Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Dreizehntes Kapitel

Nach diesen Worten überließ er sich, ohne seine Haltung zu verändern, sozusagen widerstandslos völligem Schweigen. Ich leistete ihm Gesellschaft; und plötzlich, doch nicht unvermittelt, einfach so, als wäre nun wieder für seine gedämpfte, heisere Stimme der Zeitpunkt gekommen, sich aus dem starren Leib zu lösen, sagte er: »Mon Dieu, wie die Zeit vergeht!« Nichts konnte seichter sein als diese Bemerkung; aber sie traf gerade mit einem Gesicht zusammen, das ich gehabt hatte. Es ist seltsam, wie wir mit halbgeschlossenen Augen, tauben Ohren und schlummernden Gedanken durchs Leben gehen. Vielleicht ist es eben gut so; und es kann sein, daß gerade Stumpfheit das Leben für die unzählbare Mehrheit so erträglich und angenehm macht. Nichtsdestoweniger kann es nur wenige unter uns geben, die nicht jene seltenen Augenblicke des Erwachens gekannt hätten, wo wir in einem Aufblitzen unendlich viel – alles – hören, sehen und begreifen, bis wir wieder in unsere angenehme Schlaftrunkenheit zurücksinken. Ich hob den Blick, während er sprach, und sah ihn, als hätte ich ihn nie vorher gesehen. Ich sah sein auf die Brust gesunkenes Kinn, die plumpen Falten seines Rocks, seine gefalteten Hände, seine Unbeweglichkeit, die so seltsam stark den Eindruck eines Mannes erweckten, der ganz einfach nicht weitergekommen war. Die Zeit war in der Tat über ihn weggegangen: sie hatte ihn überholt und war vorangeeilt. Sie hatte ihn erbarmungslos mit ein paar armseligen Gaben zurückgelassen: dem eisengrauen Haar, der schweren Müdigkeit des von der Sonne gebräunten Gesichts, zwei Narben, ein Paar nicht mehr blanken Achselklappen; als einen jener stetigen, zuverlässigen Männer, die den Rohstoff großen Ruhms abgeben, eines jener ungezählten Leben, die man ohne Saug und Klang unter den Grundsteinen überragender Erfolge begräbt. »Ich bin jetzt Dritter Leutnant der Victorieuse« (sie war damals Admiralschiff des französischen Pacificgeschwaders), sagte er, während er seine Schultern ein paar Zoll von der Wand entfernte, um sich vorzustellen. Ich verbeugte mich leicht auf meiner Seite des Tisches und sagte ihm, daß ich ein Kauffahrteischiff befehlige, das zur Zeit in Rushcutters Bai vor Anker lag. Er hatte es »bemerkt« – ein nettes kleines Fahrzeug. Er war dabei in seiner ungelenken Art sehr höflich. Ich glaube, er ging sogar so weit, seinen Kopf zu einem Kompliment auf die Seite zu legen, indem er, tief atmend, wiederholte: »Ja, ja. Ein kleines, schwarz gestrichenes Fahrzeug – sehr hübsch – sehr hübsch (très coquet).« Nach einer Weile drehte er sich langsam, um die Glastür zu unserer Rechten ins Auge zu fassen. »Eine langweilige Stadt (triste ville)«, bemerkte er mit einem Blick auf die Straße. Es war ein strahlender Tag; ein Südsturm wehte, und wir sahen, wie die Vorübergehenden auf den Bürgersteigen, Männer und Frauen, tüchtig vom Winde zerzaust und die sonnbeschienenen Häuserfronten gegenüber von hohen Staubwirbeln überflogen wurden. »Ich bin an Land gekommen, um mir die Füße ein wenig auszutreten, aber...« Er beendete den Satz nicht und versank wieder in seine tiefe Ruhe. »Bitte – sagen Sie mir«, begann er wieder, sich schwerfällig aufraffend, »was war eigentlich (au juste) auf dem Grund dieser Geschichte? Es ist alles so sonderbar. Der Tote, zum Beispiel – und anderes.« »Es gab auch Lebende«, sagte ich, »die noch sonderbarer waren.« »Fraglos, fraglos«, stimmte er kaum hörbar zu und murmelte dann, gleichsam nach reiflicher Überlegung: »Offenbar.« Ich nahm keinen Anstand, ihm das mitzuteilen, was mich an der Sache am meisten ergriffen hatte. Mir schien, er hätte ein Recht, es zu wissen: hatte er nicht dreißig Stunden an Bord der Patna zugebracht – hatte er nicht das Erbe angetreten, sozusagen, hatte er nicht sein möglichstes getan? Er hörte mir zu, mehr als je einem Priester ähnlich, mit niedergeschlagenen Augen, was ihm das Ansehen frommer Sammlung gab. Ein-, zweimal hob er die Brauen (doch ohne die Lider aufzuschlagen), als wollte er sagen: »Was zum Teufel!« Einmal rief er gemütsruhig: »Ah, bah!«, und als ich geendet hatte, schürzte er die Lippen in einer bedächtigen Art und ließ etwas wie ein bekümmertes Pfeifen hören.

Bei jedem andern wäre es vielleicht ein Zeichen von Langeweile, von Gleichgültigkeit gewesen; aber er brachte es auf eine Art, die sein Geheimnis war, zuwege, seine Unbeweglichkeit wie rege Anteilnahme und äußerst tiefsinnig wirken zu lassen. Was er schließlich sagte, war nichts weiter als: »Sehr interessant«, höflich und im Flüsterton gesprochen. Ehe ich noch meine Enttäuschung verwunden hatte, fügte er hinzu: »Das ist's. Das ist's.« Sein Kinn schien noch mehr auf die Brust zu sinken, sein Körper noch schwerer auf dem Sitz zu lasten. Ich war eben daran, ihn zu fragen, was er meinte, als etwas wie ein ankündigendes Zittern seinen ganzen Menschen überlief, so wie ein schwaches Gekräusel über eine stehende Wasserfläche fährt, noch ehe der Wind merkbar ist. »Und so ist dieser arme junge Mann also mit den andern durchgebrannt«, sagte er mit schwerem Ernst.

Ich weiß nicht, was mich zum Lächeln brachte: es ist das einzige unbefangene Lächeln, dessen ich mich im Zusammenhang mit Jims Geschichte entsinnen kann. Doch diese einfache Feststellung der Tatsache hörte sich französisch sehr komisch an... »S'est enfui avec les autres«, hatte der Leutnant gesagt. Und plötzlich fing ich an, die Einsicht des Mannes zu bewundern. Er hatte den springenden Punkt sofort erraten: er hatte das ausgesprochen, was mir allein wichtig war. Ich hatte das Gefühl, als holte ich über den Fall ein sachkundiges Gutachten ein. Seine unerschütterliche, reife Ruhe war die eines Sachverständigen, der die Tatsachen prüft und für den die Gefühlsverwirrungen eines andern reine Kindereien sind. »Ja, ja! Die Jugend, die Jugend!« sagte er mild. »Und übrigens, man stirbt nicht daran.« – »Woran?« fragte ich schnell. – »An der Angst«, erläuterte er seine Meinung und schlürfte sein Getränk.

Ich bemerkte, daß die drei letzten Finger seiner verletzten Hand steif waren und sich nicht unabhängig voneinander bewegen konnten, so daß er sein Glas mit einem ungeschickten Griff hochnehmen mußte. »Man hat immer Angst. Man mag reden, aber...« Er stellte das Glas mit einer linkischen Bewegung nieder... »Die Angst, die Angst, sehen Sie – ist immer da.« Er berührte seine Brust in der Nähe eines Messingknopfes, an derselben Stelle, wo Jim sich den Schlag gegeben hatte, um zu beweisen, daß sein Herz gesund sei. Ich muß wohl ein Zeichen abweichender Meinung gemacht haben, denn er fuhr beharrlich fort: »Ja! ja! Man redet, man redet; das ist alles ganz gut; aber am Ende vom Lied ist man nicht klüger als jeder andre – und nicht tapferer. Tapfer! Das ist nichts Besonderes. Ich habe mich in aller Herren Ländern herumgetrieben (roulé ma bosse)«, sagte er mit unerschütterlichem Ernst, »ich habe tapfere Männer, berühmte Männer gekannt! Allez!«... Er trank nachlässig... »Tapfer – Sie verstehen – im Dienst – muß man sein – das Handwerk verlangt es (le métier veut ça). Ist es nicht so?« fragte er dazwischen. »Eh bien! Jeder von ihnen – ich sage jeder von ihnen, wenn er ein ehrlicher Mann ist – bien entendu – würde zugeben, daß da ein Punkt ist – für die Besten von uns –, daß da irgendwo ein Punkt ist, wo man alles fahren läßt (vous lâcher tout). Und mit dieser Einsicht muß man leben – sehen Sie. Bei einem gewissen Zusammentreffen von Umständen tritt unfehlbar Furcht ein. Ganz elende Angst (un trac épouvantable). Und selbst diejenigen, die an diese Wahrheit nicht glauben, haben trotz alledem Furcht – Furcht vor sich selbst. Ganz unbedingt. Glauben Sie mir. Ja. Ja... In meinem Alter weiß man, was man spricht – que diable!« ... Er hatte all dies so unbeweglich vorgebracht, als spräche die Weisheit selbst aus ihm, doch nun verstärkte er noch den Eindruck des Unbeteiligtseins, indem er langsam die Daumen zu drehen anfing. »Es ist klar – parbleu!« fuhr er fort; »denn, nehmen Sie sich in die Hand so fest Sie wollen – ein einfaches Kopfweh oder eine Magenverstimmung (un dérangement d'estomac) genügt, um... Nehmen Sie mich, zum Beispiel – ich habe meine Beweise. Eh bien! Ich, der ich zu Ihnen spreche, habe einmal...«

Er leerte sein Glas und ließ wieder die Daumen spielen. »Nein, nein, man stirbt nicht daran«, sagte er schließlich, und als ich sah, daß er nicht gewillt war, die persönliche Anekdote weiterzuerzählen, war ich außerordentlich enttäuscht, um so mehr, da es etwas war, wozu man ihn nicht drängen konnte. Ich saß still da, und er gleichfalls, als könnte nichts ihm angenehmer sein. Sogar die Daumen ruhten. Plötzlich bewegten sich seine Lippen. »Das ist so«, faßte er seine Meinung gleichmütig zusammen: »Der Mensch wird als Feigling geboren (l'homme cst né poltron). Das ist eine Erschwerung – parbleu! Es wäre sonst gar zu leicht. Aber die Gewohnheit – die Gewohnheit – die Notwendigkeit – sehen Sie – die Augen der andern – voilá. Man bringt es hinter sich. Und dann das Beispiel der andern, die auch nicht besser sind und doch gute Haltung bewahren...«

Er brach ab.

»Der junge Mann – wollen Sie beachten – hatte keinen derartigen Rückhalt—wenigstens nicht im entscheidenden Augenblick«, bemerkte ich.

Er hob verzeihend die Brauen. »Nun, nun. Der betreffende junge Mann mag die besten Anlagen gehabt haben – die besten Anlagen«, wiederholte er und schnaufte ein wenig.

»Ich freue mich, zu sehen, daß Sie die Frage milde beurteilen«, sagte ich. »Sein eigenes Gefühl in der Sache war—ah! voller Hoffnung, und...«

Ein Scharren seiner Füße unter dem Tisch unterbrach mich. Er zog seine schweren Augenlider hoch. Er zog sie hoch, sage ich – keine andere Bezeichnung könnte die langsame Bedächtigkeit des Vorgangs schildern – und erschloß sich mir nun völlig. Ich sah mich zwei engen, grauen Kreisen gegenüber, die wie zwei winzige Stahlringe um tiefschwarze Pupillen lagen. Der Blick, der aus seinem massigen Körper drang, wirkte wie die haarscharfe Schneide an einem Schlachtbeil. »Verzeihung«, sagte er förmlich. Seine rechte Hand kam hoch, und er beugte sich vor. »Erlauben Sie mir... Ich behauptete, daß man sehr gut weiterleben kann mit dem Bewußtsein, daß der eigene Mut nicht von selber kommt (ne vient pas tout seul). Daran ist nichts, worüber man sich aufzuregen braucht. Eine Wahrheit mehr sollte das Leben nicht unmöglich machen... Aber die Ehre – die Ehre, monsieur!... Die Ehre... die ist wirklich – die besteht! Und was das Leben wert sein mag, wenn«... er stellte sich mit gewichtiger Heftigkeit auf die Füße, wie ein aufgeschreckter Ochse sich aus dem Grase hocharbeiten mag... »wenn die Ehre dahin ist – ah ça! par exemple –, darüber kann ich mich nicht äußern. Ich kann mich nicht darüber äußern, weil – monsieur – ich nichts davon weiß.«

Ich war gleichfalls aufgestanden, und indem wir unserer Haltung unendliche Höflichkeit einzuprägen suchten, sahen wir einander stumm ins Gesicht, wie zwei Porzellanhunde auf einem Kaminsims. Zum Henker mit dem Kerl! er hatte ins Schwarze getroffen. Der erkältende Hauch, der die Reden der Menschen belauert, hatte unsere Unterhaltung gestreift und entseelte die Worte zu leerem Schall. »Sehr wohl«, sagte ich mit verlegenem Lächeln; »aber könnte man sich nicht dahin einigen, daß es auf keine Formel zu bringen ist?« Es hatte den Anschein, als wollte er unverweilt erwidern, doch als er sprach, hatte er sich wohl anders besonnen. »Dies, monsieur, ist mir zu fein – viel zu hoch für mich –, ich denke nicht darüber nach.« Er beugte sich schwerfällig über seine Mütze, die er am Schirm zwischen dem Daumen und Zeigefinger seiner verwundeten Hand vor sich hinhielt. Auch ich verbeugte mich. Wir verbeugten uns gleichzeitig: wir machten uns gegenseitig zeremoniöse Kratzfüße, während ein schmutziger Bursche von Kellner uns kritisch zusah, als hätte er für die Vorstellung Eintritt bezahlt. »Serviteur«, sagte der Franzose. Noch ein Kratzfuß. »Monsieur« ... »Monsieur« ... Die Glastür fiel hinter seinem bäurischen Rücken ins Schloß. Ich sah, wie der südliche Brausewind ihn zu packen kriegte und wie er sich mit breiten Schultern, die Hand an der Mütze, und mit flatternden Rockschößen treiben ließ.

Ich setzte mich allein und entmutigt – entmutigt wegen Jims Fall – wieder hin. Wenn ihr euch wundert, daß er nach drei Jahren noch in mir lebendig war, so müßt ihr wissen, daß ich den Jungen erst kürzlich gesehen hatte. Ich war geradewegs von Samarang gekommen, wo ich eine Ladung für Sydney eingenommen hatte: ein völlig reizloses Geschäft – was Charley hier eine meiner rationellen Transaktionen nennen würde –, und in Samarang hatte ich Jim flüchtig gesehen. Er arbeitete auf meine Empfehlung für De Jongh. Als Wasserkommis. »Mein Vertreter auf dem Wasser«, wie De Jongh ihn nannte. Man kann sich keine Lebensweise denken, die so trostlos, so jedes Reizes bar wäre – es sei denn die Tätigkeit eines Versicherungsagenten. Ich weiß nicht, wie Jims Seele sich den neuen Lebensbedingungen anpaßte – ich war aus allen Kräften bemüht gewesen, ihm eine Arbeit zu verschaffen, die Leib und Seele zusammenhält –, aber ich bin ziemlich sicher, daß seine nach Abenteuern dürstende Phantasie alle Qualen des Verschmachtens litt. Gewiß gab es nichts in diesem neuen Beruf, woran sie sich hätte erquicken können. Es war peinigend, ihn am Werk zu sehn, obwohl man anerkennen muß, daß er mit beharrlicher Gelassenheit seines Amts waltete. Ich sah ihm bei seiner armseligen Plackerei mit dem geheimen Hintergedanken zu, daß sie eine Strafe für die heroischen Ausschweifungen seiner Phantasie war, eine Buße für sein Jagen nach mehr Glanz, als er vertrug. Er hatte sich zu leidenschaftlich dem Wahn hingegeben, ein feuriger Renner zu sein, und nun war er dazu verurteilt, sich ruhmlos wie ein Karrengaul abzurackern. Es ging alles sehr gut. Er legte sich ins Zeug, beugte den Kopf unters Joch und sagte nie ein Wort. Sehr gut, wirklich sehr gut – bis auf gewisse phantastische, heftige Ausbrüche, wenn es vorkam, daß der nicht auszurottende Fall Patna wieder auftauchte. Dieser Skandal der östlichen Meere war nicht aus der Welt zu schaffen. Und dies war der Grund, warum ich mit Jim nie ganz fertig wurde.

Ich saß in Gedanken über ihn versunken, nachdem der französische Leutnant weggegangen war; doch nicht in Verbindung mit De Jonghs muffigem Laden, wo wir uns zuletzt begegnet waren, erschien mir sein Bild, sondern so, wie ich ihn vor Jahren gesehen hatte, allein mit mir, bei spärlichem Kerzenschein, in der langen Galerie des Malabar-Hauses, mit der Kühle und Stille der Nacht als Hintergrund. Das ehrwürdige Schwert des Gesetzes seiner Heimat hing über seinem Kopf. Morgen – oder vielleicht schon heute (Mitternacht war längst vorüber, als wir auseinandergingen) würde der Polizeirichter mit dem Marmorgesicht, nachdem er im Prozeß wegen tätlicher Beleidigung Geld- und Gefängnisstrafen ausgeteilt hatte, die schreckliche Waffe ergreifen und seinen niedergebogenen Hals treffen. Unser Zusammensein in der Nacht glich ungemein der letzten Nachtwache mit einem zum Tode Verurteilten. Er war auch schuldig. Er war schuldig und ein verlorener Mann, wie ich mir wiederholt gesagt hatte; nichtsdestoweniger wünschte ich ihm die Einzelheiten einer formalen Hinrichtung zu ersparen. Ich unterfange mich nicht, meinen Wunsch zu begründen; ich glaube nicht, daß es mir gelingen würde; doch wenn ihr bis jetzt keinen Begriff von der Sache bekommen habt, so muß ich entweder sehr unklar in meiner Erzählung oder ihr zu schläfrig gewesen sein, um den Sinn meiner Worte zu erfassen. Ich will meine Moral nicht verteidigen. Es war nichts von Moral, was mich dazu trieb, ihm Brierlys Fluchtplan – so kann man's wohl nennen – in seiner ganzen kunstlosen Einfachheit vorzulegen. Ich hatte die Rupien in meiner Tasche; sie standen ganz zu seiner Verfügung. Oh! ein Darlehen, ein Darlehen natürlich –, und wenn eine Empfehlung an einen Mann (in Rangoon) ihm nützen könnte – gewiß! mit dem größten Vergnügen. Ich hatte Feder, Tinte und Papier in meinem Zimmer im ersten Stock. Und ich wartete nur darauf, den Brief anzufangen. Tag, Monat, Jahr, 2.30 a. m— »Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie Herrn James Soundso zu einer Tätigkeit verhelfen wollten. Sie würden in ihm...« usw. usw. In dieser Weise wollte ich über ihn schreiben. Wenn er nicht meine Sympathie gewonnen hatte, so hatte er Besseres erreicht – er war zu dem Quell und Ursprung dieses Gefühls vorgedrungen, hatte die geheime Triebkraft meiner Eigenliebe in Schwingung gebracht. Ich verberge nichts vor euch, denn wenn ich es täte, würde euch meine Handlungsweise unverständlicher erscheinen, als es erlaubt ist, und überdies – morgen werdet ihr meine Aufrichtigkeit mitsamt den übrigen Lehren der Vergangenheit vergessen haben. Bei dieser ganzen Sache war ich, kurz und gut, der makellose Mann; aber die geheimen Absichten meiner Unmoral wurden von der sittlichen Unverdorbenheit des Verbrechers vereitelt. Ohne Zweifel war auch er selbstisch, aber seine Selbstsucht hatte eine edlere Herkunft, ein höheres Ziel. Ich überzeugte mich, daß er, was ich auch sagen mochte, nicht davon abstehen wollte, die Zeremonie der Hinrichtung über sich ergehen zu lassen. Ich sagte auch nicht viel, denn ich fühlte, wie sehr seine Jugend gegen mich im Vorteil war: wo er noch glaubte, hatte ich schon zu zweifeln aufgehört. Es war etwas Sieghaftes in der Wildheit seiner unausgesprochenen, ihm selbst kaum bewußten Hoffnung. »Ausreißen! Undenkbar!« sagte er kopfschüttelnd. – »Ich mache Ihnen ein Anerbieten, für welches ich keinerlei Dankbarkeit weder verlange noch erwarte«, sagte ich; »Sie sollen das Geld zurückerstatten, wann es Ihnen paßt, und...« – »Unendlich gut von Ihnen«, murmelte er, ohne aufzublicken. Ich beobachtete ihn aufmerksam: die Zukunft mußte ihm schrecklich unsicher scheinen; aber er schwankte nicht, wie zum Beweis, daß sein Herz wirklich gesund war. Ich war etwas ärgerlich, nicht zum erstenmal an diesem Abend. »Ich sollte meinen, diese ganze erbärmliche Sache sei bitter genug für einen Mann Ihres Schlages...« sagte ich. – »Allerdings, allerdings«, flüsterte er zweimal mit niedergeschlagenen Augen. Es war herzzerreißend. Das Licht der Kerze fiel auf ihn, und ich konnte den Flaum auf seinen Wangen sehen; ein warmes Rot färbte die glatte Haut. Glaubt mir oder nicht, ich sage, es war wirklich herzzerreißend. Es reizte mich zur Roheit. »Ja«, sagte ich; »und ich muß gestehen, daß ich gänzlich außerstande bin, einzusehen, welchen Vorteil Sie sich davon versprechen, daß Sie den Becher bis zur Neige leeren.« – »Vorteil!« murmelte er aus seinem Brüten heraus. – »Ich will verdammt sein, wenn ich es begreife«, sagte ich wütend. – »Ich habe versucht, Ihnen alles zu sagen, was dahinter ist«, begann er langsam, als überlegte er etwas, was nicht zu beantworten war. »Aber schließlich ist es meine Sache.« Ich öffnete die Lippen zur Erwiderung, doch plötzlich fand ich, daß ich alles Vertrauen zu mir selbst verloren hatte; und es schien, daß auch er mich aufgegeben hatte, denn er sprach vor sich hin wie einer, der halblaut denkt. »Sie sind fort... ins Spital gegangen... keiner wollte es ausfechten... Die!...« Er machte eine leichte Handbewegung, die Verachtung ausdrückte. »Doch ich muß das durchkosten und darf mir nichts schenken... nein, ich will mir nichts schenken.« Er schwieg. Er starrte, wie von Geistern verfolgt, vor sich hin. Sein abwesender Gesichtsausdruck spiegelte abwechselnd und wie im Fluge Verachtung, Verzweiflung, Entschlossenheit – gleichwie ein Zauberspiegel die gleitenden Schatten unirdischer Gestalten zurückwerfen würde. Er war von trügerischen Geistern, von finsteren Schatten umgeben. »Ach, Unsinn, mein Lieber«, begann ich. Er machte eine Bewegung der Ungeduld. »Sie scheinen nicht zu verstehen«, sagte er eindringlich; dann sah er mir voll ins Gesicht und fügte hinzu: »Wenn ich auch gesprungen bin, so laufe ich doch nicht weg.« – »Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sagte ich und schloß einfältig: »Es haben sich manchmal schon bessere Männer als Sie aus dem Staub gemacht.« Er wurde über und über rot, während ich mir vor Verlegenheit fast die Zunge abbiß. »Schon möglich«, sagte er dann. »Ich bin nicht gut genug; ich kann es mir nicht leisten. Ich muß diese Sache auskämpfen – ich kämpfe sie jetzt aus.« Ich erhob mich, am ganzen Körper steif. Das Schweigen war peinlich, und um ihm ein Ende zu machen, fiel mir nichts Besseres ein, als in leichtem Ton zu bemerken: »Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist...« – »Ich kann mir denken, daß Sie genug von der Sache haben«, meinte er barsch: »und um Ihnen die Wahrheit zu sagen« – er sah sich suchend nach seinem Hut um –, »ich auch.«

Nun denn! Er hatte dieses einzigartige Anerbieten ausgeschlagen. Er hatte meine helfende Hand von sich gewiesen; er war im Begriff zu gehen, und jenseits der Brüstung schien die Nacht schon auf ihn zu warten, als hätte sie sich ihn zur Beute ausersehen. Ich hörte ihn sagen: »Ah, hier ist er.« Er hatte seinen Hut gefunden. Wir zögerten ein paar Sekunden lang. »Was wollen Sie tun, wenn – wenn...« fragte ich sehr leise. – »Vor die Hunde gehen, höchstwahrscheinlich«, brummte er in abweisendem Ton. Ich hatte meine fünf Sinne wieder einigermaßen beisammen und hielt es für richtig, es leicht zu nehmen. »Denken Sie daran, bitte, daß ich Sie sehr gern noch einmal sehen möchte, bevor Sie von hier weggehen.« – »Ich wüßte nicht, was Sie daran hindern könnte, da mich das Teufelsding da nicht unsichtbar machen wird«, sagte er mit tiefer Bitterkeit. »Nichts zu hoffen.« – Und als wir uns dann schließlich verabschieden wollten, fuhr er mir ein schauderhaftes Gewirr von unschlüssigen Bewegungen und gestammelten Worten auf. Gott verzeih es ihm: – mir! Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß es mir wahrscheinlich widerstreben würde, ihm die Hand zu geben. Es war zu gräßlich. Ich glaube, ich schrie ihn plötzlich an, wie man einem Menschen zubrüllt, den man im Begriff sieht, in einen Abgrund zu stürzen. Ich erinnere mich dann noch eines jammervoll verzerrten Lächelns, eines Händedrucks, der mir die Finger zerquetschte, eines nervösen Lachens. Die Kerze erlosch knisternd, und es war endlich vorüber; ein Stöhnen drang durch die Dunkelheit zu mir. Er war gegangen. Die Nacht hatte ihn verschlungen. Er war schrecklich unfertig. Schrecklich. Ich hörte, wie der Kies unter seinen Tritten knirschte. Er rannte. Rannte und wußte nicht, wohin. Und er war noch nicht Vierundzwanzig.


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