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Carlos Gould kehrte zur Stadt zurück. Vor ihm tauchten die Schroffen der Sierra ganz schwarz aus der klaren Dämmerung. Da und dort huschte ein vermummter Lepero vor dem klappernden Hufschlag um die Ecke einer grasüberwachsenen Straße. Hunde bellten hinter den Mauern der Gärten; und zugleich mit dem farblosen Frühlicht schien der Eiseshauch der Schneefelder auf das holprige Pflaster und die verschlossenen Häuser niederzusinken, deren Gesimse gebrochen und zwischen deren Frontsäulen der Verputz in großen Flecken abgefallen war. Die Dämmerung kämpfte mit dem Düster unter den Arkaden auf der Plaza; es waren keine Landleute zu sehen, die ihre Waren für den Frühmarkt herrichteten – Haufen von Früchten, Gemüse in Bünden, mit Blumen geschmückt, auf niedrigen Bänken unter großen Mattenschirmen; kein frohes morgendliches Gedränge von Dörflern, Frauen, Kindern und beladenen Eseln. Nur einige zerstreute Gruppen von Revolutionären standen auf dem weiten Platz und sahen unter ihren Schlapphüten hervor alle in eine Richtung, nach dem Anzeichen einer Neuigkeit von Rincon her. Die Leute in der größten dieser Gruppen wandten sich, als Carlos Gould vorbeiritt, wie ein Mann um und riefen ihm in drohendem Ton nach: »Viva la Libertad!«
Carlos Gould ritt weiter und bog in den Torweg seines Hauses ein. In dem mit Stroh belegten Innenhof saß ein Praktikant, einer von Doktor Monyghams eingeborenen Assistenten, mit dem Rücken gegen den Brunnenrand auf dem Boden und klimperte leise auf einer Gitarre, während zwei Mädchen niederer Klasse vor ihm standen, mit Händen und Füßen leicht dem Takt andeuteten und dazu eine volkstümliche Tanzweise summten. Die meisten der Verwundeten aus den zwei Kampftagen waren schon von ihren Freunden und Verwandten abgeholt worden, doch konnte man noch einige Gestalten aufrecht sitzen und die Köpfe im Takt wiegen sehen. Carlos Gould stieg ab. Ein verschlafener Mozo kam aus der Türe der Bäckerei und nahm die Zügel in Empfang; der Praktikant versuchte hastig, seine Gitarre zu verbergen; die Mädchen, durchaus nicht eingeschüchtert, traten lächelnd zurück; und Carlos Gould sah auf seinem Weg zum Stiegenhaus in einem dunklen Winkel des Innenhofes eine andere Gruppe, einen tödlich verwundeten Cargador, an dessen Seite eine Frau kniete, sie murmelte eifrig Gebete und versuchte zugleich, ein Stück Orange zwischen die erkaltenden Lippen des Sterbenden zu schieben.
Die grausame Nichtigkeit aller Dinge enthüllte sich im Leichtsinn und im Leiden dieses unverbesserlichen Volkes; die grausame Nichtigkeit des Lebens und Sterbens, im sinnlosen Kampf für eine dauernde Lösung des Problems. Carlos Gould konnte nicht, wie Decoud, leichten Herzens eine Rolle in einer tragischen Posse spielen. Tragisch genug empfand er sie im tiefsten Herzen, die Posse aber konnte er nicht sehen. Er litt zu sehr unter der Überzeugung, daß alles heillos verrückt sei. Er war zu sehr Tatsachenmensch und dabei auch zu idealistisch, um Vergnügen an dem grausamen Spaß zu finden, wie es Martin Decoud, der phantasiebegabte Materialist, im kalten Licht seiner Skepsis tun konnte. Carlos Gould empfand, wie wir alle, die Zugeständnisse, die sein Gewissen gemacht hatte, nun, nach dem Mißerfolg, besonders bitter. Die Schweigsamkeit, die er sich mit Absicht angewöhnt, hatte ihn davor bewahrt, sich offen mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen; die Gould-Konzession aber hatte heimlich sein Urteil vergiftet. Er hätte wissen müssen, sagte er sich, während er an der Brüstung des Korridors lehnte, daß die Ribieristen niemals Erfolg haben konnten. Die Mine hatte sein Urteil vergiftet, indem sie seinen Widerwillen dagegen erweckte, ewig Bestechung und Ränke anwenden zu müssen, um sein Werk von einem Tag zum anderen zu sichern. Ganz wie sein Vater liebte er es nicht, sich berauben zu lassen. Es brachte ihn zur Verzweiflung. Er hatte sich eingeredet, daß, von höheren Erwägungen abgesehen, die Unterstützung von Don Josés Reformplänen ein gutes Geschäft sein müßte. Er hatte den sinnlosen Kampf durchgehalten, wie sein armer Onkel, dessen Schwert an der Wand seines Arbeitszimmers hing, es getan hatte – in der Verteidigung der gewöhnlichsten Schicklichkeiten einer geordneten Gesellschaft. Nur war seine Waffe, der Reichtum der Mine, weitreichender und feiner als eine ehrliche Stahlklinge mit schlichtem Messinggriff.
Auch für den Träger war sie gefährlicher, diese Waffe des Reichtums. Zweischneidig infolge der Gier und des Elends der Menschheit, dazu in alle Laster der Zuchtlosigkeit getaucht wie in einen Absud aus Giftwurzeln; ein Makel noch für die Sache selbst, für die die Waffe gezogen wurde, und immer bereit, sich gegen den Träger zu wenden. Nun gab es nichts andres, als sie weiter zu gebrauchen. Doch schwur er sich, sie lieber in kleine Stücke zersplittert zu sehen, als sie sich aus der Hand winden zu lassen.
Er machte sich klar, daß er schließlich trotz seiner englischen Verwandtschaft und englischen Erziehung ein Abenteurer in Costaguana war, der Abkömmling von Abenteurern, die in einer Fremdenlegion Dienst getan; von Männern, die ihr Glück in Bürgerkriegen gesucht, Revolutionen geplant und daran geglaubt hatten. Bei aller Charakterreinheit hatte er doch die nicht allzu strenge Sittlichkeit eines Abenteurers, der persönliche Gefahr im Hinblick auf den ethischen Wert seiner Handlung in den Kauf nimmt. Er war entschlossen, nötigenfalls das ganze San Tomé-Gebirge himmelhoch in die Luft zu sprengen, aus dem Gebiet der Republik hinaus. Dieser Entschluß drückte die Hartnäckigkeit seines Charakters aus, die Reue über jene verborgene eheliche Untreue, derzufolge seine Frau nicht mehr die einzige Herrin seiner Gedanken war; dazu noch etwas von seines Vaters phantasievoller Schwäche und auch ein wenig vom Geiste eines Bukaniers, der lieber ein brennendes Streichholz ins Pulvermagazin wirft, als daß er sein Schiff übergäbe.
Der verwundete Cargador drunten im Innenhof verschied. Die Frau weinte einmal auf, und über dieses Weinen, unerwartet und schrill, setzten sich alle Verwundeten auf. Der Praktikant stand schwerfällig auf und sah, die Gitarre in der Hand, mit hochgezogenen Augenbrauen ruhig nach ihr hin. Die beiden Mädchen – die nun zu beiden Seiten ihres verwundeten Angehörigen saßen, die Knie hochgezogen, lange Zigarren zwischen den Lippen – nickten einander bedeutsam zu.
Carlos Gould, immer noch über die Brüstung gelehnt, sah drei Herren in feierlich schwarzen Gehröcken mit weißen Hemden und europäischen steifen Hüten von der Straße aus in den Innenhof treten. Einer von ihnen, der die beiden anderen mit Kopf und Schultern überragte, schritt mit größerer Würde führend voran. Es war Don Juste Lopez, der, von zweien seiner Freunde, Mitgliedern der Provinzialversammlung, begleitet, zu dieser frühen Morgenstunde den Administrator der San Tomé-Mine besuchen kam. Sie erblickten Carlos Gould, winkten ihm mit den Händen eifrig zu und kamen wie in Prozession die Treppen herauf.
Don Juste war erstaunlich verändert, weil er sich seinen beschädigten Bart ganz abgenommen und damit neun Zehntel seiner äußeren Würde verloren hatte. Selbst in diesem ereignisschweren Augenblick konnte Carlos Gould nicht umhin, zu bemerken, wie sehr das Aussehen des Mannes nun die innere Leere verriet. Seine Begleiter sahen ratlos und verschlafen aus. Der eine fuhr sich unaufhörlich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen; die Augen des anderen wanderten trübe über den Ziegelfußboden des Korridors, während Don Juste, etwas vor ihnen stehend, eine Ansprache an den Señor Administrador der San Tomé-Mine hielt. Er war der festen Überzeugung, daß die Form gewahrt werden müßte. Ein neuer Statthalter würde immer von Abordnungen des Cabildo (des Gemeinderats) und des Consulado (der Handelskammer) besucht, und es schickte sich, daß auch die Provinzialversammlung eine Abordnung stellte, wenn aus keinem anderen, so aus dem Grunde, um das Bestehen parlamentarischer Einrichtungen zu bestätigen. Don Juste schlug vor, daß sich Don Carlos Gould, der hervorragendste Bürger der Provinz, der Abordnung des Landtags anschließen sollte. Seine Stellung sei überragend, seine Persönlichkeit weit und breit in der ganzen Republik bekannt. Amtliche Höflichkeiten dürften nicht vernachlässigt werden, wenn auch das Herz dabei blutete. Die Hinnahme vollendeter Tatsachen könnte vielleicht noch die kostbaren Reste parlamentarischer Einrichtungen retten. Don Justes Augen hatten trüben Glanz; er glaubte an die parlamentarischen Einrichtungen – und der tiefe Brustton seiner Stimme verlor sich in der Stille des Hauses wie das Brummen eines großen Käfers.
Carlos Gould hatte sich umgewandt und geduldig zugehört, den Ellbogen auf die Brüstung gestützt. Er schüttelte zur Verneinung leicht den Kopf, fast gerührt von dem ängstlichen Blick des Präsidenten der Provinzialversammlung. Es lag außerhalb Carlos Goulds Politik, die San Tomé-Mine in irgendwelche Formfragen hineinzuziehen.
»Mein Rat, Señores, ist, daß Sie Ihr Schicksal in Ihren Häusern erwarten sollten. Unterwerfung unter das Unvermeidliche, wie Don Juste es nennt, ist ganz recht; wenn aber das Unvermeidliche sich Pedrito Montero nennt, dann ist es nicht nötig, das ganze Ausmaß Ihrer Unterwerfung ausdrücklich zu zeigen. Der Fehler dieses Landes ist der Mangel an Maßhalten im politischen Leben. Wehrlose Fügung in Gesetzwidrigkeit, von blutigen Gegenmaßnahmen gefolgt – das, Señores, ist nicht der Weg zu einer sicheren und gedeihlichen Zukunft.«
Carlos Gould verstummte vor dem erschreckten Staunen in den Gesichtern, der ängstlichen Frage in den Augen. Ein Gefühl des Mitleids für diese Männer, die alle ihre Hoffnungen in Worte setzten, während Mord und Raub durch das Land schritten, hatte ihn zu etwas verführt, was ihm leere Geschwätzigkeit schien. Don Juste murmelte:
»Sie verlassen uns, Don Carlos . . . Und doch, die parlamentarischen Einrichtungen . . .«
Er konnte vor Schmerz nicht zu Ende sprechen. Einen Augenblick legte er die Hand über die Augen. Carlos Gould, in seiner Furcht vor leerer Geschwätzigkeit, gab keine Antwort auf den Vorwurf. Er erwiderte schweigend die feierlichen Verbeugungen der anderen. Seine Schweigsamkeit war seine Zuflucht. Er merkte wohl, daß es ihr eigentliches Ziel war, den Einfluß der San Tomé-Mine auf ihre Seite zu bringen. Sie wollten sich unter den Fittichen der Gould-Konzession auf ihren Bittgang zu dem Sieger machen. Andere öffentliche Körperschaften – das Cabildo, das Consulado – würden wohl auch bald kommen, um die Hilfe der beständigsten, lebenskräftigsten Macht nachzusuchen, die sie in ihrem Lande je gekannt hatten.
Als der Doktor mit seinem hastigen, unbeholfenen Schritt ankam, wurde ihm mitgeteilt, der Hausherr habe sich in sein Zimmer zurückgezogen, mit dem Befehl, er wolle unter keinerlei Vorwand gestört werden. Aber Doktor Monygham hatte es nicht eilig, Carlos Gould sofort zu sehen. Er verbrachte einige Zeit mit einer raschen Untersuchung seiner Verwundeten. Er sah auf jeden von ihnen hinunter und rieb sich dabei das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger; sein fester Blick begegnete ausdruckslos den stumm fragenden Augen der Leute. Alle diese Fälle verliefen günstig; doch als er zu dem toten Cargador kam, verweilte er ein wenig länger, beobachtete aber nicht den Mann, der ja ausgelitten hatte, sondern die Frau, die da kniete, in stummer Betrachtung des starren Gesichts mit den geblähten Nüstern und einem weißen Glitzern unter den halbgeschlossenen Lidern. Sie hob langsam den Kopf und sagte klanglos:
»Er war noch nicht lange Cargador – nur wenige Wochen. Seine Gnaden der Capataz hatte ihn nach vielen Bitten aufgenommen.«
»Ich bin nicht verantwortlich für den großen Capataz«, murrte der Doktor im Fortgehen.
Er wandte sich der Türe von Carlos Goulds Zimmer im ersten Stock zu, zögerte aber im letzten Augenblick. Dann kehrte er mit einem Zucken seiner schiefen Schultern dem Türgriff den Rücken und hinkte eilig durch den Korridor, auf der Suche nach Frau Goulds Camerista.
Leonarda sagte ihm, die Señora habe sich noch nicht erhoben. Die Señora habe ihr die beiden Mädchen dieses italienischen Posaderos in Obhut gegeben. Sie, Leonarda, habe sie in ihrem eigenen Zimmer zu Bette gebracht. Die Blonde habe sich in den Schlaf geweint, die Dunkle aber, die Größere, habe noch kein Auge zugemacht. Sie sitze aufrecht im Bett, das Laken bis unter das Kinn hochgezogen, und starre vor sich hin wie eine kleine Hexe. Leonarda war nicht damit einverstanden, daß die Viola-Kinder im Hause aufgenommen worden waren. Sie ließ dieses Gefühl deutlich merken an dem gleichgültigen Ton der Frage, ob die Mutter der Mädchen schon gestorben sei. Die Señora aber schlafe wohl noch. Seitdem sie nach dem Abschied von Doña Antonia und deren sterbendem Vater in ihr Zimmer gegangen, sei hinter der Türe noch kein Laut zu hören gewesen.
Der Doktor riß sich aus tiefem Nachdenken und sagte ihr kurz, sie solle sofort ihre Herrin rufen. Er humpelte davon, um Frau Gould in der Sala zu erwarten. Er war sehr müde, doch zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. In diesem großen, nun leeren Raum, in dem seine dürstende Seele nach so vielen dürren Jahren erfrischt worden war und in dem er in demütiger Selbsterkenntnis viele zweifelnde Seitenblicke stumm erduldet hatte, in diesem Raum also wanderte er nun zwischen Tischen und Stühlen umher, bis Frau Gould, in ein Morgengewand gehüllt, rasch eintrat.
»Sie wissen, daß ich nie mit der Absendung des Silbers einverstanden war«, hob der Doktor sofort an, als Vorrede zum Bericht der nächtlichen Abenteuer, die er in Sotillos Hauptquartier, zusammen mit Kapitän Mitchell, dem Chefingenieur und dem alten Viola, gehabt hatte. Dem Doktor, mit seiner besonderen Auffassung dieser politischen Krise, war die Fortschaffung des Silbers als eine unkluge und unheilvolle Maßnahme erschienen. Für ihn war es, als hätte ein General am Vorabend einer Schlacht seine besten Truppen unter einem nichtigen Vorwand weggeschickt. Alle die Silberbarren hätten irgendwo versteckt werden können, wo sie zur Abwehr der Gefahren, die die Sicherheit der Gould-Konzession bedrohten, erreichbar gewesen wären. Der Administrator hatte gehandelt, als wäre das Blühen und Gedeihen der Mine auf ehrenwerten Nützlichkeitserwägungen gegründet gewesen. Und das war doch durchaus nicht der Fall. Die tatsächlich befolgten Grundsätze waren die einzig möglichen. Die Gould-Konzession hatte sich durch all diese Jahre immer wieder losgekauft. Es war ein widerwärtiger Vorgang. Der Doktor verstand sehr gut, daß Carlos dessen müde geworden war und die alte Richtlinie verlassen hatte, um diesen hoffnungslosen Reformplan zu unterstützen. Der Doktor glaubte nicht an die Reform von Costaguana. Und nun war die Mine wieder im alten Fahrwasser, mit dem Nachteil, daß sie von nun an nicht nur mit der durch ihren Reichtum hervorgerufenen Gier, sondern auch mit einer Rache für den Versuch zu rechnen haben würde, sich von der Verpflichtung zur Korruption zu befreien. Das war die Strafe für den Mißerfolg. Unbehaglich war ihm der Gedanke, daß Carlos Gould im entscheidenden Augenblick schwach geworden zu sein schien, als eine offene Rückkehr zu den alten Methoden die einzige Rettung bedeutete. Das Anhören von Decouds wilden Plänen war eine Schwäche.
Der Doktor warf die Arme hoch und rief: »Decoud! Decoud!« Er humpelte mit kurzem, ärgerlichem Auflachen durchs Zimmer. Vor vielen Jahren waren seine beiden Fußknöchel im Laufe einer gewissen Untersuchung schwer beschädigt worden, die im Kastell von Sta. Marta von einer militärischen Kommission geführt worden war. Die Ernennung war den einzelnen Mitgliedern unerwartet spät nachts von Guzman Bento mit gerunzelter Stirne, blitzenden Augen und donnernder Stimme mitgeteilt worden. Der alte Tyrann, halb irr in einem seiner plötzlichen Anfälle von Mißtrauen, hatte die Männer bei ihrem Treueid ermahnt und dazu Flüche und furchtbare Drohungen gesprudelt. Die Zellen und Kasematten des Kastells auf dem Hügel waren mit Gefangenen gefüllt, und nun hatte die Kommission den Auftrag, die niederträchtige Verschwörung aufzudecken, die gegen den Bürger-Erretter des Landes geplant war.
Ihre Angst vor dem wütenden Tyrannen setzte sich in eine grausame Übereilung des Verfahrens um. Der Bürger-Erretter war nicht gewohnt, zu warten. Eine Verschwörung mußte entdeckt werden. Die Höfe des Kastells hallten wider von dem Geklirr der Fußeisen, von dem Geräusch von Schlägen und Schmerzensschreien; die aus hohen Offizieren zusammengesetzte Kommission arbeitete fieberhaft, wobei jeder einzelne seine Sorge und Angst vor den anderen und besonders vor dem Sekretär, Vater Beron, verbarg, einem Armeekaplan, der zu jener Zeit das besondere Vertrauen des Bürger-Erretters genoß. Dieser Priester war ein großer Mann mit schweren Schultern und einer unsauberen, halb zugewachsenen Tonsur auf dem Scheitel des flachen Kopfes; von schmutziggelber Hautfarbe, etwas dicklich, mit Fettflecken auf seiner Leutnantsuniform und einem kleinen, in weißer Wolle gestickten Kreuz auf der linken Brust. Er hatte eine wuchtige Nase und eine hängende Lippe. Doktor Monygham erinnerte sich seiner noch gut. Er erinnerte sich, trotz der wütenden Willensanstrengung, ihn zu vergessen. Vater Beron war der Kommission von Guzman Bento in der ausgesprochenen Absicht zugeteilt worden, daß sein erleuchteter Eifer den Offizieren bei ihrer Aufgabe helfen sollte. Doktor Monygham vermochte auf keine Weise den Eifer Vater Berons zu vergessen oder sein Gesicht oder die erbarmungslos eintönige Stimme, mit der er die Worte sprach: »Wollen Sie jetzt gestehen?«
Diese Erinnerung ließ ihn nicht erschauern; aber sie hatte ihn zu dem gemacht, der er in den Augen ehrbarer Leute war: zu einem Mann, der sich um die herkömmliche Schicklichkeit nicht kümmert, zu einem Mittelding zwischen einem schlauen Vagabunden und einem verrufenen Doktor. Doch hätten wohl nicht alle die ehrbaren Leute das nötige Feingefühl gehabt, um verstehen zu können, mit wie peinlicher Schärfe Doktor Monygham, der Oberarzt der San Tomé-Mine, sich Vater Berons erinnerte, des Armeekaplans und ehemaligen Sekretärs einer militärischen Kommission. Nach all den Jahren sah Doktor Monygham, in seinen Zimmern am Ende des Spitalgebäudes in der San Tomé-Schlucht, Vater Beron so klar wie nur je vor sich. Manchmal erinnerte er sich dieses Priesters auch noch bei Nacht, im Schlafe. In solchen Nächten pflegte der Doktor bei brennender Kerze das Tageslicht zu erwarten und seine Zimmer von einem Ende zum anderen zu durchwandern, beide Arme eng an die Seiten gepreßt und den Blick auf die nackten Füße gerichtet. Er sah im Traum Vater Beron am Ende des langen schwarzen Tisches sitzen, hinter dem in einer Reihe die Köpfe, Schultern und Achselstücke der militärischen Beisitzer auftauchten; der Kaplan zupfte an der Feder des Gänsekiels und hörte mit müder und ungeduldiger Verachtung die Beteuerungen eines Gefangenen an, der den Himmel zum Zeugen seiner Unschuld anrief; schließlich brach er wohl los: »Was sollen wir mit dem elenden Unsinn Zeit vergeuden! Lassen Sie mich ihn eine Weile mit hinausnehmen!« Und dann ging Vater Beron hinter dem kettenklirrenden Gefangenen hinaus, der von zwei Soldaten abgeführt wurde. Solche Vorfälle ereigneten sich an vielen Tagen, viele Male, mit vielen Gefangenen. Wenn der Gefangene wiederkehrte, war er zu einem vollen Geständnis bereit; so erklärte Vater Beron und lehnte sich mit dem trüben, übersättigten Blick vor, den man an gierigen Essern nach einer schweren Mahlzeit beobachten kann.
Des Priesters inquisitorische Instinkte erlitten nur geringe Einbuße durch das Fehlen des klassischen Rüstzeugs der Inquisition. Zu keiner Zeit in der Geschichte der Welt sind die Menschen um Mittel verlegen gewesen, ihren Mitgeschöpfen körperliche und geistige Qualen zu bereiten. Diese Fähigkeit entwickelte sich in ihnen mit dem Anwachsen vielfältiger Leidenschaften und der Verfeinerung ihrer ursprünglichen Einfalt. Man darf ruhig behaupten, daß der Urmensch sich nicht die Mühe nahm, Foltern zu ersinnen. Er war gleichgültig und herzensrein. Er schlug seinem Nachbarn mit einer Steinaxt grimmig den Schädel ein, aus Notwehr und ohne Heimtücke. Es gehört durchaus keine Bildung dazu, ein beißendes Wort zu erfinden oder einem harmlosen einen grausamen Nebensinn zu geben. Und ein Stück Schnur und ein Ladstock, ein paar Gewehre in Verbindung mit einem Tau aus Ochsenhaut, oder vielleicht nur ein einfacher Hammer aus Hartholz, mit entsprechendem Schwung gegen menschliche Finger oder die Gelenke eines Menschenkörpers angewandt, genügen zur Erzeugung der ausgesuchtesten Qualen. Der Doktor war ein sehr verstockter Gefangener gewesen, und als natürliche Folge dieser »schlimmen Veranlagung« (so nannte es Vater Beron) hatte sich seine Unterwerfung sehr gründlich und durchgreifend gestaltet. Darum waren das Hinken in seinem Gang, die Verzerrung in seinen Schultern und die tiefen Narben auf seinen Wangen so sehr ausgeprägt. Auch seine Geständnisse waren, als man ihn erst einmal dazu gebracht hatte, sehr umfassend gewesen. In den Nächten, während deren er im Zimmer umherwanderte, wunderte er sich manchmal (und biß dabei vor Scham und Wut die Zähne aufeinander) über seine fruchtbare Einbildungskraft unter dem Sporn eines Schmerzes, der Wahrheit, Ehre, Selbstachtung und sogar das Leben selbst völlig bedeutungslos gemacht hatte.
Und er konnte Vater Beron mit seinem eintönigen Satz nicht vergessen: »Wollen Sie jetzt gestehen?«, der ihm immer wieder furchtbar deutlich durch das irrsinnige Wogen unerträglicher Schmerzen in die Ohren geklungen hatte. Er konnte es nicht vergessen. Aber das war nicht das Schlimmste. Hätte er Vater Beron nach all diesen Jahren in der Straße getroffen, so hätte Doktor Monygham, dessen war er sicher, vor ihm gezittert. Diese Möglichkeit war ja nun nicht zu befürchten. Vater Beron war tot; doch das schmähliche Bewußtsein hinderte Doktor Monygham, irgend jemand ins Gesicht zu sehen.
Doktor Monygham war in gewissem Sinne der Sklave eines Gespenstes geworden. Es war ganz offenbar unmöglich, sein Wissen von Vater Beron nach Europa heimzunehmen; als er vor dem Militärgericht sein erpreßtes Geständnis gemacht, da hatte Doktor Monygham nicht im Sinn gehabt, dem Tod zu entgehen. Er hatte sich danach gesehnt. Während er, halbnackt, stundenlang auf dem feuchten Boden seines Kerkers saß, so regungslos, daß die Spinnen, seine Gefährten, ihre Netze in seinem Haar woben, da hatte er seine Seelenpein mit der scharfsinnigen Überlegung beschwichtigt, er habe nun Verbrechen genug eingestanden, um ein Todesurteil erwarten zu können; und sie hätten es mit ihm zu weit getrieben, als daß sie ihn hätten leben und die Geschichte erzählen lassen sollen.
Doch wie aus einem Übermaß an Grausamkeit ließ man Doktor Monygham monatelang in der Finsternis seines grabähnlichen Gefängnisses langsam verfaulen. Man hoffte zweifellos, daß er dabei zugrunde gehen und das Aufsehen einer Hinrichtung ersparen würde; aber Doktor Monygham hatte einen eisernen Körper. Guzman Bento war es, der starb, nicht unter dem Messer eines Verschwörers, sondern an einem Schlaganfall, und Doktor Monygham wurde eilig freigelassen. Seine Fesseln wurden aufgemeißelt, beim Lichte einer Kerze, das, nach so vielen Monaten der Finsternis, seinen Augen so wehe tat, daß er sie mit den Händen bedecken mußte. Man hob ihn auf. Sein Herz schlug heftig aus Angst vor dieser Freiheit. Als er zu gehen versuchte, machte ihn die ungewöhnliche Dünne seiner Beine schwindelig, und er stürzte nieder. Zwei Stöcke wurden ihm in die Hand gedrückt, und er wurde aus dem Gang hinausgedrängt. Es war Dämmerstunde; aus den Fenstern der Offizierswohnungen rings um den Hof leuchteten schon die Kerzen; aber das Zwielicht am Himmel blendete ihn durch seinen ungeheuren, überwältigenden Glanz. Ein dünner Poncho hing um seine nackten, knochigen Schultern. Die Fetzen seines Beinkleides reichten ihm kaum noch bis zu den Knien; ein achtzehn Monate alter Haarwuchs fiel in schmutziggrauen Locken über die scharfen Backenknochen. Während er sich an der Türe des Wachzimmers vorbeischleppte, sprang einer der davor lehnenden Soldaten, von einem unklaren Gefühl bewegt, vor und rammte ihm mit seltsamem Lachen einen zerrissenen, alten Strohhut über den Kopf. Und Doktor Monygham setzte, nachdem er ein Taumeln überwunden hatte, seinen Weg fort. Er setzte einen Stock vor, dann den einen verstümmelten Fuß, dann den anderen Stock; der zweite Fuß folgte nur eine ganz kurze Strecke lang, mühsam, als wäre er zu schwer, um überhaupt bewegt zu werden. Und doch schienen seine Beine unter den hängenden Kanten des Ponchos nicht viel dicker als die beiden Stöcke in seinen Händen. Ein unaufhörliches Zittern erschütterte seinen gebeugten Leib, alle die geschändeten Glieder, den knochigen Kopf, den kegelförmigen, zerfransten Sombrero, dessen schlappe Krempe ihm auf die Schultern fiel.
In solcher äußeren und inneren Verfassung ging Doktor Monygham aus, um seine neue Freiheit in Besitz zu nehmen. Und diese Verfassung schien ihn unlösbar an das Land Costaguana zu ketten, wie ein schauerliches Einbürgerungsverfahren, das ihn eng mit dem nationalen Leben verbunden hatte, viel enger, als es durch noch so viele Ehren und Erfolge möglich gewesen wäre. Er büßte dabei sein Europäertum ein; denn Doktor Monygham hatte sich eine gefühlsmäßige Auffassung von seinem Unglück gebildet. Es war eine Auffassung, wie sie sich für einen Offizier und Gentleman durchaus schickte. Doktor Monygham war, bevor er nach Costaguana gegangen, Wundarzt in einem von Ihrer Majestät Regimentern zu Fuß gewesen. Seine Auffassung trug physiologischen Tatsachen oder vernünftigen Beweisgründen keine Rechnung, war aber darum nicht töricht; nur einfach. Eine Richtschnur, die sich hauptsächlich aus scharfer Verneinung herleitet, ist notwendig einfach. Doktor Monyghams Ansichten über das, was sich für ihn schickte, waren streng; sie waren gefühlsmäßig, insofern sie die phantasievolle Übersteigerung eines an sich richtigen Gefühls darstellten. Auch zeugten sie durch ihren hartnäckigen, nachdrücklichen Einfluß von des Doktors innerer Treue.
In Doktor Monygham lag ein Schatz an Treue. Er hatte ihn ganz an Frau Gould gewandt. Er hielt sie jeder Hingabe für würdig. Auf dem Grund seines Herzens empfand er ein ärgerliches Unbehagen wegen des Aufschwungs der San Tomé-Mine, weil dieser Aufschwung der Frau alle Seelenruhe raubte. Costaguana war kein Platz für eine Frau dieses Schlages. Was mochte nur Carlos Gould gedacht haben, als er sie hier herausbrachte! Es war empörend! Und der Doktor hatte den Verlauf der Ereignisse mit einer grimmigen Zurückhaltung verfolgt, die, wie er sich einbildete, seine jämmerliche Geschichte ihm auferlegte.
Die Treue zu Frau Gould konnte natürlich nicht die Sicherheit ihres Gatten außer acht lassen. Der Doktor hatte es so eingerichtet, daß er sich im kritischen Augenblick in der Stadt befunden hatte, weil er Carlos Gould mißtraute. Er betrachtete ihn als hoffnungslos behaftet mit dem Irrsinn der Revolution. Darum hinkte er an jenem Morgen bekümmert im Wohnzimmer der Frau Gould herum, mit dem ärgerlichen Ausruf: »Decoud! Decoud!«
Frau Gould, leicht errötet, sah aus glänzenden Augen starr vor sich hin, unter dem zermalmenden Eindruck des Unglücks. Die Fingerspitzen ihrer Hand ruhten leicht auf einem niedrigen Tischchen neben ihr, und der Arm zitterte bis zur Schulter hinauf. Die Sonne, die spät nach Sulaco kommt, wenn sie in voller Macht hoch auf dem Himmel über dem schneeigen Kamm des Higuerota auftaucht, die Sonne hatte das zarte, perlgraue Licht, in dem die Stadt während der frühen Morgenstunden liegt, in scharfgeteilte Massen schwarzer Schatten und blendenden Glanzes gespalten. Drei lange Rechtecke von Sonnenschein fielen durch die Fenster der Sala; gerade gegenüber aber, jenseits der Straße, lag das Haus der Avellanos ganz düster in seinem eigenen Schatten.
Eine Stimme sagte von der Türe her: »Was ist mit Decoud?«
Es war Carlos Gould. Sie hatten ihn nicht durch den Korridor kommen hören. Sein Blick streifte seine Frau und richtete sich dann voll auf den Doktor.
»Sie haben Nachrichten gebracht?«
Doktor Monygham sprudelte alles auf einmal heraus. Noch nachdem er geendet hatte, sah ihn der Administrator wortlos an. Frau Gould ließ sich, die Hände schlaff im Schoß, in einen niedrigen Stuhl sinken. Schweigen herrschte zwischen den drei reglosen Menschen. Dann sprach Charles Gould:
»Sie werden ein bißchen Frühstück nötig haben.«
Er trat beiseite, um seiner Frau den Vortritt zu lassen. Sie faßte im Hinausgehen die Hände ihres Gatten, drückte sie leicht und führte das Taschentuch an die Augen. Der Anblick ihres Gatten hatte ihr Antonias Lage in Erinnerung gebracht, und beim Gedanken an das arme Mädchen konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Als sie sich im Speisesaal wieder bei den Männern einfand, nachdem sie ihr Gesicht gebadet hatte, sagte Carlos Gould eben über den Tisch weg zum Doktor:
»Nein, es scheint wirklich kein Zweifel möglich.«
Und der Doktor stimmte zu.
»Nein, ich sehe selbst nicht ein, wie wir die Geschichte dieses verwünschten Hirsch in Zweifel ziehen könnten. Sie ist nur zu wahr, fürchte ich.«
Sie setzte sich trostlos an das Kopfende des Tisches und sah von einem zum andern. Die beiden Männer versuchten ihrem Blick auszuweichen, ohne geradezu den Kopf zu wenden. Der Doktor tat sogar, als ob er hungrig wäre; er faßte Messer und Gabel und begann zu essen, wie auf der Bühne. Carlos Gould gab nichts dergleichen vor; beide Ellbogen waagrecht ausgestreckt, drehte er beide Enden seines flammroten Schnurrbartes; sie waren so lang, daß seine Hände ziemlich weit vom Gesicht wegblieben.
»Ich bin nicht überrascht«, murmelte er, ließ seinen Bart sein und legte einen Arm über die Rücklehne seines Stuhls. Sein Gesicht hatte den unbewegten, ruhigen Ausdruck, der von hartem, innerem Kampfe zeugt. Er fühlte, daß dieser Zwischenfall ihn Aug' in Auge all den Folgen seines Verhaltens gegenüberstellte, mit seinen bewußten und unbewußten Absichten. Nun mußte es ein Ende haben mit seiner schweigenden Zurückhaltung, mit dem Anschein von Unergründlichkeit, hinter den sich seine Würde gerettet hatte. Diese harmlose Art von Verstellung hatte ihm das Zerrbild eines Staatsgebildes aufgedrängt, das seinen Verstand, seine Rechtschaffenheit und sein Rechtsgefühl in gleicher Weise beleidigte. Er war ganz wie sein Vater. Er hatte keinen ironischen Blick. Er konnte keinen Spaß an den Torheiten finden, die in dieser Welt überwiegen. Sie verletzten seinen eingeborenen Ernst. Er fühlte, daß der elende Tod dieses armen Decoud ihn der unangreifbaren Stellung einer Macht im Hintergrund beraubte. Dieser Tod stellte ihn öffentlich bloß, außer er hätte das Spiel aufgeben wollen – und das war unmöglich. Die materiellen Interessen verlangten von ihm das Opfer seiner Erhabenheit – vielleicht noch seiner eigenen Sicherheit dazu. Und er überlegte, daß Decouds Trennungsplan nicht mit dem verlorenen Silber untergegangen war.
Einzig unverändert war nur seine Stellung Herrn Holroyd gegenüber. Der Beherrscher der Silber- und Stahlinteressen war mit einer Art von Leidenschaft in die Angelegenheiten von Costaguana eingetreten. Costaguana war ihm zur Lebensnotwendigkeit geworden: in der San Tomé-Mine hatte seine Phantasie die Befriedigung gefunden, die andersgeartete Gemüter im Drama, in der Kunst oder in einem gefährlichen und reizvollen Sport finden könnten. Diese besondere Laune des Großen Mannes erschien durch eine moralische Absicht gerechtfertigt, großartig genug, um der Eitelkeit zu schmeicheln. Sogar noch in dieser Verirrung seines Genies diente er dem Fortschritt der Welt, Carlos Gould war sicher, genau verstanden und mit der Nachsicht beurteilt zu werden, die ihrer gemeinsamen Leidenschaft entsprach. Nun konnte nichts mehr seinen Großen Mann überraschen oder erschrecken. Und Carlos Gould sah sich schon einen Brief nach San Franzisko schreiben, etwa in den Worten: ». . . Die Männer an der Spitze der Bewegung sind tot oder geflohen, die Zivilorganisation der Provinz ist für den Augenblick zu Ende, die Blanco-Partei ist niedergebrochen, unentschuldbar, aber ganz in der Art, die dieses Land kennzeichnet. Doch Barrios in Cayta ist noch ungeschwächt und behält seinen Wert. Ich bin gezwungen, offen den Plan einer Provinzrevolution aufzunehmen, als den einzigen Weg, die ungeheuren materiellen Interessen, die mit dem Frieden und der Wohlfahrt von Sulaco verknüpft sind, auf dauerhafte Grundlage zu stellen . . .« Das war klar, er sah diese Worte wie mit feurigen Buchstaben an die Wand geschrieben, die er geistesabwesend anstarrte.
Frau Gould beobachtete angstvoll diese Versunkenheit. Sie bedeutete für sie ein unheilvolles häusliches Ereignis, das Kälte und Dunkelheit im Hause schuf, wie eine Gewitterwolke, die sich vor die Sonne legt. Charles Goulds Anfälle von Versunkenheit zeigten die starre Sammlung eines Willens an, der von einer fixen Idee besessen ist. Ein Mann, von einer fixen Idee besessen, ist nicht zurechnungsfähig; er ist gefährlich, auch wenn die Idee an sich gerecht ist; denn könnte er nicht erbarmungslos den Himmel auf ein geliebtes Haupt niederstürzen lassen? Frau Goulds Augen, die auf ihres Gatten Profil gerichtet waren, füllten sich wieder mit Tränen. Und wieder glaubte sie die Verzweiflung der unglücklichen Antonia vor sich zu sehen.
»Was hätte ich wohl getan, wenn Carlos während unserer Verlobungszeit ertrunken wäre?« fragte sie sich entsetzt. Ihr Herz wurde zu Eis, und dabei glühten ihre Wangen, versengt von den Flammen eines Scheiterhaufens, die alle ihre irdischen Zuneigungen verzehrten. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen.
»Antonia wird sich töten!« weinte sie auf.
Dieses Weinen schuf in dem schweigenden Raum merkwürdig geringe Wirkung. Nur der Doktor, der, den Kopf seitlich geneigt, ein Stück Brot zerkrümelte, hob das Gesicht, und die einzelnen langen Haare zwischen seinen schütteren Augenbrauen zitterten von der leichten Bewegung. Doktor Monygham war ganz ernsthaft der Meinung, Decoud sei ein besonders unwürdiger Gegenstand für eine Frauenliebe. Dann senkte er den Kopf wieder, schürzte die Lippen und war im Herzen voll von zärtlicher Bewunderung für Frau Gould.
»Sie denkt an dieses Mädchen«, sagte er sich. »Sie denkt an die Viola-Kinder; sie denkt an mich; an die Verwundeten; an die Bergleute; sie denkt immer an alle, die arm und elend sind. Was aber wird sie tun, wenn Charles in diesem furchtbaren Kampfe unterliegt, in den ihn die verwünschten Avellanos hineingezogen haben? Kein Mensch scheint an sie zu denken.«
Charles Gould starrte immer noch auf die Wand und fuhr in seinen stummen Erwägungen fort.
»Ich werde Holroyd schreiben, daß die San Tomé-Mine groß genug ist, um die Schöpfung eines neuen Staates in die Hand nehmen zu können. Es wird ihn freuen. Es wird ihn mit der Gefahr aussöhnen.«
Aber war Barrios wirklich zuverlässig? Vielleicht. Doch war er unerreichbar. Ein Boot nach Cayta zu schicken, war nicht mehr möglich, da Sotillo Herr des Hafens war und einen Dampfer zu seiner Verfügung hatte. Und nun, da alle Demokraten in der Provinz und jedes Städtchen im Campo in Aufruhr waren – wo würde man einen Mann finden können, der sich erfolgreich auf dem Landwege, in mindestens zehntägigem Ritt, mit einer Botschaft nach Cayta durchschlagen würde? Einen mutigen, entschlossenen Mann, der der Verhaftung oder Ermordung entgehen und, wenn verhaftet, getreulich das Papier verschlucken würde? Der Capataz der Cargadores wäre gerade so ein Mann gewesen. Aber der Capataz der Cargadores war nicht mehr.
Und Carlos Gould riß den Blick von der Wand los und sagte leise: »Dieser Hirsch! Wie außerordentlich! Hat sich gerettet, indem er sich an den Anker klammerte, wie? Ich hatte keine Ahnung, daß er noch in Sulaco war. Ich dachte, er wäre auf dem Landweg vor mehr als einer Woche nach Esmeralda zurückgereist. Er kam einmal hierher, um mit mir über sein Häutegeschäft und andere Fragen zu sprechen. Ich legte ihm klar, daß nichts zu machen wäre.«
»Er fürchtete sich, zurückzureisen, weil Hernandez um die Wege war«, bemerkte der Doktor.
»Und ohne ihn hätten wir vielleicht gar nicht erfahren, was geschehen ist«, staunte Carlos Gould.
Frau Gould weinte auf.
»Antonia darf es nicht erfahren! Man darf es ihr nicht sagen. Nicht jetzt.«
»Es ist nicht wahrscheinlich, daß jemand ihr die Nachricht bringt«, meinte der Doktor. »Niemand liegt etwas daran. Überdies fürchten sich die Leute hier vor Hernandez wie vor dem Teufel.« Er wandte sich an Carlos Gould. »Das ist sogar sehr schlimm, denn wollten Sie mit den Flüchtlingen in Verbindung treten, so könnten Sie keinen Boten finden. Als Hernandez hundert Meilen weit weg von hier lagerte, schauderte das Volk von Sulaco bei den Geschichten, daß er seine Gefangenen lebendig röste.«
»Ja«, murmelte Carlos Gould, »Kapitän Mitchells Capataz war der einzige Mann in der Stadt, der Hernandez von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Vater Corbelàn verwendete ihn. Er nahm als erster die Beziehung auf. Es ist schade, daß . . .«
Seine Stimme wurde durch das Dröhnen der großen Glocke in der Kathedrale übertönt. Drei einzelne Schläge, einer nach dem anderen, hallten auf und erstarben in tiefem, weichem Nachschwingen. Und dann erklangen, alle auf einmal, die Glocken in den Türmen jeder Kirche, jedes Klosters, jeder Kapelle in der Stadt, auch solcher, die seit Jahren verschlossen gewesen waren. Das wütende metallische Getöse weckte Bilder von Gewalt und Aufruhr mit solcher Eindringlichkeit, daß Frau Goulds Wangen erblaßten. Basilio, der bei Tisch aufgewartet hatte, kroch in sich zusammen und klammerte sich mit klappernden Zähnen an den Anrichtetisch. Es war unmöglich, das eigene Wort zu verstehen.
»Schließ die Fenster!« rief ihm Charles Gould ärgerlich zu. Alle die anderen Dienstboten, entsetzt über das vermeintliche Signal zum allgemeinen Gemetzel, waren in den ersten Stock hinaufgestürzt, übereinander stolpernd, Männer und Frauen, die niedrigen und gemeinhin unsichtbaren Bewohner des Erdgeschosses an den vier Seiten des Innenhofes. Die Frauen kreischten »Misericordia!« und rannten bis ins Zimmer, warfen sich längs der Wände auf die Knie und begannen sich krampfhaft zu bekreuzigen. Die starr blickenden Köpfe der Männer füllten in einem Augenblick den Türrahmen – Mozos aus dem Stall, Gärtner, unsichtbare Helfer, die von den Brosamen des reichen Hauses lebten –, und Charles Gould konnte die ganze Schar seines Gesindes überblicken, bis zum Torhüter hinunter. Der war ein halbgelähmter alter Mann, dem lange weiße Locken bis über die Schultern fielen: ein Erbstück, das Charles Gould aus Familiensinn beibehalten hatte. Er konnte sich an Henry Gould erinnern, den Engländer und Costaguanero aus der zweiten Generation, das Oberhaupt der Provinz Sulaco. Er war durch viele Jahre, in Frieden und Krieg, sein persönlicher Mozo gewesen; hatte die Erlaubnis erhalten, seinen Herrn im Gefängnis zu bedienen; war an dem unglücklichen Morgen dem Hinrichtungspeloton gefolgt; hatte, hinter einer der Zypressen längs der Mauer des Franziskanerklosters hervorlugend, gesehen – und die Augen waren ihm fast aus dem Kopf gesprungen –, wie Don Enrique die Arme hochwarf und mit dem Gesicht in den Staub fiel. Carlos Gould bemerkte besonders das große, patriarchalische Haupt dieses Zeugen in der letzten Reihe der anderen Dienstboten, Doch er war überrascht, auch eine oder zwei verschrumpelte alte Hexen zu sehen, von deren Dasein innerhalb der Wände seines Hauses er keine Ahnung gehabt hatte. Sie mußten wohl die Mütter oder vielleicht die Großmütter einiger seiner Leute sein. Auch ein paar Kinder waren da, mehr oder weniger nackt, die sich weinend an die Beine ihrer Eltern klammerten. Nie zuvor hatte er in seinem Innenhof auch nur die Spur eines Kindes bemerkt. Sogar Leonarda, die Zofe, drängte sich erschreckt herein, mit dem verzogenen, schmollenden Gesicht einer Lieblingsdienerin, und führte die Violamädchen an der Hand. Das Geschirr klapperte auf dem Tisch und der Anrichte, und das ganze Haus schien in den betäubenden Klangwellen zu schwanken.