkenswerten Männer in der Stadt. In aller Morgenfrühe machte er seinen Rundgang über den Marktplatz, während der riesige Schatten des Higuerota noch über den Obst- und Blumenständen mit ihren glühend farbigen Warenmengen lag; die laufenden Geschäfte waren leicht zu erledigen; er war in allen Häusern willkommen, wurde von den Damen auf der Alameda begrüßt, hatte Zutritt zu allen Klubs, war gerne gesehener Gast der Casa Gould und führte so mit größter Bequemlichkeit und Würde das Leben eines verwöhnten alten Junggesellen und Stadtlieblings. An den Posttagen aber war er zeitig früh im Hafenkontor, hatte sein eigenes Gig bereit, mit einer schneidigen Mannschaft in Weiß und Blau, um sofort hinauszufahren und an Bord des Postdampfers zu gehen, sobald sich der nur in der Hafeneinfahrt zeigte.
Dann führte er wohl einen bevorzugten Fahrgast, den er in seinem eigenen Boot an Land gebracht hatte, ins Hafenkontor und bat ihn, einen Augenblick Platz zu nehmen, bis er selbst einige Schriftstücke unterzeichnet hätte. Und Kapitän Mitchell setzte sich an seinen Schreibtisch und redete gastfreundlich weiter.
»Es ist nicht viel Zeit, wenn Sie alles in einem Tag sehen wollen. Wir ziehen gleich los. Wir können im Amarilla-Klub zu Mittag essen – obwohl ich ja auch dem Anglo-American angehöre – Bergingenieure und Geschäftsleute, Sie verstehen schon – und dem Mirliflores natürlich auch, einem neuen Klub – Engländer, Franzosen, Italiener, allerlei – lebenslustige junge Menschen größtenteils, die einem alten Einwohner eine Aufmerksamkeit erweisen wollen, Herr. Aber wir wollen im Amarilla essen. Wird Sie interessieren, denke ich. Richtig Lokalfarbe. Leute aus den ersten Familien. Der Präsident der Westlichen Republik ist auch Mitglied, Herr. Im Innenhof ein feiner alter Bischof mit gebrochener Nase. Als Skulptur bemerkenswert, glaube ich. Cavaliere Parrochetti – Sie kennen doch Parrochetti, den berühmten italienischen Bildhauer – hat hier zwei Jahre gearbeitet – schätzte unseren alten Bischof sehr hoch. Da! Nun stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«
Stolz auf seine Landeskenntnis, durchdrungen von der historischen Bedeutung der Männer, Ereignisse und Gebäude, sprach er großartig in abgehackten Sätzen, unter leichtem Schwenken seines kurzen, dicken Arms, und »lenkte die Aufmerksamkeit« seines bevorzugten Gefangenen auf alles und jedes.
»Es wird stark gebaut, wie Sie bemerken. Vor der Separation war es eine Ebene mit verbranntem Gras, in Staubwolken gehüllt, mit einem Ochsenweg zum Kai. Nichts weiter. Das ist das Hafentor. Malerisch, nicht wahr? Früher einmal hörte die Stadt hier auf. Nun kommen wir in die Calle de la Constitucion. Beachten Sie die alten spanischen Häuser. Mächtige Wände, wie? Ich stelle mir vor, das alles ist heute noch so wie zur Zeit der Vizekönige, bis auf das Pflaster. Das ist jetzt aus Holzwürfeln. Hier die Sulaco-Nationalbank, mit Schilderhäuschen zu beiden Seiten des Tores. Auf der anderen Seite die Casa Avellanos; die Läden vor den Erdgeschoßfenstern geschlossen. Eine wunderbare Frau lebt hier – Fräulein Avellanos – die wunderschöne Antonia. Ein Charakter, Herr! Historische Frau! Gegenüber – Casa Gould. Vornehmes Tor. Jawohl, die Goulds von der ursprünglichen Gould-Konzession, die jetzt die ganze Welt kennt. Ich besitze siebzehn Tausend-Dollar-Aktien der Vereinigten San Tomé-Minen. Alle die kümmerlichen Ersparnisse meines Lebens, Herr. Und sie werden mir bis ans Ende meiner Tage ein gutes Auskommen sichern, wenn ich mich einmal zurückziehe. Bin noch billig dazugekommen, verstehen Sie. Don Carlos, guter Freund von mir. Siebzehn Aktien – richtig ein kleines Vermögen, das man damit hinterlassen kann. Ich habe eine Nichte – hat einen Pfarrer geheiratet – ausgezeichneter Mensch, hat eine kleine Pfarre in Sussex; endlos Kinder. Ich selbst war nie verheiratet. Ein Seemann sollte Selbstverleugnung üben. Unter ebendiesem Torbogen, Herr, stand ich mit ein paar jungen Ingenieuren, bereit, dieses Haus zu verteidigen, wo wir soviel Güte und Gastfreundschaft genossen hatten, und sah den ersten und letzten Angriff von Pedritos Reitern auf Barrios' Truppen an, die eben das Hafentor genommen hatten. Sie konnten den neuen Gewehren nicht standhalten, die der arme Decoud herübergebracht hatte. Es war ein mörderisches Feuer. In einem Augenblick war die Straße versperrt mit toten Menschen und Pferden. Sie griffen kein zweites Mal an.«
Und den ganzen Tag über sprach Kapitän Mitchell so weiter zu seinem mehr oder minder willigen Opfer.
»Die Plaza. Ich nenne sie großartig. Doppelte Grundfläche wie Trafalgar Square.«
Von der Mitte her, im blendenden Sonnenschein, wies er auf die einzelnen Gebäude:
»Die Intendancia, jetzt Palast des Präsidenten – Cabildo, wo das Unterhaus des Parlamentes sitzt. Sehen Sie die neuen Häuser dort drüben an der Plaza? Die Kompanie Anzani, großes Warenhaus, wie diese Genossenschaftsdinger bei uns daheim. Der alte Anzani wurde vor seinem großen Kassenschrank von den Nationalgarden ermordet. Für ebendieses Verbrechen wurde der Abgeordnete Gamacho, der Kommandant der Nationalen, ein blutdürstiges, rohes Vieh, öffentlich durch Garrotte hingerichtet, auf den Spruch eines Kriegsgerichtes, das Barrios angeordnet hatte. Anzanis Neffen wandelten das Geschäft in eine Gesellschaft um. Diese ganze Seite der Plaza ist niedergebrannt worden; hatte früher Arkaden. Ein furchtbarer Brand, bei dessen Licht ich die letzten Kämpfe mit ansah. Die Llaneros flohen, die Nationalen warfen ihre Waffen weg, und die Bergleute von San Tomé, lauter Indianer von der Sierra, strömten wie ein Wildbach herbei, zum Klang der Sackpfeifen und Zimbeln, mit flatternden grünen Fahnen. Eine wilde Menge von Männern in weißen Ponchos und grünen Hüten, zu Fuß, auf Maultieren und Eseln. So ein Bild, Herr, wird nie wieder zu sehen sein. Die Bergleute, Herr, waren in die Stadt marschiert, Don Pépé auf seinem schwarzen Pferd an der Spitze, und die ganzen Weiber in der Nachhut, auf Eseln – kreischten Ermutigung, Herr, und schlugen Tamburine. Ich erinnere mich noch, daß eines der Weiber einen grünen Papagei auf der Schulter hatte, der ruhig dasaß wie aus Stein. Sie hatten eben ihren Señor Administrador gerettet; denn Barrios, wenn er auch den Angriff sofort, noch bei Nacht, angesetzt hatte, wäre doch zu spät gekommen. Auf Pedritos Befehl war Don Carlos hinausgeführt worden, um erschossen zu werden – wie sein Onkel vor vielen Jahren –, und dann, wie Barrios später sagte, wäre ›Sulaco keinen Kampf wert gewesen‹. Sulaco ohne die Gould-Konzession war nichts; und über das ganze Gebirge waren viele Tonnen Dynamit verteilt, mit fertigen Zündern, und ein alter Priester, Vater Romàn, stand dabei, um die San Tomé-Mine bei der ersten Kunde von einem Fehlschlag zu vernichten. Don Carlos hatte sich entschlossen, sie nicht hinter sich zu lassen, und er hatte auch die rechten Leute, um es durchzuführen.«
So pflegte Kapitän Mitchell mitten auf der Plaza zu reden und hielt dabei einen weißen, grüngefütterten Sonnenschirm über seinen Kopf; im Innern der Kathedrale aber, in dem trüben Licht und der leise von Weihrauch durchzogenen, kühlen Luft, bekam seine Stimme feierlichen Nachdruck; da und dort kniete wohl eine weibliche Gestalt, schwarz oder ganz weiß gekleidet, einen Schleier über dem Kopf.
»Hier«, sagte er und deutete auf eine Nische in der Wand des dämmrigen Hauptschiffes, »hier sehen Sie die Büste von Don José Avellanos, ›des Patrioten und Staatsmannes‹, wie die Inschrift besagt, des ›Ministers an den Höfen von England, Spanien und so weiter und so weiter, gestorben in den Wäldern von Los Hatos, beim Morgenrot der neuen Ära, nachdem er sich in lebenslangem Kampfe für Recht und Gerechtigkeit verbraucht hatte‹. Sehr ähnlich, die Büste. Das Werk Parrochettis, nach ein paar alten Photographien und einer Bleistiftskizze von Frau Gould. Ich war gut bekannt mit diesem vornehmen Spanisch-Amerikaner der alten Schule, einem echten Hidalgo, den jeder liebte, der ihn kannte. Das Marmormedaillon in der Wand, im alten Stil, mit der verhüllten Frauengestalt, die, die Hände leicht im Schoß gefaltet, dasitzt, ist dem Gedächtnis des unglückseligen jungen Gentlemans geweiht, der in jener Schicksalsnacht mit Nostromo hinaussegelte, Herr. Sehen Sie: ›Dem Andenken von Martin Decoud seine Braut Antonia Avellanos.‹ Offen, schlicht, vornehm. Da haben Sie die Dame, Herr, wie sie ist. Eine außergewöhnliche Frau. Alle, die meinten, sie würde sich der Verzweiflung überlassen, haben sich geirrt, Herr. Sie wurde von manchen Seiten getadelt, weil sie nicht den Schleier genommen hat. Man erwartete es von ihr. Aber Doña Antonia ist nicht aus dem Holz, aus dem man Nonnen macht. Bischof Corbelàn, ihr Onkel, lebt mit ihr in dem Stadthause der Corbelàns. Er ist ein sehr kampflustiger Priester, der der Regierung unaufhörlich wegen der alten Kirchengüter und Klöster in den Ohren liegt. Ich glaube, sie halten in Rom große Stücke auf ihn. Nun wollen wir in den Amarilla-Klub gehen, gerade hier über die Plaza weg, um etwas zu essen.«
Sofort nach Verlassen der Kathedrale, noch oben auf der gewaltigen Treppe, erhob Mitchell wieder großartig die Stimme, und sein Arm fand die weiten Gebärden wieder.
»›Porvenir‹, dort drüben im ersten Stock, über den Schaufenstern aus französischem Spiegelglas; unsere größte Tageszeitung. Konservativ, oder ich sollte eher sagen: parlamentarisch. Wir haben hier eine parlamentarische Partei, an deren Spitze der augenblickliche Staatspräsident steht, Don Juste Lopez. Ein sehr kluger Mann, finde ich. Erstklassiger Kopf, Herr. Die Demokraten, Oppositionspartei, setzen sich, wie ich leider sagen muß, hauptsächlich aus diesen sozialistischen Italienern zusammen, mit ihren Geheimbünden, Camorras und so weiter. Es sind massenhaft Italiener hier auf den Ländereien der Bahn angesiedelt, entlassene Matrosen, Mechaniker und so weiter, die ganze Strecke entlang. Es gibt ganze italienische Dörfer im Campo. Und auch die Eingeborenen werden zu diesen Ansichten bekehrt . . . American-Bar? Jawohl, und dort drüben können Sie noch eine sehen. Dort verkehren hauptsächlich Neuyorker . . . Da sind wir beim Amarilla-Klub. Beachten Sie den Bischof am Fuß der Treppe, rechts, wenn wir hineinkommen.«
Dann begann das Mahl, ging langsam und üppig seinen Gang an einem kleinen Tisch in der Galerie; Kapitän Mitchell nickte, verbeugte sich, stand auf, um kurz mit verschiedenen Beamten in schwarzen Gehröcken zu sprechen, mit Kaufleuten im Cut, mit Offizieren in Uniform, mit älteren Caballeros aus dem Campo – blassen, kleinen, nervösen Männern und fetten, gelassenen, dunkelhäutigen Männern – mit Europäern oder Nordamerikanern von bedeutender Stellung, deren Hautfarbe inmitten der in der Mehrzahl dunklen Gesichter und der schwarzen, glitzernden Augen auffallend weiß wirkte.
Endlich legte sich Kapitän Mitchell in den Stuhl zurück, warf befriedigte Blicke in die Runde und reichte eine Kiste mit dicken Zigarren über den Tisch.
»Versuchen Sie das Kraut da zu Ihrem Kaffee. Landtabak. Den schwarzen Kaffee, den Sie im Amarilla-Klub bekommen, Herr, finden Sie nirgends sonst in der Welt. Wir bekommen die Bohnen von einer berühmten Caféteria in den Vorbergen, deren Besitzer jedes Jahr an die Mitglieder drei Säcke schickt, zur Erinnerung an den Kampf gegen Gamachos Nationale, der von den Caballeros von ebendiesen Fenstern aus geführt wurde. Der Herr war damals in der Stadt und nahm daran teil, Herr, bis zum bitteren Ende. Der Kaffee kommt auf drei Maultieren an – nicht auf die gewöhnliche Art, mit der Bahn; keine Angst! – bis hierher in den Hof, von berittenen Peons geleitet, unter dem Befehl des Mayorals des Gutes, der gestiefelt und gespornt heraufkommt und die Sendung unserem Ausschuß mit den feierlichen Worten übergibt: ›Zum Gedächtnis der Gefallenen des 3. Mai.‹ Wir nennen ihn den Très-de-Mayo-Kaffee. [Im Druck heißt der Kaffee: Très-de-Mayo-Kaffee. Vielleicht ein Irrtum des Setzers wegen französisch « très »? »Drei« heißt auf Spanisch meines Wissens »tres«, ohne Akzent] Versuchen Sie ihn.«
Und dann führte Kapitän Mitchell mit einem Ausdruck, als schickte er sich an, einer Predigt in der Kirche zu lauschen, die dünne Tasse an die Lippen, and der Nektar wurde in gemächlichem Schweigen und in einer Wolke von Zigarrenrauch bis zum letzten Tropfen geschlürft.
»Sehen Sie den Mann in Schwarz, der gerade hinausgeht«, hob dann Mitchell wieder an und lehnte sich eifrig vor. »Das ist der berühmte Hernandez, der Kriegsminister. Der Spezialkorrespondent der ›Times‹, der die packende Artikelreihe über die Westliche Republik schrieb und diese ›das Schatzhaus der Welt‹ nannte – der hat einen kurzen Artikel Hernandez und der Truppe gewidmet, die er aufgestellt hat, den berühmten Carabinieri vom Campo.«
Und Kapitän Mitchells Gast, neugierig gemacht, konnte einen Mann in langschößigem schwarzem Rock würdig hinausschreiten sehen, mit niedergeschlagenen Augenlidern in einem langen, gesammelten Gesicht, waagerechten, zusammengewachsenen Augenbrauen und spitzem Kopf, dessen graues Haar, am Scheitel gelichtet, an den Seiten sorgfältig niedergekämmt war und sich um Hals und Schultern ringelte. Das also war der berühmte Bandit, von dem Europa mit soviel Neugier gehört hatte. Er setzte einen hohen Sombrero mit weiter flacher Krempe auf; um sein rechtes Handgelenk war ein Rosenkranz mit Holzperlen gewunden. Und Kapitän Mitchell fuhr fort:
»Der Beschützer der Flüchtlinge von Sulaco vor der Wut Pedritos. Als Reitergeneral unter Barrios zeichnete er sich bei der Erstürmung von Tonoro aus, wo Señor Fuentes mit dem letzten Rest der Monteristen getötet wurde. Er ist der Freund und demütige Diener des Bischofs Corbelàn. Hört drei Messen im Tag. Ich wette, daß er in die Kathedrale eintreten wird, um vor dem Heimweg zur Siesta noch ein oder zwei Gebete zu sprechen.«
Er machte schweigend einige Züge aus seiner Zigarre. Dann setzte er seine bedeutendste Miene auf und sprach:
»Die spanische Rasse, Herr, ist reich an bemerkenswerten Charakteren in allen Schichten . . . Ich schlage vor, daß wir jetzt zu einem ruhigen Plausch ins Billardzimmer gehen, wo es kühl ist. Bis nach fünf Uhr ist niemand da. Ich könnte Ihnen Einzelheiten aus der Separatisten-Revolution erzählen, die Sie verblüffen würden. Wenn die größte Hitze vorüber ist, wollen wir einen Gang über die Alameda machen.«
Das Programm wickelte sich unaufhaltsam ab, wie unter einem Naturgesetz. Der Gang über die Alameda wurde in langsamen Schritten unternommen und von gewichtigen Bemerkungen begleitet.
»Die ganze große Welt von Sulaco ist da, Herr.« Kapitän Mitchell verbeugte sich nach rechts und links mit endloser Förmlichkeit; dann belebte er sich: »Doña Emilia, Frau Goulds Wagen. Sehen Sie. Immer weiße Maultiere. Die gütigste und anmutigste Dame, die je die Sonne beschienen hat. Eine große Stellung, Herr, eine große Stellung. Erste Dame von Sulaco – weit über der Frau des Präsidenten. Und verdient es auch.« Er nahm den Hut ab; dann wechselte er überlegt den Ton und fügte nachlässig hinzu, der Mann in Schwarz an ihrer Seite, mit hohem weißem Kragen und dem narbigen, griesgrämigen Gesicht, sei Doktor Monygham, Inspektor der staatlichen Krankenhäuser und Oberarzt der Vereinigten San Tomé-Minen. »Gehört zum Hause. Ist immer da. Kein Wunder. Die Goulds haben ihn gemacht. Sehr geschickter Mensch, alles, was Sie wollen, aber ich habe ihn nie gemocht. Auch sonst niemand. Ich erinnere mich noch, wie er in einem gewürfelten Hemd und in Indianersandalen durch die Straßen hinkte, mit einer Wassermelone unter dem Arm – seiner Mahlzeit für den ganzen Tag. Jetzt ist er ein großes Tier, Herr, und so boshaft wie nur je. Immerhin . . . Es ist nicht zu leugnen, daß er zu seiner Zeit seine Rolle sehr tüchtig gespielt hat. Er hat uns alle von diesem gräßlichen Alp Sotillo befreit, wobei ein etwas heiklerer Mensch vielleicht versagt hätte . . .«
Sein Arm ging hoch.
»Das Reiterstandbild, das auf dem Sockel dort stand, ist entfernt worden. Es war ein Anachronismus«, orakelte Kapitän Mitchell. »Man spricht davon, daß es durch eine Marmorsäule zur Erinnerung an die Separation ersetzt werden soll, mit Friedensengeln an den vier Ecken und einer Justitia aus Bronze mit der vergoldeten Waage obenauf. Cavaliere Parrochetti wurde aufgefordert, eine Zeichnung zu machen, die Sie unter Glas und Rahmen in der Sala des Rathauses sehen können. Unten in den Sockel sollen ringsum Namen eingemeißelt werden. Nun, dann könnten sie mit keinem besseren beginnen als mit dem Namen Nostromo. Er hat für die Separation soviel getan wie nur sonst jemand und«, fügte Kapitän Mitchell hinzu, »und hat weniger als viele andre davon gehabt – wenn man davon sprechen wollte.« Er ließ sich auf einer Steinbank unter einem Baum nieder und klappte einladend auf den Platz an seiner Seite. »Er hat zu Barrios die Briefe aus Sulaco getragen, die den General bestimmten, Cayta zeitweilig aufzugeben und uns hier auf dem Seewege zu Hilfe zu kommen. Glücklicherweise waren die Transportdampfer noch im Hafen. Herr, ich wußte nicht einmal, daß mein Capataz de Cargadores noch lebte. Ich hatte keine Ahnung. Doktor Monygham war es, der ihn zufällig im Zollamt traf, das eine oder zwei Stunden vorher von dem verdammten Sotillo geräumt worden war. Mir wurde nichts gesagt; nicht die kleinste Andeutung, nichts – als wäre ich des Vertrauens nicht wert. Monygham bereitete alles vor. Er ging in den Güterbahnhof und erwirkte Zutritt beim Chefingenieur, der sich, mehr den Goulds zuliebe als aus sonst einem Grunde, herbeiließ, eine Maschine mit Nostromo an Bord die Strecke entlangzuschicken, einhundertachtzig Meilen weit. Es war der einzige Weg, Nostromo aus der Stadt hinauszubringen. Im Lager der Bauabteilung, am Ende der Strecke, verschaffte er sich ein Pferd, Waffen, ein wenig Kleider, machte sich allein auf den wunderbaren Ritt – vierhundert Meilen in sechs Tagen, durch aufständische Gegenden – und schlich sich zum würdigen Abschluß durch die Monteristen-Linien vor Cayta. Die Geschichte dieses Rittes, Herr, würde ein sehr spannendes Buch abgeben. Er hatte unser aller Leben in der Tasche. Hingabe, Mut, Treue, Verstand reichten nicht aus. Natürlich war er völlig furchtlos und unbestechlich. Aber es brauchte einen Mann, der den Erfolg zu erzwingen wußte. Er war dieser Mann, Herr. Am fünften Mai, während ich tatsächlich im Hafenkontor meiner Gesellschaft wie gefangen war, hörte ich plötzlich vom Güterbahnhof, eine Viertelmeile weit weg, den Pfiff einer Maschine. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Ich war mit einem Satz auf dem Balkon und sah eine Lokomotive unter Volldampf aus dem Tor des offenen Bahnhofs auslaufen, in eine weiße Dampfwolke gehüllt, unter verrücktem Pfeifen, und dann gerade vor Violas Gasthaus fast zum Stillstand abbremsen. Ich konnte noch sehen, Herr, wie ein Mann – wer es war, konnte ich nicht erkennen – aus dem Albergo d'Italia Una heraussprang und in den Führerstand kletterte. Und dann, Herr, schien diese Maschine geradezu mit einem Satz anzufahren und war in einem Augenwinken fort. Wie Sie eine Kerze ausblasen würden, Herr! Es war ein erstklassiger Maschinist im Führerstand, Herr, kann ich Ihnen sagen. Sie wurden von den Nationalgarden in Rincon und noch einem Ort schwer beschossen. Zum Glück war die Strecke nicht aufgerissen worden. In vier Stunden erreichten sie das Baulager. Nostromo war auf den Weg gebracht . . . Den Rest wissen Sie. Sie brauchen nur um sich zu sehen. Hier auf dieser Alameda fahren Leute in ihren Kutschen herum oder sind überhaupt noch am Leben, weil ich vor Jahren einen entlaufenen italienischen Matrosen als Kaivorarbeiter angestellt habe. Einfach auf sein Gesicht hin. Das ist Tatsache. Sie kommen nicht darum herum, Herr. Am siebzehnten Mai, gerade zwölf Tage, nachdem ich den Mann aus der Casa Viola auf die Maschine klettern gesehen und mich gewundert hatte, was es bedeuten sollte – am siebzehnten Mai also liefen Barrios' Transportdampfer in diesen Hafen ein, und das »Schatzhaus der Welt«, wie der Mann der »Times« in seinem Buch Sulaco nennt, wurde unversehrt für die Zivilisation gerettet – für eine große Zukunft, Herr. Pedrito, von Hernandez im Westen und von den San Tomé-Bergleuten vom Landtor her bedrängt, konnte sich der Landung nicht widersetzen. Er hatte seit einer Woche Sotillo durch Boten auffordern lassen, sich ihm anzuschließen. Hätte Sotillo das getan, dann hätte es großes Gemetzel und Ächtungen gegeben, denen wohl kaum ein Mann oder eine Frau von Stellung entgangen wäre. Aber da kommt eben dieser Doktor Monygham ins Spiel. Sotillo klebte auf seinem Dampfer fest, blind und taub für alles, und überwachte das Dreggen nach dem Silber, das er im Hafen versenkt glaubte. Man sagt, er sei während der letzten drei Tage von Sinnen gewesen, habe geschäumt und getobt vor Enttäuschung, weil er nichts fand, sei auf Deck herumgerannt und habe den Booten mit den Dreggankern Flüche zugerufen, habe sie zurückbeordert und gleich darauf mit dem Fuß gestampft und gebrüllt: »Und doch ist es da! Ich sehe es, ich fühle es!«
Er schickte sich an, Doktor Monygham – den er an Bord hatte – am Ladebaum aufhängen zu lassen, als der erste von Barrios' Transportdampfern, eines unserer Schiffe noch dazu, hereindampfte, sich dicht längsseit legte und sofort ein Gewehrfeuer eröffnete, ohne vorher auch nur anzurufen. Es war die völligste Überrumpelung, die sich denken läßt, Herr. Sie waren zuerst zu entsetzt, um unter Deck zu rennen. Links und rechts fielen die Leute wie die Kegel. Es ist ein Wunder, daß der Doktor, der, schon mit dem Strick um den Hals, auf der Achterluke stand, nicht wie ein Sieb durchlöchert wurde. Er hat mir seither erzählt, daß er sich schon verloren gegeben hatte und aus ganzer Lungenkraft schrie: »Hißt die weiße Flagge! Hißt die weiße Flagge!« Plötzlich zog ein alter Major des Esmeralda-Regiments, der dabeistand, den Säbel und rannte ihn Sotillo mit dem Schrei: »Stirb, meineidiger Verräter!« glatt durch den Leib, knapp bevor er selbst mit einem Schuß durch den Kopf fiel.«
Kapitän Mitchell schwieg eine Zeitlang.
»Bei Gott, Herr! Ich könnte Ihnen stundenlang ein Garn spinnen. Aber es ist Zeit, daß wir uns nach Rincon auf den Weg machen. Es ginge nicht gut, daß Sie durch Sulaco gekommen wären und die Lichter der San Tomé-Mine nicht gesehen hätten – einen ganzen Berg im hellsten Glanz, wie ein erleuchteter Palast über dem dunklen Campo. Es ist ein sehr beliebter Ausflug . . . Aber lassen Sie sich noch eine kleine Geschichte erzählen, Herr; nur um Ihnen zu zeigen . . . Etwa vierzehn Tage später, als Barrios, zum Generalissimus ernannt, zur Verfolgung Pedritos nach Süden aufgebrochen war, als die vorläufige Junta, mit Don Juste Lopez an der Spitze, die neue Verfassung veröffentlicht hatte und Don Carlos Gould eben die Koffer packte, zu einer wichtigen Reise nach San Franzisko und Washington – die Vereinigten Staaten, Herr, waren die erste Großmacht, die die Westliche Republik anerkannte –, etwa vierzehn Tage später, sage ich, als wir eben zu fühlen begannen, daß uns die Köpfe fest wieder auf den Schultern saßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, da kam mich ein großer Kaufmann geschäftlich besuchen, der viel mit unserer Linie verschifft, und sagte gleich als erstes: »Sagen Sie, Kapitän Mitchell, ist dieser Mensch« – damit meinte er Nostromo – »noch der Capataz Ihrer Cargadores oder nicht?« – »Was ist los?« fragte ich. – »Nichts weiter. Wenn er es noch ist, dann macht es mir nichts aus; ich verschicke und empfange viel Waren mit Ihren Schiffen; aber ich habe ihn mehrere Tage auf dem Kai herumlungern sehen, und gerade jetzt hat er mich angehalten, so kalt, wie Sie sich's nur wünschen können, und eine Zigarre verlangt. Nun, sehen Sie, meine Zigarren sind keine billigen Glimmstengel, und ich kann sie mir nicht gar so leicht verschaffen.‹ – ›Ich hoffe, Sie haben sich angestrengt‹, sagte ich sehr höflich. – ›Nun ja. Aber es ist doch ein verdammter Unfug. Der Kerl bettelt ewig um Tabak.‹ – Herr, ich wandte die Augen ab und fragte dann: ›Waren Sie nicht einer der Gefangenen im Cabildo?‹ – ›Sie wissen gut, daß ich es war, und in Ketten noch dazu‹, sagte er. – ›Und sollten ein Lösegeld von fünfzehntausend Dollar bezahlen?‹ – Er wurde rot, Herr, weil es sich herumgesprochen hatte, daß er bei der Verhaftung in Ohnmacht gefallen war und sich dann vor Fuentes auf eine Weise aufgeführt hatte, daß sogar die Policianos, die ihn an seinen Haaren dahingeschleift hatten, lächeln mußten. ›Jawohl‹, sagte er ein wenig verlegen. ›Warum?‹ – ›Ah, nichts. Sie standen vor einem schönen Verlust‹, sage ich, ›selbst wenn es Ihnen nicht ans Leben gegangen wäre . . . Aber was kann ich für Sie tun?‹ – Er hat die Andeutung nicht einmal begriffen. Er nicht. Und da sehen Sie, wie die Welt lohnt.«
Er erhob sich ein wenig steif; und die Fahrt nach Rincon wurde nur von einer einzigen philosophischen Bemerkung des unerbittlichen Cicerone begleitet. Die Augen auf die Lichter der San Tomé-Mine gerichtet, die in der Nacht zwischen Himmel und Erde zu schweben schienen, meinte er:
»Eine große Macht, dies, im Guten und im Bösen, Herr. Eine große Macht.«
Und dann wurde im Mirliflores zu Abend gespeist. Die Küche war ausgezeichnet, und der Reisende behielt den Eindruck, daß es in Sulaco viele nette, tüchtige junge Leute gäbe, deren Gehälter offenbar zu hoch waren, und daß einige darunter, hauptsächlich Angelsachsen, es meisterhaft verstanden, den freundlichen Gastgeber »aufzuziehen«, wie man sagt.
Mit einer schnellen Fahrt zum Hafen hinunter, in einem zweirädrigen Wagen (Kapitän Mitchell nannte ihn ein Kabriolett) hinter einem flinken, mageren Maultier, das von dem Kutscher, offenbar einem Neapolitaner, unaufhörlich geschlagen wurde, schloß sich der Kreis beinahe, vor den erleuchteten Geschäftsräumen der O. S. N. Gesellschaft, die wegen des Dampfers so spät noch offen waren. Beinahe – aber nicht ganz.
»Zehn Uhr. Ihr Schiff wird nicht vor halb ein Uhr fahrtbereit sein, vielleicht noch später. Kommen Sie noch herein, auf einen Brandy mit Soda und eine letzte Zigarre.«
Und im Privatkontor des Generalinspektors hörte dann der bevorzugte Fahrgast der Ceres, Juno oder Pallas, betäubt und sozusagen geistig vernichtet durch das jähe Übermaß an Bildern, Leuten, Namen, Tatsachen und mißverstandenen verzwickten Erläuterungen, hörte also zu wie ein müdes Kind einem Märchen. Er hörte eine vertrauliche und durch ihre Würde überraschende Stimme, die ihm, wie aus einer andern Welt, sagte, daß hier, »in ebendiesem Hafen«, eine internationale Flottendemonstration stattgefunden und dem Costaguana-Sulaco-Krieg ein Ende gesetzt habe. Wie der Kreuzer der Vereinigten Staaten, Powbattan, als erster die Westliche Flagge salutiert habe – weiß, mit einem Lorbeerkranz rings um eine gelbe Amarillenblüte im Mittelfeld –, und wie General Montero, kaum einen Monat, nachdem er sich hatte zum Kaiser von Costaguana ausrufen lassen, von einem jungen Artillerieoffizier, dem Bruder seiner damaligen Geliebten (während einer feierlichen, öffentlichen Verteilung von Orden und Ehrenkreuzen), erschossen worden sei.
»Der niederträchtige Pedrito, Herr, floh aus dem Lande«, sagte die Stimme und fuhr fort: »Der Kapitän eines unserer Schiffe hat mir neulich erzählt, daß er Pedrito, den Guerillero, getroffen habe, in roten Pantoffeln und einer Samtkappe mit goldener Quaste – als Besitzer eines verrufenen Hauses in einem der südlichen Häfen.«
»Niederträchtiger Pedrito! Wer zum Teufel war das?« wunderte sich vielleicht der vornehme Zugvogel und hielt sich dabei mit entschlossen aufgerissenen Augen auf der Grenze zwischen Schlaf und Wachen, ein müdes, aber liebenswürdiges Lächeln um die Lippen, zwischen denen die achtzehnte oder zwanzigste Zigarre dieses denkwürdigen Tages hing.
»Er ist mir hier in diesem selben Raum erschienen, wie ein Gespenst, Herr.« (Kapitän Mitchell sprach von seinem Nostromo mit echtem Gefühl und einem Anflug selbstgefälligen Stolzes.) »Sie können sich vorstellen, Herr, was es auf mich für einen Eindruck machte. Er war natürlich mit Barrios auf dem Seeweg herübergekommen, und das erste, was er mir sagte, nachdem ich wieder imstande war, ihm zuzuhören, war, daß er das Boot des Leichters, im Golf treibend, aufgefischt habe. Er schien ganz erschüttert von dem Zufall. Es war ja auch ein sehr bemerkenswerter Zufall, wenn Sie bedenken, daß volle sechzehn Tage seit dem Untergang des Leichters verstrichen waren. Ich konnte sofort sehen, daß er ein andrer Mensch war. Er starrte auf die Wand, Herr, als wäre dort eine Spinne oder sonst etwas herumgelaufen. Der Verlust des Silbers nagte ihm am Herzen. Als allererstes fragte er mich, ob Doña Antonia schon von Decouds Tod gehört habe. Seine Stimme zitterte. Ich mußte ihm sagen, daß Doña Antonia noch nicht wieder in der Stadt war. Armes Mädchen! Und gerade, als ich mich anschickte, ihm tausend Fragen zu stellen, machte er sich mit einem plötzlichen ›Verzeihung, Señor!‹ davon. Ich sah ihn drei Tage lang nicht wieder. Ich hatte schrecklich viel zu tun, wissen Sie. Es scheint, daß er zur Stadt hinein und heraus gewandert ist und zwei Nächte lang in den Baracken der Eisenbahner geschlafen hat. Er schien völlig gleichgültig gegen alles, was vorging. Ich fragte ihn auf dem Kai: ›Wann werden Sie wieder anfangen, Nostromo? Es wird nun viel Arbeit für die Cargadores geben.‹
›Señor‹, sagt er und sieht mich dabei bedächtig forschend an, ›würde es Sie sehr überraschen, zu hören, daß ich gerade jetzt zu müde bin, um zu arbeiten? Und welche Arbeit könnte ich jetzt noch tun? Wie kann ich meinen Cargadores ins Gesicht sehen, nachdem ich einen Leichter verloren habe?‹
Ich bat ihn, nicht weiter an das Silber zu denken, und er lächelte. Ein Lächeln, das mir ins Herz schnitt, Herr. ›Es war kein Fehler‹, sagte ich ihm. ›Es war Schicksal. Etwas, das nicht zu vermeiden war.‹ – ›Si, si‹, sagte er und ging weg. Ich hielt es für das beste, ihn eine Weile sich selbst zu überlassen, damit er darüber wegkäme, Herr. Er hat tatsächlich Jahre gebraucht, um darüber wegzukommen. Ich war bei seiner Unterredung mit Don Carlos zugegen. Ich muß sagen, daß Gould eher kalt ist. Er mußte seine Gefühle straff im Zaum halten, da er es immer mit Dieben und Schuften zu tun hatte, in steter Gefahr völligen Verderbs für sich selbst und seine Frau, durch viele Jahre; und so ist es ihm zur zweiten Natur geworden. Sie sahen einander lange an. Don Carlos fragte in seiner ruhigen, zurückhaltenden Art, was er für ihn tun könne.
›Mein Name ist von einem Ende Sulacos bis zum anderen bekannt‹, sagte er, so ruhig wie der andre. ›Was könnten Sie mehr für mich tun?‹ Das war alles, was bei dieser Gelegenheit geschah. Später einmal kam übrigens ein sehr netter Küstenschoner zum Verkauf, und Frau Gould und ich steckten die Köpfe zusammen, kauften ihn und machten ihn Nostromo zum Geschenk. Das taten wir, aber er zahlte innerhalb der nächsten drei Jahre den ganzen Kaufpreis zurück. Das Geschäft blühte längs der ganzen Küste hier, Herr, überdies hatte der Mann tatsächlich bei allem Erfolg, ausgenommen das eine Mal, bei Rettung des Silbers. Auch Doña Antonia, noch ganz unter dem Eindruck ihrer fürchterlichen Erlebnisse in den Wäldern von Los Hatos, hatte eine Unterredung mit ihm gewünscht. Wünschte von Decoud zu hören: was sie gesagt, getan, was sie gedacht hätten, während jener langen Schicksalsnacht. Frau Gould sagte mir, sein Benehmen sei vollendet ruhig und teilnahmsvoll gewesen. Fräulein Avellanos sei erst in Tränen ausgebrochen, als er ihr Decouds Ausspruch wiedererzählte: sein Plan werde glorreichen Erfolg haben . . . Und es gibt ja keinen Zweifel, Herr, daß das eingetroffen ist. Es ist ein Erfolg.«
Nun war der Kreis daran, sich endgültig zu schließen, und während der bevorzugte Fahrgast, leise schauernd in der Vorfreude auf seine Kajüte, selbstvergessen fragte: »Was in aller Welt konnte wohl Decouds Plan gewesen sein?«, sagte Kapitän Mitchell: »Tut mir leid, daß wir so bald Abschied nehmen müssen. Ihre verständige Anteilnahme hat mir den heutigen Tag sehr angenehm gemacht. Ich werde Sie nun an Bord bringen. Sie haben einen Blick auf das ›Schatzhaus der Welt‹ getan. Ausgezeichneter Name, das.« Und die Stimme des Bootsführers an der Türe schloß den Kreis mit der Meldung, das Gig sei bereit.
Nostromo hatte tatsächlich das Boot des Leichters, das er bei Decoud auf der Großen Isabelle gelassen hatte, weit draußen im Golf leer treibend gefunden. Er befand sich damals auf der Brücke des ersten von Barrios' Transportschiffen, etwa eine Dampferstunde von Sulaco weg. Barrios, immer erfreut über jede kühne Tat und ein sicherer Beurteiler persönlichen Mutes, hatte für den Capataz große Vorliebe gefaßt. Während der Fahrt längs der Küste hielt der General Nostromo in seiner Nähe und sprach ihn häufig in der abgerissenen, polternden Art an, die bei ihm ein Zeichen hoher Gunst war.
Nostromo war der erste, dessen Augen weit voraus den kleinen dunklen Fleck wahrnahmen, der sich, allein neben den Formen der drei Isabellen, auf der glatten, leeren Wasserfläche des Golfs zeigte. Es gibt Augenblicke, in denen auch der kleinste Umstand nicht als nebensächlich außer acht gelassen werden darf; ein kleines Boot, so weit ab vom Lande, konnte eine Bedeutung haben, die herauszufinden wohl der Mühe wert war. Auf ein zustimmendes Nicken von Barrios verließ der Dampfer seinen Kurs und fuhr so nahe an die kleine Nußschale hin, bis sich feststellen ließ, daß sie unbemannt war. Es war ein gewöhnliches kleines Boot, das mit eingezogenen Rudern abgetrieben war. Nostromo aber, der seit Tagen unaufhörlich an Decoud gedacht, hatte längst zuvor mit großer Erregung das Beiboot des Leichters erkannt.
Es konnte keine Rede davon sein, anzuhalten, um das kleine Ding zu bergen. Das Leben und die Zukunft einer ganzen Stadt hingen von jeder Minute ab. Das führende Schiff, mit dem General an Bord, fiel wieder auf seinen alten Kurs ab. Dahinter drängten sich die andern Transportdampfer, die etwa über eine Meile zerstreut waren, wie beim Schluß eines Rennens, ganz schwarz und qualmend vor dem westlichen Himmel.
»Mi General«, klang Nostromos Stimme laut, doch sehr ruhig hinter einer Gruppe von Offizieren hervor, »ich möchte gerne das kleine Beiboot retten. Por Dios, ich kenne es. Es gehört meiner Gesellschaft.«
»Und por Dios«, polterte Barrios gutmütig, »du gehörst mir. Ich will dich zum Rittmeister machen, sobald wir wieder ein Pferd zu sehen bekommen.«
»Ich kann noch viel besser schwimmen als reiten, mi General«, rief Nostromo und drängte sich zur Reling vor, starre Entschlossenheit im Blick. »Lassen Sie mich . . .«
»Dich lassen? Wie eingebildet der Bursche ist«, spottete der General, ohne ihn auch nur anzusehen. »Ihn gehen lassen! Ha! Ha! Ha! Ha! Er möchte gern von mir hören, daß wir Sulaco nicht ohne ihn nehmen können! Ha! Ha! Ha! Würdest du gerne zu dem Boot schwimmen, mein Sohn?«
Ein lauter Aufschrei, der sich von einem Ende des Schiffes bis zum andern fortpflanzte, ließ ihn innehalten. Nostromo war über Bord gesprungen, und man sah seinen schwarzen Kopf, schon weit weg vom Schiff, auftauchen. Der General murmelte ein bestürztes: »Cielo! Ich armer Sünder!«, wie vom Donner gerührt. Doch zeigte ihm ein besorgter Blick, daß Nostromo mit größter Leichtigkeit schwamm; dann donnerte er furchtbar: »Nein! Nein! Wir werden nicht anhalten, um den unverschämten Kerl wieder an Bord zu holen. Laßt ihn ersaufen – den verrückten Capataz.«
Nichts außer offener Gewalt hätte Nostromo abhalten können, über Bord zu springen. Das leere Boot, das da geheimnisvoll, wie von einem unsichtbaren Gespenst gerudert, ihm entgegengekommen war, hatte wie ein Zeichen auf ihn gewirkt, wie eine Warnung aus dem Jenseits, wie eine rätselhafte Antwort auf den ständigen Gedanken an einen Schatz und eines Mannes Schicksal. Er wäre über Bord gesprungen, und hätte ihn auch in der halben Meile Wasser der sichere Tod erwartet. Die See war glatt wie ein Teich, und aus irgendeinem Grunde sind Haifische im Stillen Golf unbekannt, obwohl jenseits der Punta Mala die Küstengewässer von ihnen wimmeln.
Der Capataz faßte das Bootsheck und atmete schwer. Ein leichtes Schwächegefühl hatte ihn während des Schwimmens überkommen. Er hatte sich im Wasser der Stiefel und der Jacke entledigt. Nun hielt er sich eine Weile fest, um wieder Atem zu holen. In der Ferne hielten die Transportdampfer, jetzt mehr aufgeschlossen, gerade auf Sulaco zu, immer noch mit dem Anschein eines friedlichen Wettkampfes, eines Wassersports, einer Regatta; und der vereinte Rauch aus ihren Schornsteinen zog wie ein dünner, schwefeliger Nebelstreifen gerade über Nostromos Kopf weg. Sein Wagemut, seine Tatkraft hatten diese Schiffe auf See in Bewegung gesetzt, zur Rettung des Lebens und des Vermögens der Blancos, der Fronvögte des Volkes; zur Rettung der San Tomé-Mine, zur Rettung der Kinder.
Kraftvoll und geschickt schwang er sich über das Heck. Kein Zweifel, es war das Boot! Nicht der geringste Zweifel. Es war das Beiboot des Leichters Nummer drei – das Beiboot, das er bei Martin Decoud auf der Großen Isabelle gelassen hatte, um ihm eine Möglichkeit zur Rettung zu geben, falls vom Lande aus nichts für ihn getan werden könnte. Und nun war es ihm leer, unerklärlich, hierheraus entgegengekommen. Was war aus Decoud geworden? Der Capataz untersuchte genau. Er suchte nach einem Kratzer, einer Spur, einem Zeichen. Doch konnte er nichts weiter entdecken als einen braunen Fleck auf dem Dollbord neben der Ruderbank achtern. Er beugte den Kopf darüber und rieb hart mit dem Finger. Dann setzte er sich im Heck nieder, wie erstarrt, die Knie geschlossen und die Füße gekreuzt.
Triefend naß vom Kopf bis zu Fuß, mit glatt niederhängendem Haar und Bart, den glanzlosen Blick auf den Bootsboden gerichtet, sah der Capataz der Cargadores von Sulaco einer Wasserleiche gleich, die vom Grund aufgestiegen wäre, um in Muße in einem kleinen Boot die Sonnenuntergangsstunde zu versitzen. Die Erregung seines abenteuerlichen Ritts, die Erregung rechtzeitiger Rückkehr, der Vollbringung, des Erfolgs, all diese Erregungen hatten ihn verlassen, zugleich mit ihrem geheimen Mittelpunkt, dem Gedanken an den großen Schatz und den einzigen Mann, der von seinem Dasein wußte. Bis zum allerletzten Augenblick hatte er sich das Hirn mit der Frage zermartert, wie er wohl die Große Isabelle ohne Zeitverlust und unbemerkt würde aufsuchen können. Denn das Bedürfnis nach Geheimhaltung hatte sich so eng mit dem Schatz verbunden, daß er sogar Barrios gegenüber jede Andeutung über Decouds Dasein und das Versteck des Silbers auf der Insel unterdrückt hatte. Die Briefe, die er dem General überbracht, hatten allerdings den Verlust des Leichters kurz erwähnt, da dieser ja auf die Sachlage in Sulaco nicht ohne Einfluß war. Unter diesen Umständen hatte der einäugige Tigertöter, der von weitem die Schlacht witterte, keine Zeit damit verloren, ein Verhör mit dem Boten anzustellen. Tatsächlich war Barrios nach einem Gespräch mit Nostromo zu der Annahme gelangt, daß sowohl Martin Decoud wie die Silberbarren von San Tomé verloren wären; und Nostromo, nicht geradezu befragt, hatte geschwiegen, unter dem Eindruck eines unerklärlichen, verbitterten Mißtrauens. Mochte doch Don Martin selbst alles erzählen, dachte er sich.
Nun aber, da sich ihm das Mittel, die Große Isabelle zu erreichen, so früh und unverhofft geboten hatte, da war seine Erregung gewichen, so wie eine Seele sich aufschwingt und den starren Leib auf dieser Erde läßt, von der er nichts mehr weiß. Nostromo schien den Golf nicht zu kennen. Lange Zeit zuckten nicht einmal seine Augenlider über die gräßliche Leere seines Blicks. Dann kroch langsam, ohne daß er ein Glied gerührt, mit einem Muskel oder nur mit einer Wimper gezuckt hätte, ein belebter Ausdruck in das stille Gesicht. Tiefes Denken prägte sich in dem leeren Blick aus – als wäre eine irrende Seele auf der Lauer gelegen, hätte den unbelebten Körper entdeckt und ihn heimlich in Besitz genommen.
Der Capataz runzelte die Stirn. Und in der ungeheuren Stille der See, der Inseln und der Küste, der Wolkengebilde am Himmel und der Lichtstreifen auf dem Wasser gewann dieses Stirnrunzeln den Nachdruck einer machtvollen Gebärde. Nichts sonst rührte sich durch lange Zeit; dann schüttelte der Capataz den Kopf und überließ sich wieder der stillen Ruhe aller sichtbaren Dinge. Plötzlich griff er nach den Rudern und wendete das Beiboot mit einem Schlag auf die Große Isabelle zu. Bevor er aber zu rudern begann, beugte er sich nochmals über den braunen Fleck auf dem Dollbord.
»Ich kenne das Zeug«, murmelte er bedächtig nickend vor sich hin. »Das ist Blut.«
Er ruderte mit weitausgreifenden, stetigen Schlägen. Dann und wann sah er über die Schultern nach der Großen Isabelle, die seinem angstvollen Blick ihre niedere Klippe wie ein undurchdringliches Gesicht darbot. Endlich scharrte der Kiel auf dem Strand. Nostromo riß mit einem Schwung das Boot an Land, wandte sofort dem Sonnenuntergang den Rücken und rannte hastig in die Schlucht hinein; das Wasser des kleinen Baches rauschte und plätscherte bei jedem seiner Schritte auf, als rührten ihm die Füße des Mannes an die klare, helle Seele. Nostromo wollte keinen Augenblick des Tageslichts verlieren.
Ein Gemenge von Erde, Gras und geknicktem Buschwerk war sehr natürlich von oben über die Höhlung unter dem schrägen Baum niedergeratscht. Decoud hatte die Anweisung zur Bergung des Silbers befolgt und den Spaten ganz vernünftig gebraucht. Das halbe Lächeln von Zustimmung auf Nostromos Gesicht wich aber bald einer geringschätzigen Grimasse, als er den Spaten offen daliegen sah, wie in völliger Achtlosigkeit oder plötzlichem Schreck hingeworfen, ohne jede Rücksicht auf das Geheimnis. Ah! Die waren doch alle gleich in ihrer Narrheit, diese Hombres finos, die Gesetze, Regierungen und verrückte Aufgaben für das Volk erfanden.
Der Capataz nahm den Spaten auf und fühlte, sobald er den Griff in der Hand hielt, den plötzlichen Wunsch, einen Blick auf die Schatzkoffer aus Ochsenhaut zu tun. Mit wenigen Spatenstichen legte er einige Kanten und Ecken bloß; als er aber noch mehr Erde weggeräumt hatte, bemerkte er, daß einer der Koffer mit einem Messer aufgeschlitzt worden war.
Bei dieser Entdeckung stieß er einen leisen Schrei der Überraschung aus, ließ sich auf die Knie nieder und sah dabei in sinnlosem Schreck erst über die eine, dann über die andere Schulter zurück. Die steife Haut hatte sich wieder geschlossen, und er zögerte, bevor er die Hände durch den langen Schlitz schob und nach den Silberbarren tastete. Da waren sie. Einer, zwei, drei. Ja, vier fort. Weggenommen. Vier Barren. Aber von wem? Decoud? Niemand sonst. Und warum? Zu welchem Zweck? Aus welcher verrückten Laune? Mochte er es erklären. Vier Barren in einem Boot mit fortgenommen, und Blut!
Im Angesicht des breiten Golfs sank die Sonne klar und makellos rein in die Gewässer, im ernsten, unaufhaltsamen Mysterium einer Selbstaufopferung, die sich ferne von allen irdischen Augen vollzog, in der unendlichen Majestät schweigenden Friedens. Vier Barren fehlten! – Und Blut!
Der Capataz erhob sich langsam.
»Er kann sich ja auch nur die Hand zerschnitten haben«, murmelte er. »Aber dann . . .«
Er ließ sich auf den weichen Boden sinken, widerstandslos, als wäre er an den Schatz gekettet, und umspannte die hochgezogenen Beine mit beiden Händen, einen Ausdruck hoffnungsloser Ergebenheit im Gesicht, wie ein auf Wache gestellter Sklave. Einmal nur hob er mit einem Ruck den Kopf: das Rattern heftigen Infanteriefeuers war bis zu ihm gedrungen, als würden aus großer Höhe dürre Erbsen auf eine Trommel geschüttet. Nachdem er eine Weile gehorcht hatte, sagte er halblaut:
»Er wird nie zurückkommen, um eine Erklärung zu geben.«
Und wieder senkte er den Kopf. »Unmöglich!« murmelte er finster.
Das Gewehrfeuer war verhallt. Der Schein eines großen Brandes flammte rot über der Küste auf und warf seinen düsteren Glanz bis auf die drei Isabellen. Er sah nichts davon, obwohl er den Kopf hob.
»Aber dann werde ich ja auch nicht wissen können . . .«, sagte er langsam und verfiel darauf in stundenlanges, schweigendes Hinstarren.
Er sollte es nicht wissen dürfen. Auch sonst niemand. Wie ja zu erwarten gewesen war, wurde Don Martin Decouds Ende für niemand außer Nostromo ein Gegenstand des Nachdenkens. Wären die wahren Umstände bekanntgewesen, so wäre immer noch die Frage geblieben: Warum? Die Darstellung aber, er habe mit dem untergehenden Leichter den Tod gefunden, bot keinem Zweifel über den Beweggrund Anhalt.
Der junge Apostel der Separation war durch einen beklagenswerten Unfall umgekommen, im Kampfe für seine Idee. In Wahrheit aber war er an der Einsamkeit gestorben, der Feindin, die nur wenige auf Erden kennen und der zu widerstehen nur die Einfältigsten unter uns fähig sind. Der witzige Costaguanero der Boulevards war an der Einsamkeit gestorben und an dem Mangel eines Glaubens an sich und andere.
Aus irgendwelchen guten und triftigen Gründen, jenseits des Menschenverstandes, meiden die Seevögel des Golfs die Isabellen. Die Felsenspitze von Azuera ist ihr Bereich; dort hallen die felsigen Hochflächen und Klüfte von wildem Geschrei wider, als stritten die Vögel unaufhörlich über den sagenhaften Schatz.
Am Ende seines ersten Tages auf der Großen Isabelle wandte Decoud auf seinem Lager im spärlichen Grase im Schatten eines Baumes den Kopf und sagte sich:
»Ich habe den ganzen Tag nicht einmal einen Vogel gesehen.«
Er hatte auch den ganzen Tag über keinen Ton gehört, außer jetzt den seiner eigenen halblauten Stimme. Es war ein Tag völligen Schweigens gewesen – der erste, den er in seinem Leben gekannt hatte. Und er hatte kein Auge zugetan. Weder während all der durchwachten Nächte und der Tage voll Kampf, Plänemachen und Reden, wie während der letzten Nacht im Golf, voll Gefahr und körperlicher Anstrengung, hatte er auch nur für einen Augenblick Schlaf finden können. Und doch war er von Sonnenaufgang bis zum Untergang still ausgestreckt auf dem Boden gelegen, bald auf dem Rücken, bald auf dem Gesicht.
Er reckte sich und stieg langsam in die Höhle hinunter, um die Nacht neben dem Silber hinzubringen. Wenn Nostromo zurückkehrte – was ja jeden Augenblick der Fall sein konnte –, so würde er dort bestimmt zuerst nachsehen; und die Nacht war ja fraglos die geeignete Zeit, um eine Verbindung herzustellen. Er erinnerte sich mit tiefer Gleichgültigkeit, daß er noch keinen Bissen gegessen hatte, seit er auf der Insel alleingelassen worden war. Er verbrachte die Nacht mit offenen Augen, und als der Tag anbrach, aß er mit derselben Gleichgültigkeit ein wenig. Der blendende »junge Decoud«, der verwöhnte Liebling der Familie, der Liebhaber Antonias und Journalist von Sulaco, war nicht dazu geschaffen, mit sich allein fertig zu werden. Einsamkeit unter dem Zwang äußerer Umstände wird sehr schnell zu einem Gemütszustand, der für gespielte Spott- und Zweifelsucht keinen Platz läßt. Er nimmt den Sinn gefangen und verbannt das Denken in das Bereich völligen Unglaubens. Nachdem er drei Tage auf den Anblick eines Menschengesichtes gewartet, hatte sich Decoud dabei ertappt, daß er an seiner eigenen Persönlichkeit zu zweifeln begann. Die war in der Welt aus Wasser und Wolken, aus Naturkräften und Naturgebilden untergegangen. Einzig unsere Tätigkeit erhält uns in dem Wahn, daß wir im Aufbau der Dinge, dessen hilflose Teilchen wir sind, ein selbständiges Dasein führen. Decoud verlor allen Glauben an die Wirklichkeit seiner vergangenen oder künftigen Handlungen. Am fünften Tage sank ein tiefer Trübsinn fast greifbar auf ihn nieder. Er beschloß, sich keinesfalls den Leuten in Sulaco auszuliefern, die ihn bestürmt hatten, unwirklich und furchtbar, wie hartnäckige, schamlose Gespenster. Er sah sich selbst, wie er sich in ihrer Mitte schwach wehrte, während Antonia, riesengroß und schön wie eine allegorische Statue, mit Geringschätzung im Blick auf seine Schwäche niedersah.
Kein lebendes Wesen, kein Schimmer eines fernen Segels zeigte sich in seinem Gesichtskreis; und wie um dieser Einsamkeit zu entrinnen, versenkte er sich in seinen Trübsinn. Als erstes moralisches Gefühl während seiner Mannesjahre kam ihm undeutlich zum Bewußtsein, daß er sein Leben an Impulse vergeudet hatte, die ihm nun in der Erinnerung einen bitteren Nachgeschmack schufen. Dabei empfand er aber keine Reue. Was sollte er bereuen? Er hatte keine andere Tugend anerkannt als den Verstand, und hatte Leidenschaften zu Pflichten erhoben. Sowohl sein Verstand wie seine Leidenschaft aber versanken nun haltlos in der großen, ungebrochenen Einsamkeit dieses Wartens ohne Glauben. Schlaflosigkeit hatte ihm alle Willenskraft geraubt, denn er hatte in sieben Tagen keine sieben Stunden geschlafen. Seine Reue war die eines zweiflerischen Gemüts. Das Weltall stellte sich ihm als eine Aufeinanderfolge unverständlicher Bilder dar. Nostromo war tot. Alles war schmählich mißglückt. Er wagte nicht mehr, an Antonia zu denken. Sie hatte es nicht überlebt. Hatte sie es aber überlebt, so konnte er ihr nicht unter die Augen treten. Und jede Anstrengung schien sinnlos.
Am zehnten Tage, nach einer Nacht, in der er kein einziges Mal eingenickt war (der Gedanke hatte sich ihm aufgedrängt, daß Antonia doch wohl nie ein so unfaßbares Geschöpf wie ihn geliebt haben konnte), erschien ihm die Einsamkeit als eine große Leere und das Schweigen des Golfs wie eine dünne gespannte Saite, an der er mit beiden Händen hing, ohne Angst, ohne Überraschung, ohne jegliche Empfindung. Erst gegen Abend, während der etwas erträglicheren Kühle, begann er zu wünschen, daß die Saite reißen sollte. Er stellte sich vor, wie sie mit einem Knall, wie von einer Pistole, riß – einem scharfen, grellen Krach. Und das würde sein Ende sein. Er faßte diese Möglichkeit freudig ins Auge, denn er fürchtete die schlaflosen Nächte, während deren das Schweigen in Gestalt einer Saite, an der er mit beiden Händen hing, von sinnlosen Sätzen ins Schwingen kam, immer den gleichen, doch völlig unverständlichen: über Nostromo, Antonia, Barrios, mit Bruchstücken von Aufrufen zu einem höhnischen, sinnlosen Durcheinander gemengt. Bei Tage konnte er das Schweigen als eine ruhende Saite sehen, zum Zerreißen gespannt, an der sein Leben, sein nichtiges Leben, wie ein Gewicht hing.
»Ich möchte wohl wissen, ob ich sie reißen hören würde, bevor ich stürze«, fragte er sich.
Die Sonne war seit zwei Stunden über dem Horizont, als er sich erhob, elend, schmutzig, bleich, und mit rotgeränderten Augen um sich sah. Seine Glieder gehorchten ihm widerwillig, doch ohne Zittern, als wären sie aus Blei; und dieser Körperzustand gab seinen Bewegungen eine sichere, überlegte Würde. Es war, als vollbrächte er eine gottesdienstliche Handlung. Er stieg in die Schlucht hinunter; denn nur der Bann des Silbers war noch ungebrochen, außerhalb seiner eigenen Person, übriggeblieben. Er nahm den Gürtel mit dem Revolver auf, der dort lag, und schnallte ihn um. Die Saite des Schweigens durfte niemals auf der Insel reißen. Sie mußte ihn in die tiefe See fallen und versinken lassen, dachte er. Versinken! Er sah nach dem losen Erdreich, das den Schatz bedeckte. In die See! Er glich einem Traumwandler. Er ließ sich langsam auf die Knie nieder und wühlte geduldig mit den Fingern, bis er einen der Koffer freigelegt hatte. Ohne anzuhalten, als täte er eine längstgewohnte Arbeit, schlitzte er den Koffer auf und nahm vier Barren heraus, die er sich in die Taschen steckte. Er bedeckte den ausgegrabenen Koffer wieder und kam Schritt um Schritt aus der Höhle heraus. Hinter ihm schlugen die Büsche rauschend zusammen.
Am dritten Tage seiner Einsamkeit hatte er das Boot bis nahe zum Wasser geschoben, in der unbestimmten Absicht, in irgendeine Richtung hinauszurudern, hatte diese Absicht aber wieder aufgegeben, teils aus der leisen Hoffnung, Nostromo könnte wiederkehren, teils aus der Überzeugung von der Nutzlosigkeit jeder Anstrengung. Nun brauchte es nur einen leichten Stoß, um das Boot zu Wasser zu bringen. Er hatte nach dem ersten Tag täglich etwas gegessen und hatte noch ein wenig Kraft übrig. Er legte langsam die Ruder ein und fuhr von der Klippe der Großen Isabelle weg, die hinter ihm aufragte, heiß vom Sonnenschein wie von warmem Leben, über und über in Licht gebadet, wie im Strahlenglanz freudiger Hoffnung. Er ruderte gerade auf die sinkende Sonne zu. Als der Golf dunkel geworden, hielt er an und nahm die Ruder herein. Das hohle Klappern, mit dem sie auf den Bootsboden niederfielen, war das lauteste Geräusch, das er in seinem Leben gehört hatte. Es war wie eine Offenbarung. Es schien ihn aus der Ferne zurückzurufen. Gleich darauf ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Vielleicht könnte ich heute nacht schlafen?« Aber er glaubte nicht daran. Er glaubte an nichts und blieb auf der Ruderbank sitzen.
Das Dämmerlicht hinter der Gebirgskette hervor weckte einen Widerschein in seinen starren Augen. Nach einem klaren Tagesanbruch ging die Sonne strahlend über den Berggipfeln auf. Rings um das Boot flammte der weite Golf in blendendem Glanz; und in der Glorie dieser unbarmherzigen Einsamkeit erschien ihm das Schweigen wieder, straff gespannt, wie eine dunkle, dünne Saite.
Seine Augen sahen darauf hin, während er sich bedächtig von der Ruderbank auf das Dollbord setzte. Sie sahen darauf hin, während seine Hand nach dem Gürtel tastete, die Revolvertasche aufknöpfte, den Revolver herauszog, spannte, ihn an die Brust führte, den Drücker abzog und mit krampfhafter Anstrengung die noch rauchende Waffe durch die Luft schleuderte. Seine Augen sahen ihr nach, während er selbst vornüber stürzte, mit der Brust gegen das Dollbord lehnte und mit den Fingern der Rechten die Ruderbank umklammert hielt. Sie sahen . . .
»Es ist getan«, stammelte er, durch strömendes Blut. Sein letzter Gedanke war: »Wie mag wohl der Capataz gestorben sein?« Der Griff der Finger löste sich, und der Liebhaber von Antonia Avellanos rollte über Bord, ohne daß er in der Einsamkeit des stillen Golfs, dessen glitzernde Oberfläche der fallende Körper kaum aufrührte, das Reißen der Saite des Schweigens gehört hätte.
Ein Opfer der müden Ernüchterung (die allzu kühnen Verstand als letzter Lohn erwartet), verschwand der blendende Don Martin Decoud mit seiner Last an San Tomé-Silber spurlos inmitten der ungeheuren Gleichgültigkeit der Umwelt. Seine schlaflose, zusammengekauerte Gestalt war von der Seite des San Tomé-Silbers verschwunden; und eine Zeitlang mögen wohl die Geister des Guten und des Bösen, die neben jedem verborgenen Schatz lauern, gemeint haben, dieser eine sei von allen Menschen vergessen. Dann aber erschien nach wenigen Tagen eine andere Gestalt, kam mit langen Schritten langsam vom Sonnenuntergang her und saß die ganze lange Nacht reglos wachend in der engen schwarzen Höhle, fast in derselben Stellung, am gleichen Fleck, wie jener andre schlaflose Mann, der so still, in einem kleinen Boot, um Sonnenuntergang auf ewig davongezogen war. Und die Geister des Guten und des Bösen, die bei jedem verwunschenen Schatz lauern, verstanden nun, daß das Silber von San Tomé einen treuen, lebenslänglichen Sklaven gefunden hatte.
Der prachtliebende Capataz der Cargadores, ein Opfer der enttäuschten Eitelkeit, die der Lohn allzu kühner Taten ist, verbrachte in der müden Haltung eines gehetzten Flüchtlings eine lange Nacht der Schlaflosigkeit, so quälend wie nur eine, die Decoud, sein Gefährte in der verzweifeltsten Sache seines Lebens, je gekannt hatte. Erst eine Frau, dann ein Mann, beide in der letzten Not verlassen um des verfluchten Schatzes willen. Der war bezahlt mit einer verlorenen Seele und einem hingeschwundenen Leben. Auf die leere Öde des Grauens folgte ein Aufflammen des Stolzes. Es gab niemand in der Welt als Giambattista Fidanza, den Capataz der Cargadores, den unbestechlichen, treuen Nostromo, der einen solchen Preis hätte zahlen können.
Er hatte beschlossen, daß ihm nun nichts mehr sollte seinen Handel verderben dürfen. Nichts. Decoud war gestorben. Doch wie? Daß er tot war, darüber hatte Nostromo nicht den Schatten eines Zweifels. Aber vier Silberbarren? . . . Wozu? Gedachte er noch mehr davon zu holen – ein andermal?
Der Schatz begann seine geheime Kraft zu zeigen. Er trübte den klaren Verstand des Mannes, der seinen Preis gezahlt hatte. Nostromo war überzeugt von Decouds Tod. Die ganze Insel schien erfüllt von der geflüsterten Kunde. Tot. Fort. Und er ertappte sich dabei, wie er nach dem Rauschen der Büsche und dem klatschenden Waten im Bachbette horchte. Tot! Der Redner, der Novio der Doña Antonia!
Er saß, den Kopf auf die Knie gesenkt, unter dem bewölkten Morgenhimmel, dessen Licht das befreite Sulaco und den aschengrauen Golf beschien. »Ha!« murmelte er vor sich hin, »zu ihr wird er fliegen! Zu ihr wird er fliegen!«
Und vier Silberbarren! Hatte er sie aus Rachsucht genommen, um einen Zauber auf ihn zu werfen, wie die zornige Frau, die ihm Reue und Mißerfolg vorhergesagt und ihn doch angerufen hatte, um die Kinder zu retten? Nun, er hatte die Kinder gerettet. Er hatte den Zauberfluch der Armut und des Elends gebrochen. Er hatte es ganz allein vollbracht oder vielleicht unter Beistand des Teufels. Wer scherte sich darum? Er hatte es vollbracht, verraten, wie er war, und hatte zugleich die San Tomé-Mine gerettet, die ihm nun ein Ziel ungeheuren Hasses war, da sie mit der Macht ihres Reichtums die Tapferkeit, die Mühe und die Treue der Armen sich dienstbar machte, Herrin über Krieg und Frieden war, über die Arbeit in der Stadt, auf See und im Campo.
Die Sonne erhellte den Himmel hinter den Gipfeln der Kordillere. Der Capataz sah eine Zeitlang auf das lose Gemenge von Erdreich, Steinen und geknickten Büschen hinunter, das das Versteck des Silbers verbarg.
»Ich muß sehr langsam reich werden«, überlegte er laut.