Joseph Conrad
Nostromo
Joseph Conrad

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II

Kapitän Mitchell fragte sich das gleiche, während er am Kai auf und ab schritt. Es bestand ja immer noch der Zweifel, ob die Warnung des Telegraphisten von Esmeralda – eine unvollständige, unterbrochene Botschaft – richtig verstanden worden war. Doch so oder so, der gute Mann war entschlossen, wenn überhaupt, nicht vor Tagesanbruch zu Bett zu gehen. Er war der Überzeugung, Carlos Gould einen ungeheuerlichen Dienst erwiesen zu haben. Wenn er an das gerettete Silber dachte, dann rieb er sich in seiner schlichten Art vor Zufriedenheit die Hände. Er war stolz darauf, an diesem schneidigen Unternehmen beteiligt zu sein. Er hatte ja dem Gedanken erst brauchbare Form gegeben, durch den Hinweis auf die Möglichkeit, auf hoher See einen nordwärts gehenden Dampfer abzupassen. Und es war auch vorteilhaft für seine Gesellschaft, die eine wertvolle Fracht verloren hätte, wenn der Schatz an Land geblieben und beschlagnahmt worden wäre. Auch das Vergnügen, die Monteristen enttäuscht zu haben, war groß. Kapitän Mitchell, aus natürlicher Anlage und durch lange Jahre seines Berufes aus Befehlen gewöhnt, war kein Demokrat. Er ging sogar so weit, Geringschätzung für den Parlamentarismus an sich zu äußern. »Seine Exzellenz Don Vincente Ribiera«, pflegte er zu sagen, »den ich und mein Bursche da, Nostromo, die Ehre, Herr, und das Vergnügen hatten, von einem grausamen Tod zu erretten – er verließ sich zu sehr auf seinen Kongreß. Es war ein Fehler – ein ausgesprochener Fehler, Herr.«

Der arglose alte Seemann, Vorstand des O. S. N. Dienstes, meinte, die letzten drei Tage hätten alles an peinlichen Überraschungen erschöpft, was das politische Leben von Costaguana bergen könnte. Späterhin pflegte er einzugestehen, daß die nachfolgenden Ereignisse seine Einbildungskraft überstiegen hätten. Zunächst einmal blieb Sulaco (infolge der Beschlagnahme der Kabel und der Einstellung des Dampferdienstes) während voller vierzehn Tage von der übrigen Welt abgeschlossen, wie eine belagerte Stadt.

»Man hätte es nicht für möglich gehalten; aber es war so, Herr. Volle vierzehn Tage.«

Der Bericht über die außerordentlichen Dinge, die sich während jener Zeit ereigneten, und über die mächtigen Erregungen, die sie ihm verursachten, bekam durch seine großartige Erzählungsweise eine komische Eindringlichkeit. Er begann stets damit, seinen Zuhörern zu versichern, er selbst sei »mittendrin gewesen, von Anfang bis zum Ende«. Dann fing er zu beschreiben an, wie das Silber fortgebracht worden war, welche Angst er, sehr natürlich, ausgestanden habe, ob sein Bursche, der den Leichter führte, auch keine Fehler machen würde. Abgesehen von dem Verlust dieser großen Menge an Edelmetall, wäre auch das Leben des Señors Martin Decoud, eines angenehmen, reichen, gebildeten jungen Gentlemans, verloren gewesen, wäre er in die Hände seiner politischen Feinde gefallen. Kapitän Mitchell gab auch zu, er habe während seiner einsamen Nachtwache auf dem Kai bis zu einem gewissen Maße Sorge um die Zukunft des ganzen Landes empfunden.

»Ein Gefühl, Herr«, erklärte er, »völlig verständlich bei einem Mann, der wie ich für viele Freundlichkeiten von Seiten der besten Familien – Kaufleuten und anderen wohlhabenden, einheimischen Gentlemen – geziemenden Dank weiß; diese Leute, die wir eben erst vor den Ausschreitungen des Pöbels gerettet hatten, schienen mir damals in Gefahr, an Leib und Vermögen die Beute der einheimischen Soldateska zu werden, die ja, wie man weiß, während der Bürgerunruhen gegen die Einwohner mit bedauerlicher Roheit verfährt. Und dann, Herr, waren auch die Goulds da, für die beide, Mann und Frau, ich naturgemäß nur die wärmsten Gefühle hegen konnte, mit Rücksicht auf ihre Gastlichkeit und Güte. Ich bedachte auch die Gefahr für die Gentlemen des Amarilla-Klubs, die mich zum Ehrenmitglied gemacht und mich, einer wie der andere, mit der höflichsten Rücksicht behandelt hatten, in meiner Eigenschaft als Konsularagent wie auch als Oberinspektor eines bedeutenden Dampferdienstes. Fräulein Antonia Avellanos, die schönste und vollendetste junge Dame, mit der zu sprechen ich je den Vorzug hatte, lag mir auch nicht wenig am Herzen, wie ich zugebe. Ferner beschäftigte mich stark die Frage, inwieweit die Interessen meiner Gesellschaft durch den bevorstehenden Beamtenwechsel berührt werden würden. Kurz und gut, Herr, ich war sehr besorgt und sehr müde, wie Sie es sich ja wohl denken können, nach den aufregenden und denkwürdigen Ereignissen, an denen ich meinen kleinen Anteil gehabt hatte. Das Gebäude der Gesellschaft, in dem ich meine Wohnung habe, lag kaum fünf Minuten weit weg und lockte mich mit dem Gedanken an ein wenig Abendessen und meine Hängematte. (Ich ergebe mich der Nachtruhe immer in einer Hängematte, weil dies dem Klima am besten entspricht.) Doch aus irgendwelchen Gründen, Herr, obwohl ich ganz augenscheinlich durch mein Aufbleiben niemand etwas nützen konnte, fühlte ich mich doch außerstande, mich von dem Kai loszureißen, wo ich aus Müdigkeit mitunter bös strauchelte. Die Nacht war ungewöhnlich finster – die finsterste, an die ich mich in meinem Leben erinnere; ich begann also zu glauben, daß die Ankunft des Transports von Esmeralda unmöglich vor dem Morgen würde erfolgen können, wegen der schwierigen Navigation im Golf. Die Moskitos stachen wie die Teufel. Wir waren hier schwer geplagt von Moskitos, vor den letzten Verbesserungen; eine eigene Hafenrasse, Herr, berüchtigt wegen ihrer Blutgier. Sie standen wie eine Wolke um meinen Kopf, und ohne ihre Angriffe wäre ich wohl im Gehen eingeschlafen, denke ich, und schwer zu Fall gekommen. Ich rauchte eine Zigarre nach der anderen; mehr um mich davor zu schützen, lebendig aufgefressen zu werden, als aus wirklichem Vergnügen an dem Kraut. Dann, Herr, als ich vielleicht zum zwanzigsten Male meine Uhr dem glimmenden Ende näherte, um die Zeit abzulesen, und überrascht feststellte, daß noch zehn Minuten auf Mitternacht fehlten, da hörte ich den Schlag einer Schiffsschraube, ein Geräusch, das für die Ohren eines Seemanns in einer so stillen Nacht unverkennbar ist. Es war sehr schwach, denn sie näherten sich vorsichtig und mit halber Kraft, sowohl wegen der Dunkelheit, als auch um ihr Kommen nicht zu früh zu verraten. Eine sehr unnötige Vorsicht, denn ich glaube wirklich, daß ich in der ungeheuren Ausdehnung dieses Hafens als einzige lebende Seele unterwegs war. Sogar der übliche Stab von Wächtern und so weiter hatte wegen der Unruhen seit mehreren Nächten die verschiedenen Posten verlassen. Ich stand stockstill, nachdem ich meine Zigarre weggeworfen und ausgetreten hatte – welch letzterer Umstand, nehme ich an, für die Moskitos sehr erfreulich war, wenn ich nach dem Zustand meines Gesichts am nächsten Morgen urteilen will. Doch war dies nur ein kleines Mißgeschick im Vergleich zu der rohen Behandlung, deren Opfer ich von Sotillos Seite wurde. Etwas völlig Unbegreifliches, Herr, eher das Vorgehen eines Irren als die Handlungsweise eines vernünftigen Mannes, wenn er auch allen Sinn für Ehre und Schicklichkeit eingebüßt haben mochte. Aber Sotillo war wütend über den Fehlschlag seines Diebsplanes.«

Hierin hatte Kapitän Mitchell recht. Sotillo war tatsächlich wütend. Kapitän Mitchell war übrigens nicht sofort verhaftet worden; eine lebhafte Neugier hatte ihn dazu verführt, auf dem Kai zu bleiben (der fast einhundertdreißig Meter lang ist), um den ganzen Vorgang der Ausschiffung zu sehen oder vielmehr zu hören. Hinter dem Bahnwagen verborgen, der zur Herausschaffung des Silbers benutzt und später zum Landende des Kais zurückgerollt worden war, sah Kapitän Mitchell den kleinen Vortrupp vorbeiziehen und sich in verschiedenen Richtungen über die Ebene zerstreuen. Unterdessen wurden die Truppen gelandet und sofort in eine Kolonne formiert, deren Spitze sich allmählich bis auf wenige Meter an Kapitän Mitchell heranschob, so daß er sehen konnte, wie sie fast die ganze Breite des Kais versperrte. Dann hörte das leise Scharren, Murmeln, Klirren auf, und die ganze Masse blieb fast eine Stunde lang still und reglos stehen, die Rückkehr der Späher erwartend. An Land war nichts zu hören als das tiefe Gebell der Wachhunde im Güterbahnhof, dem das ferne Gekläff der Köter, der Plage der Vorstädte, antwortete. Eine einzelne Gruppe dunkler Gestalten stand an der Spitze der Kolonne.

Nun begann der Posten am Ende der Landungsbrücke halblaut einzelne Leute anzurufen, die sich von der Ebene her näherten. Diese von der Vorhut zurückgesandten Boten riefen ihren Kameraden kurze Sätze zu, rannten rasch vorbei und verloren sich in der großen reglosen Masse, um dem Stab ihre Meldung zu machen. Kapitän Mitchell merkte, daß seine Lage unangenehm und vielleicht gefährlich werden konnte, als plötzlich am Ende der Landungsbrücke ein Kommando erscholl, dann ein Hornruf, dem das Rasseln von Waffen und ein Gemurmel längs der ganzen Kolonne folgten. Ganz nahe befahl eine hastige Stimme: »Schiebt den Eisenbahnwagen da aus dem Weg!« Während nackte Füße vortrappten, um den Befehl auszuführen, trat Kapitän Mitchell ein oder zwei Schritte zurück; der Wagen, plötzlich von vielen Händen angeschoben, rollte eilig von ihm weg, die Schienen entlang, und bevor der Kapitän noch wußte, wie ihm geschah, sah er sich umringt und an den Armen und am Rockkragen gepackt.

»Wir haben einen Mann gefangen, der sich hier versteckt hatte, mi teniente!« rief einer seiner Bändiger.

»Haltet ihn hier beiseite, bis die Nachhut kommt«, antwortete die Stimme. Die ganze Kolonne strömte im Laufschritt an Kapitän Mitchell vorbei; der hohle Lärm der Tritte erstarb plötzlich an Land. Die Leute, die ihn gefangengenommen hatten, hielten ihn fest und beachteten weder seine Erklärung, er sei ein Engländer, noch seine laute Forderung, sofort vor den befehlshabenden Offizier geführt zu werden. Schließlich hüllte er sich in würdiges Schweigen. Mit dumpfem Rumpeln rollten ein paar Feldgeschütze vorbei, von Männern gezogen. Nachdem dann noch eine kleine Abteilung vorbeimarschiert war, als Nachhut für vier oder fünf Gestalten, die säbelklappernd vorausgegangen waren, fühlte er sich an den Armen gezerrt und zum Vorwärtsgehen aufgefordert. Die Befürchtung ist gerechtfertigt, daß Kapitän Mitchell auf dem Wege vom Kai zum Zollamt von den Händen der Soldaten gewissen Unwürdigkeiten unterworfen wurde – als da sind: Stöße, Schläge in den Nacken, gewaltsame Berührung eines Gewehrkolbens mit dem unteren Ende seines Rückgrats. Der Begriff der Leute von Eile stand nicht im Einklang mit dem Bewußtsein seiner eigenen Würde. Er wurde verwirrt, aufgeregt und hilflos. Es schien, als wäre das Ende der Welt gekommen.

Das langgestreckte Gebäude war von den Truppen umringt, die schon kompanieweise die Waffen in Pyramiden setzten und sich anschickten, die Nacht auf nackter Erde zu verbringen, unter ihren Ponchos, die Tornister unter dem Kopf. Korporale gingen mit schaukelnden Laternen vorbei und stellten rings um die Mauer Posten auf, wo immer sich eine Tür oder eine Öffnung zeigte. Sotillo traf alle Anstalten, seine Eroberung zu schützen, als hätte sie wirklich noch den Schatz enthalten. Seine Gier, mit einem kühnen Streich sein Glück zu machen, hatte ihm die kühle Überlegung geraubt. Er wollte nicht an die Möglichkeit eines Fehlschlags glauben; die bloße Andeutung ließ sein Gehirn vor Wut kochen. Jeder Umstand, der etwa darauf hinwies, erschien unglaublich. Die Nachrichten von Hirsch, die für Sotillos Hoffnungen so völlig vernichtend waren, durften keineswegs zugegeben werden. Allerdings hatte ja auch Hirsch seine Geschichte so unzusammenhängend, mit so ungewöhnlichen Zeichen der Erregung erzählt, daß sie wirklich unwahrscheinlich klang. Es war, wie man sagt, äußerst schwierig, Kopf oder Fuß darin zu erkennen. Auf der Brücke des Dampfers, unmittelbar nach seiner Errettung, hatten Sotillo und seine Offiziere, in ihrer Ungeduld und Aufregung, dem Unglücksmann nicht Zeit lassen wollen, das wenige, was ihm an Verstand noch geblieben war, zu sammeln. Man hätte ihn beruhigen, ermuntern und begütigen sollen, und statt dessen wurde er grob angefaßt, gestoßen, geschüttelt und in drohendem Ton angeredet. Seine verzweifelten Versuche, erst niederzuknien, dann sich heftig loszumachen, als hätte er unverweilt über Bord springen wollen, seine Schreie, sein Ausweichen, seine unsteten, wilden Blicke hatten Sotillo und seinen Stab erst mit Verwunderung, dann mit einem Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit erfüllt, wie ja Menschen immer die Echtheit jeder großen Leidenschaft bezweifeln. Auch mengte sich in sein Spanisch so viel Deutsch, daß die gute Hälfte seiner Äußerungen unverständlich blieb. Er versuchte die Leute günstig zu stimmen, indem er sie mit »Hochwohlgeborene Herren« anredete, was an sich schon verdächtig klang. Nachdrücklich ermahnt, keine Umschweife zu machen, wiederholte er die flehentlichen Beteuerungen seiner völligen Unschuld wieder deutsch, hartnäckig, weil er selbst nicht mehr wußte, in welcher Sprache er redete. Seine Persönlichkeit war natürlich einwandfrei bekannt, da er ja Einwohner von Esmeralda war; doch das machte die Sache nicht klarer. Da er unaufhörlich Decouds Namen vergaß und ihn mit verschiedenen anderen Leuten durcheinanderbrachte, die er in der Casa Gould getroffen hatte, so sah es aus, als wären alle diese zusammen im Leichter gewesen; und einen Augenblick meinte Sotillo wirklich, alle hervorragenden Ribieristen von Sulaco ertränkt zu haben. Die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Zufalls machte die ganze Erzählung zweifelhaft. Hirsch war entweder verrückt, oder er spielte eine Rolle – schützte in der Aufregung des Augenblicks Angst und Verwirrung vor, um die Wahrheit zu verbergen. Sotillos Habgier, durch die Aussicht auf ungeheure Beute zum Übermaß angestachelt, wollte keine Schwierigkeiten wahrhaben. Der Bursche konnte durch den Unfall wohl erschreckt sein, aber er wußte, wo das Silber verborgen war, und hatte sich heimtückisch diese Geschichte ausgedacht, um Sotillo völlig von der Fährte abzulenken.

Sotillo hatte im ersten Stock sein Quartier aufgeschlagen, in einem großen Raum mit schweren, schwarzen Deckbalken; doch gab es keine Decke, und das Auge verlor sich in der Finsternis unter dem hohen Giebel. Die schweren Fensterläden standen offen. Auf einem langen Tisch konnte man ein großes Tintenfaß sehen, ein paar wuchtige Gänsekiele, mit Tinte bekleckst, und zwei Holzkästchen, deren jedes einen halben Zentner Sand enthielt. Bogen grauen, rauhen Amtspapiers waren über den Boden verstreut. Es mußte wohl das Amtszimmer eines höheren Zollbeamten sein, denn hinter dem Tisch stand ein großer, lederbezogener Armstuhl, und andere hochlehnige Stühle in der Runde. Eine Hängematte aus Netzwerk hing an einem der Deckbalken – wohl für das Nachmittagsschläfchen des Beamten. Ein paar Kerzen in hohen Eisenleuchtern gaben ein trübes, rötliches Licht. Des Obersten Hut, Säbel und Revolver lagen dazwischen, und einige der vertrauteren Offiziere lehnten verdrießlich an einem Tisch. Der Oberst warf sich in den Lehnstuhl, und ein großer Neger mit Sergeantenborten an den zerfransten Ärmeln kniete nieder und zog ihm die Stiefel aus. Sotillos ebenholzschwarzer Schnurrbart hob sich grell von den fahlen Wangen ab. Seine Augen waren dunkel und schienen tief in den Kopf gesunken. Er sah erschöpft aus infolge der Ratlosigkeit, schwach von der Enttäuschung; als aber der Posten auf dem Stiegenabsatz den Kopf in die Türe steckte, um die Ankunft eines Gefangenen zu melden, da belebte er sich sofort.

»Soll hereingebracht werden«, schrie er heftig.

Die Tür flog auf, und Kapitän Mitchell, barhäuptig, die Weste offen, den Knoten seines Selbstbinders unter dem Ohr, wurde ins Zimmer gestoßen.

Sotillo erkannte ihn sofort. Er hätte sich keinen kostbareren Gefangenen wünschen können; da war also ein Mann, der ihm, wenn er wollte, alles sagen konnte, was er zu wissen wünschte – und sofort schoß ihm die Frage durch den Kopf, wie man ihn am besten zum Reden bringen könnte. Die Rache einer ausländischen Macht hatte für Sotillo keine Schrecken. Ganz Europa in Waffen hätte Kapitän Mitchell nicht so gut vor Beschimpfung und Mißhandlung schützen können wie Sotillos Überlegung, daß er, als Engländer, durch schlechte Behandlung wahrscheinlich bockig und ganz unbändig werden würde. Für alle Fälle glättete der Oberst die gerunzelte Stirne.

»Oh! der ausgezeichnete Señor Mitchell!« rief er in gespielter Betrübnis. Der angebliche Zorn in seiner raschen Annäherung und der Ruf: »Laßt den Caballero sofort los!« wirkten so nachdrücklich, daß die erschreckten Soldaten buchstäblich von ihrem Gefangenen wegsprangen. So seiner gewaltsamen Stütze beraubt, taumelte Kapitän Mitchell, als wollte er niederstürzen. Sotillo faßte ihn vertraulich unter dem Arm, führte ihn zu einem Stuhl und winkte ins Zimmer: »Alle hinaus!« befahl er.

Sobald sie allein waren, stand er unentschlossen und schweigend da, sah auf Kapitän Mitchell hinunter und wartete, bis dieser die Sprache wiederfinden würde.

Da hatte er also einen der Männer in Händen, die bei der Fortschaffung des Silbers beteiligt gewesen waren. Seiner Anlage nach fühlte Sotillo den brennenden Wunsch, den Mann zu schlagen, so wie ihm früher, wenn er mit dem vorsichtigen Anzani über ein schwieriges Darlehen verhandelt, immer die Finger gezuckt hatten, den Händler bei der Gurgel zu packen. Was nun Kapitän Mitchell angeht, so hatte das unerwartet Plötzliche und allgemein Unbegreifliche des Erlebnisses seine Gedanken verwirrt. Überdies war er körperlich außer Atem.

»Ich bin vom Kai bis hierher dreimal niedergestoßen worden«, keuchte er schließlich heraus. »Dafür wird jemand zu zahlen haben.« Er war allerdings öfter als einmal gestrauchelt und eine Strecke weit geschleift worden, bevor er wieder hatte auf die Füße kommen können. Wie er wieder Luft bekam, schien ihm seine Entrüstung den Verstand zu rauben. Er sprang auf, purpurrot, das weiße Haar gesträubt, glühende Rachsucht in den Augen, und schüttelte vor dem bestürzten Sotillo die Fetzen seiner ruinierten Weste. »Da, sehen Sie! Ihre uniformierten Diebe da unten haben mir meine Uhr gestohlen.«

Der Anblick des alten Seemanns wirkte ungemein bedrohlich. Sotillo sah sich von dem Tisch abgeschnitten, auf dem sein Säbel und sein Revolver lagen.

»Ich verlange Wiedergabe und Entschuldigung«, donnerte ihn Mitchell an, völlig außer sich, »von Ihnen! Jawohl, von Ihnen!«

Während einer oder zwei Sekunden stand der Oberst mit geradezu steinernem Gesicht da; dann, als Kapitän Mitchell den Arm gegen den Tisch ausstreckte, als wollte er den Revolver ergreifen, sprang Sotillo mit einem Schrei des Entsetzens zur Tür, war in einem Nu draußen und schlug sie hinter sich zu. Die Überraschung dämpfte Kapitän Mitchells Wut. Hinter der geschlossenen Tür brüllte Sotillo auf dem Flur, und es gab ein großes Getrampel in dem hölzernen Stiegenhaus.

»Entwaffnet ihn, bindet ihn!« konnte man den Obersten brüllen hören.

Kapitän Mitchell hatte eben noch Zeit, einmal nach den Fenstern zu sehen, deren jedes mit drei senkrechten Eisenstäben vergittert war und etwa sieben Meter über der Erde lag, wie er wohl wußte, als die Türe wieder aufflog und der Ansturm gegen ihn einsetzte. In unglaublich kurzer Zeit fand er sich mit vielen Windungen einer Lederschnur an einen hochlehnigen Stuhl gebunden, so daß nur sein Kopf freiblieb; dann erst wagte sich Sotillo wieder heran, der bis dahin, sichtlich zitternd, im Türrahmen gelehnt hatte. Die Soldaten nahmen vom Fußboden ihre Gewehre auf, die sie niedergelegt hatten, um den Gefangenen fesseln zu können, und verließen das Zimmer. Die Offiziere blieben auf ihre Säbel gestützt und sahen zu.

»Die Uhr! Die Uhr!« brüllte der Oberst und rannte auf und nieder wie ein Tiger im Käfig, »Gebt mir die Uhr dieses Menschen!« Es war richtig, daß Kapitän Mitchell, als man ihn im Erdgeschoß auf Waffen untersucht hatte, bevor man ihn Sotillo vorführte, seiner Uhr mit Kette entledigt worden war. Auf des Obersten Geschrei aber kamen beide schnell genug zum Vorschein. Ein Korporal brachte sie vorsichtig in beiden Händen herauf. Sotillo griff danach und stieß die geballte Faust, aus der die Kette niederbaumelte, bis nahe vor Kapitän Mitchells Gesicht.

»Jetzt also, du frecher Engländer! Du wagst die Soldaten der Armee Diebe zu nennen! Da ist deine Uhr!«

Er schwenkte die Faust, als wollte er dem Gefangenen auf die Nase schlagen. Kapitän Mitchell, hilflos wie ein Kind, sah ängstlich nach seinem goldenen Sechzig-Pfund-Chronometer, der ihm vor Jahren von einer Versicherungsgesellschaft für die Rettung eines Schiffes vor dem Totalverlust durch Feuer geschenkt worden war. Auch Sotillo schien zu merken, daß das Ding kostbar aussah. Er schwieg plötzlich, ging abseits zum Tisch und begann beim Kerzenlicht eine genaue Prüfung. Er hatte nie etwas so Schönes gesehen. Seine Offiziere drängten sich herzu und reckten hinter seinem Rücken die Hälse.

Er verlor sich so in die Betrachtung, daß er eine Zeitlang seinen kostbaren Gefangenen vergaß. Es ist immer etwas Kindliches in der Habgier der leidenschaftlichen, aufgeweckten südlichen Rassen; es fehlt in dem nebelhaften Idealismus der nördlichen Menschen, die beim geringsten Anstoß von nichts weniger als von der Eroberung der Erde träumen. Sotillo war ein Liebhaber von Juwelen, Goldgeschmeide und persönlichem Schmuck. Nach einer Weile wandte er sich um und winkte mit einer befehlenden Gebärde den Offizieren zu, zurückzutreten. Er legte die Uhr auf den Tisch und schob dann nachlässig seinen Hut darüber.

»Ha!« begann er und ging nahe zum Stuhl hin. »Sie wagen es, meine tapferen Soldaten vom Esmeralda-Regiment Diebe zu nennen. Sie wagen es! Welche Frechheit! Ihr Ausländer kommt hierher, um unserem Land seinen Reichtum zu stehlen. Ihr habt nie genug! Eure Kühnheit kennt keine Grenzen.«

Er sah nach den Offizieren hin, unter denen sich beifälliges Gemurmel erhob. Der alte Major fühlte sich zu der Erklärung gedrängt:

»Si, mi colonel. Sie sind alle Verräter.«

»Ich will nicht«, fuhr Sotillo fort und sah den reg- und machtlosen Mitchell wütend, aber auch etwas verlegen an, »ich will nicht von Ihrem verräterischen Versuch reden, sich meines Revolvers zu bemächtigen, während ich Sie mit einer Rücksicht zu behandeln versuchte, die Sie nicht verdienen. Sie haben Ihr Leben verwirkt. Sie haben auf nichts als auf meine Milde zu hoffen.«

Er wartete auf die Wirkung seiner Worte; doch auf Kapitän Mitchells Gesicht zeigte sich kein Anzeichen von Angst. Sein weißes Haar war ganz verstaubt, wie auch seine übrige hilflose Person. Als hätte er nichts gehört, zuckte er mit einer Augenbraue, um einen Strohhalm loszuwerden, der ihm aus den Haaren hing.

Sotillo stellte einen Fuß vor und kreuzte die Arme. »Sie, Mitchell«, sagte er mit Nachdruck, »Sie sind der Dieb, nicht meine Soldaten!« Er streckte gegen seinen Gefangenen einen Zeigefinger mit langem, mandelförmigem Nagel aus. »Wo ist das Silber der San Tomé-Mine? Ich frage Sie, Mitchell, wo ist das Silber, das in diesem Zollamt eingelagert war? Beantworten Sie mir das! Sie haben es gestohlen! Sie waren dabei, als es gestohlen wurde! Es wurde der Regierung gestohlen. Aha! Sie glauben, ich wüßte nicht, was ich sage; aber ich bin euren ausländischen Mätzchen gewachsen. Es ist fort, das Silber! Nein? Fort, in einer Ihrer Lanchas, Sie elender Mensch! Wie konnten Sie das wagen?«

Diesmal erzielte er eine Wirkung. ›Wie in aller Welt kann Sotillo das wissen?‹ dachte Mitchell. Sein Kopf, der einzige Körperteil, den er rühren konnte, verriet durch eine jähe Bewegung seine Überraschung.

»Aha! Sie zittern«, brüllte Sotillo plötzlich. »Es ist eine Verschwörung. Es ist ein Verbrechen gegen den Staat. Wußten Sie nicht, daß das Silber der Republik gehört, bis die staatlichen Forderungen befriedigt sind? Wo ist es? Wo hast du es versteckt, du elender Dieb?«

Bei dieser Frage lebte Kapitän Mitchells sinkender Mut wieder auf. Auf welche unverständliche Art Sotillo auch schon von dem Leichter erfahren haben mochte – gekapert hatte er ihn nicht. Das war klar. In seiner Empörung hatte Kapitän Mitchell bei sich beschlossen, daß nichts ihn dazu bringen sollte, auch nur ein Wort zu sprechen, solange er so niederträchtig gefesselt blieb; der Wunsch aber, zur Rettung des Silbers mitzuhelfen, ließ ihn diesen Entschluß aufgeben. Sein Verstand arbeitete heftig. Er entdeckte in Sotillo einen gewissen Zweifel, eine Unentschlossenheit.

Dieser Mann, sagte er sich, ist dessen nicht sicher, was er sagt. Bei all seiner Feierlichkeit im geselligen Gespräch wußte Kapitän Mitchell den harten Wirklichkeiten des Lebens doch entschlossen und schlagfertig zu begegnen. Nun, da er die erste Entrüstung über die niederträchtige Behandlung überwunden hatte, war er kühl und gesammelt genug. Die ungeheure Verachtung, die er für Sotillo empfand, festigte ihn noch mehr, und er meinte orakelhaft: »Ohne Zweifel ist es in diesem Augenblick schon gut verborgen.«

Auch Sotillo hatte Zeit, sich zu beruhigen. »Muy bien, Mitchell«, sagte er kalt und drohend. »Aber können Sie die staatliche Quittung für die Abgabe und die zollamtliche Verschiffungserlaubnis vorlegen? He? Können Sie das? Nein. Denn das Silber ist ungesetzlich fortgeschafft worden. Und die Schuldigen werden dafür zu leiden haben, wenn es nicht innerhalb fünf Tagen von heute an wieder beigebracht wird.« Er gab Befehl, dem Gefangenen die Fesseln zu lösen und ihn in einem der kleinen Räume im Erdgeschoß einzuschließen. Er ging im Zimmer auf und ab, düster und schweigsam, bis Kapitän Mitchell, an jedem Arm von ein paar Leuten gehalten, aufstand, sich schüttelte und mit den Füßen stampfte.

»Wie hat es Ihnen behagt, gefesselt zu sein, Mitchell?« fragte er spöttisch.

»Es ist der unglaublichste, niederträchtigste Mißbrauch von Gewalt!« erklärte Kapitän Mitchell mit lauter Stimme. »Und was immer auch Ihre Absicht ist, Sie sollen nichts damit erreichen, das kann ich Ihnen versprechen.«

Der hochgewachsene Oberst, sehr blaß, mit kohlschwarzen Locken und Schnurrbart, beugte sich tief, um dem stämmigen, kleinen, rotgesichtigen Gefangenen in die Augen sehen zu können.

»Das wollen wir sehen. Sie werden meine Gewalt etwas besser kennenlernen, wenn ich Sie draußen in der Sonne den ganzen Tag lang an einen Potalon binden lasse.« Er richtete sich hochmütig auf und gab das Zeichen, Kapitän Mitchell abzuführen.

»Was ist mit meiner Uhr?« schrie Kapitän Mitchell und sträubte sich gegen die Leute, die ihn der Türe zuzerrten.

Sotillo wandte sich an seine Offiziere: »Nein! Aber hören Sie doch bloß diesen Picaro, Caballeros«, sagte er mit gemachter Geringschätzung. Ein lautes Hohngelächter antwortete ihm. »Er verlangt seine Uhr!« . . . Er lief nochmals auf Kapitän Mitchell zu, denn der Wunsch brannte in ihm, seinen Gefühlen Luft zu machen, indem er diesen Engländer schlug und quälte. »Ihre Uhr! Sie sind Kriegsgefangener, Mitchell, Kriegsgefangener! Sie haben keine Rechte und kein Eigentum! Caramba! Noch der Atem in Ihrer Brust gehört mir. Denken Sie daran!«

»Bah!« sagte Kapitän Mitchell und unterdrückte ein peinliches Gefühl.

In der großen Halle im Erdgeschoß, mit dem gestampften Lehmboden und einem Hügel weißer Ameisen in einer Ecke, hatten die Soldaten ein kleines Feuer aus zerbrochenen Stühlen und Tischen angefacht. Durch den gewölbten Torweg klang das schwache Murmeln des Wassers am Hafenkai herein. Während Kapitän Mitchell die Stiegen hinuntergeführt wurde, rannte ein Offizier an ihm vorbei treppauf, um Sotillo die Einlieferung weiterer Gefangener zu melden. Eine Rauchwolke hing in dem breiten, düsteren Raum, das Feuer prasselte, und Kapitän Mitchell konnte wie durch einen Nebel, inmitten von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, die Köpfe dreier hochgewachsener Gefangener erkennen – den Doktor, den Chefingenieur und des alten Viola weiße Löwenmähne; dieser stand von den anderen halb abgewandt, das Kinn auf der Brust und die Arme gekreuzt. Mitchells Verwunderung kannte keine Grenzen. Er stieß einen Ruf aus; auch die beiden anderen schrien etwas. Er wurde schräg durch die große kellerartige Halle weitergeschleppt. Wirre Gedanken, Vermutungen, Mahnungen zur Vorsicht und ähnliches drängten sich in seinem Kopf.

»Will er Sie wirklich festhalten?« schrie der Chefingenieur, dessen Einglas im Feuerschein glitzerte.

Vom oberen Ende der Stiege brüllte ein Offizier heftig herunter: »Bringt sie herauf – alle drei!«

Inmitten des Stimmenlärms und des Waffengerassels konnte sich Kapitän Mitchell kaum verständlich machen: »Bei Gott! Der Kerl hat meine Uhr gestohlen.«

Der Chefingenieur auf der Stiege widerstand dem Drängen lange genug, um zu rufen: »Was? Was haben Sie gesagt?«

»Meinen Chronometer!« gellte Kapitän Mitchell mit aller Kraft, gerade im Augenblick, als er mit dem Kopf voran durch eine kleine Tür in eine Art Zelle gestoßen wurde, einen völlig finsteren und so engen Raum, daß er gegen die jenseitige Wand flog. Die Türe war sofort zugeschlagen worden. Er wußte, wohin man ihn gebracht hatte. Es war das Kassengewölbe des Zollamts, aus dem das Silber wenige Stunden zuvor weggeschafft worden war. Es war fast so eng wie ein Korridor, mit einer kleinen, rechteckigen Öffnung in der Schmalwand, die mit schweren Stäben vergittert war. Kapitän Mitchell taumelte ein paar Schritte und setzte sich dann auf den Lehmboden, den Rücken an die Wand gelehnt. Nichts, nicht der kleinste Lichtschimmer, störte Kapitän Mitchells Sinnen. Er ergab sich einem angestrengten, aber nicht sonderlich tiefgreifenden Nachdenken. Diese Gedanken waren nicht eben verzweifelt, denn trotz allen seinen kleinen Schwächen und Verschrobenheiten war der alte Seemann von Natur aus unfähig, durch längere Zeit Angst um seine persönliche Sicherheit zu empfinden. Das rührte weniger von Standhaftigkeit, als von dem Mangel an einer gewissen Art von Einbildungskraft her – eben der Art, deren übermäßige Entwicklung dem Señor Hirsch so brennende Qualen verursachte; der Art von Einbildungskraft, die das blinde Entsetzen vor körperlichen Qualen und vor dem Tod (dieser letztere als ein ausschließlich den Körper betreffendes Unglück betrachtet) zu den anderen Befürchtungen hinzufügt, auf die sich das Lebensbewußtsein jedes von uns gründet. Unglückseligerweise hatte Kapitän Mitchell keinen nennenswerten Scharfblick. Bezeichnende, vielsagende Einzelheiten im Ausdruck, in der Handlung oder Bewegung entgingen ihm völlig. Er war sich seines eigenen Daseins zu feierlich arglos bewußt, um das der andern beobachten zu können. So konnte er zum Beispiel nicht glauben, daß sich Sotillo wirklich vor ihm gefürchtet hatte, und zwar einfach darum, weil es ihm nie in den Kopf gekommen wäre, einen Menschen, außer im Falle dringendster Selbstverteidigung, zu erschießen. Jedermann konnte doch sehen, daß er nicht zu denen gehörte, die leichtfertig töten, überlegte er ganz ernsthaft. Warum dann also diese törichte und beleidigende Anschuldigung? fragte er sich selbst. Hauptsächlich aber kreisten seine Gedanken um die verblüffende und nicht zu beantwortende Frage: Wie zum Teufel hatte der Bursche erfahren, daß das Silber in einem Leichter weggeschafft worden war? Es lag ja auf der Hand, daß er es nicht gekapert hatte. Und natürlich hatte er es ja auch gar nicht kapern können. Bei dieser letzten Folgerung ließ sich Kapitän Mitchell von der Annahme irreführen, die er sich während seiner langen Nachtwanderung auf dem Kai vom Wetter gebildet hatte. Er dachte, gerade in dieser Nacht hätte im Golf ein weit stärkerer Wind als gewöhnlich geherrscht, während doch tatsächlich das Gegenteil der Fall gewesen war.

»Wie, im Namen alles Wunderbaren, hat der Teufelskerl Wind von der Geschichte bekommen?« war seine erste Frage, nachdem das Rasseln, der Schlag und der Lichtblitz der offenen Türe (die wieder zugemacht war, kaum daß er den gesenkten Kopf gehoben hatte) ihm angezeigt hatten, er habe einen Gefährten seiner Haft bekommen. Doktor Monyghams Stimme hörte auf, englische und spanische Flüche zu murmeln.

»Sind Sie das, Mitchell?« gab er mürrisch zurück. »Ich habe mir die Stirne gegen die verdammte Mauer da geschlagen, stark genug, daß ein Ochs davon hingefallen wäre. Wo sind Sie?«

Kapitän Mitchell, an die Dunkelheit gewöhnt, konnte den Doktor mit vorgestreckten Händen blindlings tappen sehen.

»Ich sitze hier auf dem Boden. Fallen Sie nicht über meine Beine«, verkündete Kapitän Mitchell mit großer Würde. Der Doktor, aufgefordert, nicht im Dunkeln herumzutappen, ließ sich gleichfalls auf dem Boden nieder; Sotillos zwei Gefangene begannen, während sich ihre Köpfe fast berührten, vertrauliche Mitteilungen zu tauschen.

»Jawohl«, berichtete der Doktor leise vor Kapitän Mitchells heftiger Neugierde, »ja, wir sind im Hause des alten Viola geschnappt worden. Scheinbar ist eines ihrer Piketts, von einem Offizier geführt, bis zum Stadttor vorgestoßen. Sie hatten den Befehl, die Stadt selbst zu meiden, doch jedes Lebewesen, das sie auf der Ebene finden würden, einzubringen. Wir hatten dort drin bei offener Tür gesprochen, und sie hatten wohl den Schein unsres Lichtes gesehen. Sie müssen sich ganz langsam genähert haben. Der Ingenieur legte sich nahe beim Kamin in einem Winkel auf eine Bank, und ich ging in den ersten Stock hinauf, um wieder einmal nachzusehen. Ich hatte von dort oben schon lange keinen Laut mehr gehört. Sobald der alte Viola mich hinaufkommen sah, hob er den Arm, um mir Schweigen zu gebieten. Ich stahl mich auf den Zehenspitzen hinein. Bei Gott, sein Weib lag da und war eingeschlafen! ›Señor Doctor‹, flüsterte mir Viola zu, ›es sieht aus, als sollte sich ihre Beklemmung bessern!‹ – ›Ja‹, sagte ich, sehr überrascht. ›Ihre Gattin ist eine wunderbare Frau, Giorgio.‹ Gerade in diesem Augenblick fiel in der Küche ein Schuß, der uns erschreckt auffahren ließ, wie ein Donnerschlag. Es scheint, daß sich die Gruppe von Soldaten ganz nahe herangeschlichen hatte und daß einer bis zur Türe gekrochen war. Er spähte herein, glaubte, es wäre niemand da und kam mit schußfertigem Gewehr ruhig herein. Der Ingenieur hat mir gesagt, er habe eben einen Augenblick lang die Augen geschlossen gehabt; als er sie aufschlug, sah er den Mann schon mitten im Zimmer stehen und in die dunklen Winkel spähen. Der Ingenieur war so erschreckt, daß er, ohne zu überlegen, aus seinem Winkel einen Sprung bis vor die Feuerstelle machte. Der Soldat, nicht weniger erschreckt, reißt das Gewehr hoch, zieht ab, betäubt und versengt den Ingenieur, fehlt ihn aber in der Hast. Und sehen Sie doch, was geschieht: bei dem Knall des Schusses setzte sich die schlafende Frau auf, wie von einer Feder hochgeschnellt, mit einem Schrei: ›Die Kinder, Giambattista! Rette die Kinder!‹ Es klingt mir noch in den Ohren. Es war der echteste Schmerzensschrei, den ich je gehört habe. Ich stand wie gelähmt, aber der alte Mann lief mit ausgestreckten Händen zum Bette hin. Sie klammerte sich an ihn. Ich sah, wie ihre Augen brachen. Der Alte ließ sie auf die Kissen nieder und sah sich dann nach mir um. Sie war tot. All dies währte keine fünf Minuten, und dann lief ich hinunter, um zu sehen, was los wäre. Es war sinnlos, an Widerstand zu denken. Der Offizier ließ nichts von dem gelten, was wir sagten, und so erbot ich mich, mit ein paar Soldaten hinaufzugehen und den alten Viola herunterzuholen. Er saß am Fußende des Bettes, sah seiner Frau ins Gesicht und schien nicht zu hören, was ich sagte. Nachdem ich aber das Laken über ihren Kopf gezogen hatte, stand er auf und folgte uns ruhig über die Stiegen hinunter, wie in Nachdenken verloren. Sie marschierten mit uns ab, die Straße entlang, und ließen die Türe offen und die Kerze brennen. Der Chefingenieur ging wortlos dahin, aber ich sah ein- oder zweimal nach dem Lichtschein zurück. Als wir eine beträchtliche Strecke weit fort waren, sagte plötzlich der Garibaldiner, der neben mir ging: ›Ich habe in diesem Erdteil viele Männer auf Schlachtfeldern begraben. Die Priester reden von heiliger Erde. Bah, alle Erde, die Gott geschaffen hat, ist heilig; aber die See, die nichts von Königen, Priestern und Tyrannen weiß, die See ist heiliger als alles, Doktor! Ich wollte sie gerne in der See bestatten. Kein Mummenschanz, mit Kerzen, Weihrauch, Weihwasser und Priestergemurmel. Der Geist der Freiheit ist über den Wassern.‹ . . . Erstaunlicher alter Mann. Er sagte all das so leise, als spräche er zu sich selbst.«

»Ja, ja«, unterbrach Kapitän Mitchell ungeduldig. »Armer Alter! Aber haben Sie keine Idee, wie dieser Schuft Sotillo zu der Nachricht gekommen sein kann? Er hat doch keinen unserer Cargadores erwischt, die bei dem Bahnwagen mitgeholfen hatten, oder? Aber nein, unmöglich! Es waren ausgesuchte Leute, die nun seit fünf Jahren bei uns sind und denen ich persönlich für diese Arbeit einen Extralohn gezahlt habe, mit der Weisung, sie sollten sich mindestens vierundzwanzig Stunden lang außer Sicht halten. Ich sah sie mit meinen eigenen Augen zusammen mit den Italienern nach dem Güterbahnhof marschieren. Der Ingenieur versprach mir, sie dort zu beköstigen, solange sie bleiben wollten.«

»Nun«, meinte der Doktor langsam, »ich kann Ihnen mitteilen, daß Sie Ihrem besten Leichter und dem Capataz de Cargadores auf ewig Lebewohl sagen können.«

Daraufhin rappelte sich Kapitän Mitchell im Übermaß seiner Erregung auf die Füße. Der Doktor ließ ihm keine Zeit zu einem Ausruf und berichtete kurz die Rolle, die Hirsch während der Nacht gespielt hatte.

Kapitän Mitchell war niedergeschmettert: »Ertrunken«, murmelte er tief bestürzt. »Ertrunken!« Dann verhielt er sich schweigend, als hörte er zu, doch stand er zu sehr unter dem Eindruck der furchtbaren Nachricht, um der Erzählung des Doktors aufmerksam folgen zu können.

Der Doktor hatte sich völlig ahnungslos gestellt, bis schließlich Sotillo sich bestimmt gesehen hatte, Hirsch hereinführen und die ganze Geschichte wiederholen zu lassen; man hatte Mühe gehabt, ihn zum Reden zu bringen, weil er alle Augenblicke in Wehklagen ausbrechen wollte. Endlich wurde Hirsch abgeführt, mehr tot als lebendig, und in einem der oberen Räume eingeschlossen, um gleich bei der Hand zu sein. Der Doktor hielt weiter die Rolle eines Mannes durch, der zu den geheimen Beschlüssen der San Tomé-Verwaltung nicht zugelassen wäre, und bemerkte, die Geschichte klänge unglaublich. Natürlich, sagte er, könne er nicht angeben, was die Europäer unternommen hätten, da er ausschließlich mit seiner Berufsarbeit bei den Verwundeten und auch bei der Pflege Don José Avellanos' beschäftigt gewesen sei. Er hatte den Ton unbeteiligter Gleichgültigkeit so gut getroffen, daß Sotillo völlig getäuscht schien. Bis dahin war noch der Anschein eines regelrechten Verhörs gewahrt worden; einer der Offiziere saß am Tisch und schrieb die Fragen und Antworten nieder, die anderen standen im Zimmer herum, hörten aufmerksam zu, pafften ihre langen Zigarren und hielten die Augen auf den Doktor gerichtet. Da aber schickte Sotillo sie alle hinaus.

 


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