Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Vierundvierzigstes Kapitel

Ich glaube nicht, daß sie nochmals zusammen sprachen. Das Boot wurde mit den Rudern, die sie auf zerbröckelnde Ufer aufstützten, in einen engen Seitenarm hineingestoßen, und es herrschte ein Düster, als ob sich über dem Nebel, der den Raum bis in die Wipfel der Bäume ausfüllte, riesenhafte schwarze Flügel ausbreiteten. Auf ein Gemurmel von Cornelius befahl Brown seinen Leuten, zu laden. »Ich will euch noch eine Gelegenheit geben, ins gleiche mit ihnen zu kommen, ihr elenden Krüppel, ehe es mit euch aus ist«, sagte er zu seiner Bande. »Paßt auf, daß es nicht umsonst ist – ihr Hunde.« Leises Murren antwortete dieser Rede. Cornelius machte viel Wesens um die Sicherheit seines Kanus.

Mittlerweile hatte Tamb' Itam sein Ziel erreicht. Der Nebel hatte ihn wohl etwas aufgehalten, doch er hatte gleichmäßig gerudert und sich am südlichen Ufer gehalten. Allmählich erschien das Tageslicht wie der Schimmer in einer mattgeschliffenen Glaskugel. Dunkler Rauch bildete sich auf beiden Ufern, in dem man verschwommene, säulenartige Formen und hoch oben Schatten von wirrem Gezweig wahrnehmen konnte. Der Nebel lag noch dick auf dem Wasser, aber es wurde gute Wache gehalten, denn als Tamb' Itam sich dem Lager näherte, tauchten zwei Männer aus dem weißen Dunst, und Stimmen drangen lärmend auf ihn ein. Er antwortete, und sofort lag ein Kanu längsseit, und er tauschte Nachrichten mit den Ruderern. Alles war in Ordnung. Die Gefahr war vorbei. Dann ließen die Männer im Kanu seinen Einbaum, den sie gehalten hatten, los und kamen sofort außer Sicht. Er verfolgte seinen Weg, bis er Stimmen hörte, die ruhig zu ihm über das Wasser klangen, und unter dem nun aufsteigenden, zerflatternden Nebel den Schein von vielen kleinen Feuern erblickte, die auf einer sandigen Fläche brannten, mit hohen, schlanken Baumstämmen und Büschen im Hintergrund. Auch hier wurde gute Wache gehalten, denn er wurde angerufen. Er schrie seinen Namen, während die letzten zwei Ruderschläge sein Kanu auf Strand setzten. Es war ein großes Feldlager. Männer kauerten in vielen kleinen Gruppen, unter dem gedämpften Murmeln früher Morgengespräche. Dünne Rauchfäden schlängelten sich langsam über den weißen Nebel. Kleine, über den Boden erhöhte Hütten waren für die Anführer errichtet worden. Musketen waren in kleine Pyramiden gesetzt und lange Speere einzeln neben den Feuern in den Sand eingerammt.

Tamb' Itam nahm eine wichtige Miene an und verlangte, zu Dain Waris geführt zu werden. Er fand den Freund seines weißen Herrn auf einem erhöhten Lager aus Bambuszweigen, mit einem Schutzdach darüber, das aus Stöcken gemacht und mit Matten bedeckt war. Dain Waris war wach, und ein großes Feuer brannte vor seinem Ruhelager, das einer rohgezimmerten Kapelle glich. Der einzige Sohn des nakboda Doramin erwiderte seinen Gruß freundlich. Tamb' Itam fing damit an, daß er ihm den Ring einhändigte, der die Wahrheit seiner Botschaft verbürgte. Dain Waris, auf seinen Ellbogen gestützt, forderte ihn auf, zu sprechen und fragte ihn, was es Neues gäbe. Mit der geheiligten Formel beginnend: »Die Neuigkeit ist gut«, übermittelte Tamb' Itam Jims eigene Worte. Die Weißen, die mit der Zustimmung aller Anführer abzogen, sollten unbehelligt durchgelassen werden. In Erwiderung einer oder zweier Fragen berichtete Tamb' Itam alsdann die Beschlüsse der letzten Ratssitzung. Dain Waris hörte ihn aufmerksam zu Ende, spielte dabei mit dem Ring und steckte ihn schließlich an den Zeigefinger seiner rechten Hand. Nachdem er alles angehört hatte, was Tamb' Itam zu sagen hatte, entließ er ihn, damit er der Ruhe pflege und sich stärke. Sofort wurden auch Anordnungen für die Rückkehr am Nachmittag getroffen. Hierauf legte sich Dain Waris wieder hin und lag mit offenen Augen, während ihm seine persönlichen Diener an dem Feuer, an welchem auch Tamb' Itam saß und den Männern die letzten Neuigkeiten aus der Stadt berichtete, das Mahl bereiteten. Die Sonne zehrte den Nebel auf. Auf der Strecke des Hauptstroms, wo das Erscheinen des Boots der Weißen jeden Augenblick zu erwarten war, hielt man sorgsam Wache.

Da war es, daß Brown seine Rache an der Welt nahm, die ihm, nachdem er zwanzig Jahre lang aufs schnödeste gegen sie angegangen war, den Erfolg eines gemeinen Raubzugs verweigerte. Es war eine Tat kaltblütiger Grausamkeit, und die Erinnerung an seinen unbezähmbaren Trotz tröstete ihn noch auf dem Totenbett. Heimlich ließ er seine Leute auf der andern Seite der Insel, dem Bugislager gegenüber, landen und führte sie hinüber. Nach einem kurzen, ganz wortlosen Ringen mußte sich Cornelius, der sich im Augenblick der Landung fortzuschleichen versucht hatte, herbeilassen, den Weg zu zeigen, wo das Unterholz am dünnsten war. Browns große Faust hielt ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und zwang ihn dann und wann mit einem heftigen Stoß vorwärts. Cornelius blieb stumm wie ein Fisch, widerwillig, doch treu seinem Vorhaben, dessen Ausführung ihm unklar vorschwebte. Am Rand des Fleckchens Wald verteilten sich die Männer und warteten. Das Lager war voll von einem Ende zum andern, und niemand sah nach ihnen hin. Keiner hatte eine Ahnung, daß die weißen Männer von dem engen Seitenarm hinter der Insel Kenntnis haben könnten. Als Brown den Augenblick für gekommen hielt, schrie er: »Los!«, und vierzehn Schüsse krachten wie ein einziger.

Tamb' Itam sagte mir, die Überraschung sei so groß gewesen, daß außer denen, die tot oder verwundet niederfielen, noch lange nach der ersten Salve keine Seele sich rührte. Dann schrie ein Mann auf, und nach diesem Schrei entrangen sich allen Kehlen gellende Laute des Entsetzens. Eine blinde Panik trieb diese Männer als wilde, führerlose Schar auf und ab dem Ufer entlang, wie eine Viehherde, die sich vor dem Wasser fürchtet. Einige wenige sprangen in den Fluß, die meisten aber erst nach der letzten Salve. Dreimal feuerten die Männer in den Haufen, und Brown, der einzige, der sichtbar war, fluchte und schrie: »Niedrig zielen! Niedrig zielen!«

Tamb' Itam sagte, daß er für seine Person gleich beim ersten Knall begriffen habe, was geschehen war. Obwohl er nicht getroffen war, fiel er hin und lag wie tot, aber mit offenen Augen. Bei den ersten Schüssen sprang Dain Waris von seinem Lager auf und lief hinaus ans offene Ufer, gerade rechtzeitig, um bei der zweiten Salve eine Kugel in die Stirn zu bekommen. Tamb' Itam sah, wie er die Arme weit ausstreckte, bevor er hinfiel. Dann, sagte er, beschlich ihn eine große Furcht – nicht vorher. Die weißen Männer verschwanden, wie sie gekommen waren – ungesehen.

Also beglich Brown seine Rechung mit dem Mißgeschick. Beachten Sie, daß selbst in diesem furchtbaren Ausbruch eine Überlegenheit liegt, wie die eines Mannes, der sein Recht – diese abstrakte Sache – in der Umhüllung seiner gemeinen Wünsche trägt. Es war keine gemeine, verräterische Metzelei; es war eine Lehre, eine Vergeltung – die Offenbarung einer dunklen und grauenvollen Anlage unserer Natur, die, fürchte ich, nicht so tief unter der Oberfläche liegt, wie wir gern glauben möchten.

Hernach machen sich die Weißen, von Tamb' Itam ungesehen, davon und scheinen wie versunken vor den Augen der Menschen. Auch der Schoner verschwindet, nach der Art gestohlenen Guts. Doch es geht die Kunde von einer weißen Pinasse, die einen Monat später im Indischen Ozean von einem Frachtdampfer aufgelesen wurde. Zwei vertrocknete, gelbe, flüsternde Gerippe bekannten sich zu der Oberhoheit eines dritten darin, der erklärte, daß sein Name Brown sei. Sein Schoner, berichtete er, mit einer Ladung Javazucker nach Süden bestimmt, sei bös leck gesprungen und ihm unter den Füßen gesunken. Er und seine Gefährten seien die überlebenden einer Besatzung von sechs Mann. Die zwei starben an Bord des Dampfers, der sie aufgenommen hatte. Brown lebte, um von mir gesehen zu werden, und ich kann bezeugen, daß er seine Rolle bis zuletzt spielte.

Es scheint jedoch, daß sie bei der Flucht versäumt hatten, Cornelius' Kanu loszumachen. Den Mann selbst hatte Brown zu Anfang des Schießens, mit einem Fußtritt als Scheidesegen, gehen lassen. Nachdem sich Tamb' Itam von den Toten erhoben hatte, sah er den Nazarener inmitten der Leichen und verlöschenden Feuer am Ufer auf und ab laufen. Er stieß kleine Schreie aus. Plötzlich rannte er ans Wasser und machte verzweifelte Anstrengungen, eines der Bugisboote ins Wasser zu befördern. »Dann stand er, bis er mich gesehen hatte«, erzählte Tamb' Itam, »im Anblick des schweren Kanus versunken und kratzte sich am Kopf.« – »Was wurde aus ihm?« fragte ich. Tamb' Itam sah mich scharf an und machte eine ausdrucksvolle Gebärde mit dem rechten Arm. »Zweimal stieß ich zu, Tuan«, sagte er. »Als er mich kommen sah, warf er sich heftig auf den Boden, erhob ein Geschrei und schlug um sich. Er kreischte wie eine erschrockene Henne, bis er die Spitze fühlte; dann war er still und starrte mich an, bis sein Leben aus seinen Augen entfloh.«

Nachdem Tamb' Itam dies vollbracht hatte, zögerte er nicht länger. Er begriff, wie wichtig es war, als erster mit der schrecklichen Nachricht im Fort zu sein. Es waren natürlich noch viele Überlebende von Dain Waris' Abteilung da; doch in der ersten maßlosen Verwirrung waren einige über den Fluß geschwommen, andere waren in den Wald geflohen. Die Sache war die, daß sie in der Tat nicht wußten, wer den Schlag geführt hatte – ob nicht noch mehr weiße Räuber kamen, ob sie nicht schon vom ganzen Land Besitz ergriffen hatten. Sie glaubten sich als Opfer eines ausgedehnten Verrats völliger Vernichtung geweiht. Es heißt, daß einige kleine Trupps erst nach drei Tagen wiederkamen. Einige jedoch versuchten, sofort nach Patusan zurückzukehren, und eins der Kanus, das an jenem Morgen den Fluß abgestreift hatte, war gerade im Augenblick des Überfalls in Sicht des Lagers. Allerdings sprangen die Männer im ersten Schreck über Bord und schwammen ans gegenüberliegende Ufer, doch späterhin kehrten sie zu ihrem Boot zurück und fuhren in großen Ängsten stromaufwärts. Vor diesen hatte Tamb' Itam einen Vorsprung von einer Stunde.


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